Pandemie-Ethik


Mehr als zehntausend Tote. Noch vor kurzem wurde diese Ziffer mit den Kampfhandlungen im Donbass assoziiert, damit die Brutalität und verbrecherische Art und Weise des Krieges unterstreichend, der vom Kreml entfacht wurde.

Doch jetzt geht die Rede von der Covid-19-Pandemie in der Ukraine. Und in der nächsten Zeit wird die düstere Statistik neue Rekorde brechen. Immer wieder vom Land eine Antwort fordernd: Was können und sind wir bereit zu tun, in der Hoffnung, die Zahl der Opfer zu verringern?

Die aktuelle Pandemie ist bei weitem nicht die erste in der Geschichte der Menschheit. Doch die Bedingungen, unter denen die Menschheit auf sie trifft, unterscheiden sich zu sehr von den vorherigen. Die neue Informationsrealität. Die nie dagewesene soziale Mobilität. Der beispiellose wissenschaftlich-technische Fortschritt.

Und dazu der nie gesehene Wohlstand, die Sicherheit und die Wertschätzung menschlichen Lebens.

Der Kontrast zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit ist überaus riesig. Sogar wenn man unsere Welt nicht mit dem finsteren Mittelalter, sondern mit der aufgeklärten Epoche des XIX. bis zum Beginn des XX. Jahrhunderts vergleicht.

Das war die Zeit, als jeder vierte Neugeborene im ersten Lebensjahr starb und fast der Hälfte der Kinder gelang es nicht die Volljährigkeit zu erleben.

Armut der Eltern verringerte die Überlebenschancen rapide. Doch die ausufernde Kindersterblichkeit erschien nicht als irgendetwas Alptraumhaftes: Ein Kind wurde nach dem anderen geboren, und den unvermeidlichen Verlusten verhielt man sich gegenüber mit Fatalismus und praktischer Denkweise.

Ja, in den bedürftigen Familien versuchte man die heranwachsenden Jungen besser zu ernähren, als die Mädchen, dabei letztere als weniger wertvoll ansehend.

Das war die Zeit, in der jeder Krieg Soldaten hauptsächlich durch unhygienische Umstände umbrachte und erst danach durch feindliche Kugeln.

Von allen Armeeangehörigen des Sardinischen Königreiches, die am Krimkrieg teilnahmen, fielen nur 28 im Kampf oder starben durch Verwundungen.

Dafür starben mehr als 2.100 Sardinier – jeder Zehnte – an Cholera, Bauchtyphus und anderen Krankheiten.

Doch die ungeheuerliche Prozentzahl an sekundären und absolut sinnlosen Verlusten irritierte niemanden: Das kämpfende Europa nahm sie als etwas Natürliches hin.

Das war die Zeit, als an Tuberkulose jeder siebente Europäer starb.

Ein derartiges Schicksal konnte jedem drohen: vom spanischen König Alfonso XII. und der russischen Zarin Marija Alexandrowna bis zu Chopin, Tschechow und Franz Kafka, ganz zu schweigen von den unbekannten armen Schluckern, die zu ganzen Familien starben.

Doch das ständige Risiko wurde als etwas Selbstverständliches angesehen und die Schwindsucht hielt man sogar für etwas Erhabenes: den Kampf zwischen Geist und Körper, in dem das Geistige begann allmählich zu siegen und sich von der körperlichen Hülle befreite …

Der vorzeitige Tod, der dem Menschen überall auflauerte, senkte den Wert seines Lebens in den Augen anderer. Und der reduzierte Wert des menschlichen Lebens half, sich mit der Perspektive des vorzeitigen Todes abzufinden.

Fatalismus und Hartherzigkeit nährten einander. Und wenn die modernen Skeptiker Covid-19 mit der Spanischen Grippe vergleichen – die bedeutend größere Sterblichkeit der „Spanischen“ dagegenhaltend – muss dem psychologischen Hintergrund Aufmerksamkeit gewidmet werden, der die damalige Pandemie begleitete.

„Welche Verluste werden erwartet? – Nun sagen wir, fünf Prozent an unseren Linien. Ungefähr. Noch zehn im Gebiet dazwischen und zwanzig am Stacheldraht. Die übrigen 65 machen das Schwierigste. Weitere 25 sterben beim Sturm des Hügels. Die Übrigen reichen, um ihn zu halten.“

Ungefähr so sah die typische Arithmetik des Ersten Weltkriegs aus, zutage gebracht im berühmten Film „Wegen zum Ruhm“ von Stanley Kubrick.

Unmittelbar vor der Ankunft der Spanischen Grippe wurden die Menschen ohne Zögern vor Maschinengewehre geworfen, dabei hoffend um einige Hundert Meter voranzukommen. Und die Pandemie, die ihre Opfer in Betten tötete, und nicht im Grabendreck, wurde um einiges anders aufgenommen, als in unseren Tagen.

Wahrscheinlich ist, dass das Auftauchen von Sars-CoV-2 in früheren Zeiten keine derartige allumfassende Krise mit sich gebracht hätte.

Der Tod von Schwerkranken, die ohne ärztliche Hilfe ersticken, wäre als etwas Natürliches und Unvermeidliches angesehen worden.

Der Begriff einer Überlastung des medizinischen Systems, der das heutige Europa zu äußersten Maßnahmen treibt, hätte überhaupt nicht aufkommen können. Und das wäre keine Abweichung von den ethischen Normen des XIX. bis in die erste Hälfte des XX. Jahrhunderts gewesen.

Jedoch griff Sars-CoV-2 die Welt im XXI. Jahrhundert an – mit seinen neuen Vorstellungen vom Wert des menschlichen Lebens. Und es stellte sich heraus, dass die Wahrung der modernen Ethik erfordert den gewohnten Alltag zu opfern. Und die Wahrung des gewohnten Alltags erfordert eine Rückkehr zur Ethik der vorherigen Jahrhunderte.

Es schien so, dass nichts den Gegner der Antiepidemiemaßnahmen hindert, ein entsprechendes ethisches Credo zu formulieren: „Ja, die Menschen müssen wie gewohnt leben, arbeiten und sich erholen. Ja, die Krankenhäuser werden mit dem Strom an schweren Patienten nicht fertig, doch damit muss man sich abfinden. Ja, ein Teil der Kranken stirbt aufgrund fehlender medizinischer Hilfe, doch das ist zulässig. Ihr Leben ist die soziale Distanz, Selbstisolation und mehr noch der ruinöse Lockdown nicht wert. Der Versuch ihrer Rettung rechtfertigt nicht Bruch mit der gesamten Lebensweise.“

Eine derartige Position wäre zumindest ehrlich, doch der unzufriedene Teil der Gesellschaft beeilt sich nicht diese zu verkünden.

In der Hochzeit der Pandemie will unser Zeitgenosse nicht nur wie immer leben, sondern sich auch wie immer sehen. Gutherzig, human, wohlwollend. Jedem menschlichen Leben Bedeutung beimessend. Bei jedem Anlass mitfühlende Smileys versendend.

Und, versteht sich, die finstere Vergangenheit verurteilend, als man die Menschen nicht schätzte, nicht zählte und nicht schonte. Den ethischen Sockel des XXI. Jahrhunderts will man nicht verlassen. Das sich im XXI. Jahrhundert eingestellte Alltagsleben ebenfalls.

Und hier kommt die Corona-Skepsis zur Hilfe, die eine Vielzahl komfortabler ethischer Schlupflöcher anbietet. Die Ignoranz der Pandemie schadet niemandem, denn es gibt keine Pandemie.

Man braucht sich nicht einschränken, denn Covid-19 ist nicht gefährlicher als eine gewöhnliche Grippe. Covid-19 ist gefährlicher als eine Grippe, doch braucht man sich dennoch nicht einschränken, denn das hat eh keinen Einfluss.

Die Krankenhausbetten reichen für alle, denn den medizinischen Kollaps haben sich panikmachende Journalisten ausgedacht. Die Krankenhausbetten reichen so oder so nicht, denn sogar der härteste Lockdown hilft nicht dabei, die Verbreitung der Infektion zu verlangsamen …

Die vorgebrachten Thesen können einander widersprechen, doch erfüllen sie ein und dieselbe Funktion. Jede der aufgezählten Thesen erlaubt es für die moderne Alltagsnorm zu kämpfen, ohne dabei die moderne ethische Norm aufzugeben.

Und wenn die Haltlosigkeit einer Behauptung zu offensichtlich wird, dann kann man gleich auf etwas anderes umschalten. Damit sind nicht nur bornierte Durchschnittsbürger beschäftigt, sondern auch ein Teil der die sozialen Netzwerken bevölkernden Intellektuellen.

Zwischen dem gewohnten Lebensstil und der gewohnten Ethik zu wählen, ist tatsächlich schwer. Und daher ist der Mensch des XXI. Jahrhunderts, der sich der unbequemen Wahl verweigert, gezwungen zu lügen.

Sich selbst und seine Umgebung zu belügen. Unnachgiebig und hartnäckig zu lügen, den Kopf in den Sand der Covid-Dissidenz zu stecken.

21. November 2020 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1119

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