Patriarch Kyrill: Der Schatten Putins?


Wir beobachten seit Langem überaus mehrdeutige Vorgänge um die orthodoxe Kirche und ihre obere Führung. Ihr Vorsteher Patriarch Kyrill wurde einer der wichtigsten Newsmaker nicht nur in Russland, sondern im gesamten russischsprachigen Informationsraum – unwichtig, ob aus eigenem Wunsch oder dank des Zusammentreffens der Umstände.

Die Initiative zur Gründung der “Russischen Welt”, prunkvolle Gottesdienste, eine schlecht versteckte Vorliebe für Luxus, Nachsicht gegenüber ausgesprochen autoritären Ideen (zum Beispiel der “orthodoxe Dress-Code”), die betont halbamtliche harte Reaktion der orthodoxen Kirche und des politischen Regimes Russlands (unter anderem auf das Punk-Gebet Pussy Riots) insgesamt auf Kritik – Wozu braucht das Kyrill? Politische Ambitionen? Oder die Wiedergewinnung einer bestimmten Rolle im politischen System Russland?

Teil 1: “Der orthodoxe Ajatollah”

Für den Anfang ein historischer Ausflug, der uns erklärt, warum eine solche Version, obwohl sie nicht sehr typisch ist für die orthodoxe Kirche, ihre Daseinsberechtigung hat.

In der orthodoxen Tradition besaß die obere kirchliche Führung niemals einen solchen weltweiten Einfluss wie die katholische. Der Patriarch, sogar der ökumenische, war im Unterschied zum römischen Papst nicht der “Stellvertreter Gottes”. Das Prinzip des Cäsaropapismus, aufgestellt noch zu Zeiten des Byzantinischen Reichs, wurde in der Kiewer Rus aufgenommen und wirkte von dort aus weiter in der Moskauer Monarchie und dem Russischen Reich. Der mehr oder weniger deutliche Versuch, dieses Prinzip in den Wechselbeziehungen zwischen weltlichen und geistlichen Mächten abzulösen, wurde unter dem Patriarchat Nikons zu Zeiten seiner Kirchenreformen unternommen. Aber weder Zar Aleksej Michailowitsch, der früher die Reformen unterstützte, noch der Adel oder der Klerus nahmen die Idee eines “orthodoxen Papsttums” an, was einer der Gründe für das Schisma und die spätere Absetzung Nikons war.

Aber Aleksejs Sohn Peter ergriff und veränderte nach dem Tod des Patriarchen Adrian das Patriarchat im Russischen Reich, damit die Kirche keinerlei Gelegenheit hatte, Anspruch auf die Oberhoheit über die weltlichen Mächte zu erheben, und bestimmte das Geistliche Kollegium (später das Heilige Kollegium) dazu, die Kirche zu führen. An dessen Spitze wiederum stellte er eine weltliche Person – den Oberstaatsanwalt.

Natürlich verstärkte dies die Abhängigkeit der Kirche von den weltlichen Mächten und machte sie im Grunde genommen zu einem weiteren Instrument der Kontrolle über das gesellschaftliche Leben. Nicht zu reden davon, wie die Sowjetmacht mit der orthodoxen Kirche verfuhr, sie völlig abhängig und gehorsam machte (besonders wenn man sich an eine so mehrdeutige Angelegenheit wie die “Sergianstwo”1 erinnert und die erneute Auferstehung des Patriarchats unter Stalin, als von der Kirche nicht nur Loyalität, sondern auch faktische Agitation für den sowjetischen Staat gefordert war – wie auch zu Zeiten des Großen Vaterländischen Kriegs und danach).

Eigentlich konnte die heutige Russische Orthodoxe Kirche (ROK) mit dieser Tradition nicht brechen – die Mehrheit ihrer Führung erhielt ihre Positionen noch zu Zeiten der UdSSR, als man von den Geistlichen nicht nur Kenntnisse der Theologie und die Reinheit der moralischen Qualitäten einforderte, sondern auch die Bereitschaft, jeden beliebigen Wunsch der Behörden zu erfüllen.

Ist denn der Patriarch jetzt bereit, mit dieser Tradition zu brechen und ein “orthodoxer Papst” zu werden? Die Idee einer “Russischen Welt”, die von ihm sofort nach seiner Einsetzung vorgebracht wurde, ist, wenn man überlegt, ambitiöser als die Pläne Wladimir Putins zur Zollunion, zum militärpolitischen Zusammenschluss des postsowjetischen Raums usw. Und wenn man in Betracht zieht, dass vom gleichen Standpunkt aus die Konkurrenz zwischen Patriarch und Präsident ausgeschlossen ist, dann könnte die Konzentration auf eine “Russische Welt” vielversprechend sein.

Aber hier machte Kyrill einen offensichtlichen Fehlgriff – ein frommer Gläubiger zu sein bedeutet in der orthodoxen Tradition schon nicht mehr, Russe zu sein, sondern sich vielmehr zur slawischen Ethnie zu zählen. Dort wird eine andere Formulierung gefordert – “die orthodoxe Welt”. Daher wird sein Versuch, sich an die Spitze des Erneuerungsprozesses des Panslawismus und der Reintegration des “orthodoxen” Auslands zu stellen, nicht als Absicht der Vereinigung aller Gläubigen wahrgenommen, sondern als Maßnahme zur Bereitung des Bodens für die Mobilisierung der Menschen zur Zustimmung zu für Russland günstigen Entscheidungen. So gibt es in unverkennbarer Verbindung mit der von Putin errichteten Ordnung einen rein politischen und nicht kulturell-religiösen Hintergrund. Und nicht nur das, der Patriarch erklärte irgendwie auch, dass er den Zerfall der Sowjetunion bedauert. Dann stellt sich eine logische Frage: Gehören die früheren zentralasiatischen Republiken, wo die dominierende Religion der Islam war und ist, ebenfalls zur “Russischen Welt”? Heißt das dann, dass für die ROK die Verbreitung ihrer Religion kein dominantes Ziel mehr ist? Darum kann Kyrill wohl kaum Anspruch erheben auf die Rolle des “orthodoxen Papstes”, zu deutlich ist der politische, prorussische Kontext, der die Möglichkeiten zur Vereinigung aller Orthodoxen im Kreise der ROK einschränkt.

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) begann sich von der Idee einer allumfassenden “Russischen Welt” zu distanzieren, in kirchlichen Kreisen laufen sogar Gespräche über eine mögliche Autokephalie der UOK, die Gründung einer gemeinsamen Kirche mit dem Kiewer Patriarchat der UOK sowie die Gefahren einer Aufhebung der Autonomie der UOK und ihrer direkten Unterordnung unter die ROK.

Aber das alles trotz oftmaliger Besuche des Patriarchen in der Ukraine (die öfters stattfinden als Besuche Dimitrij Medwedjews und Wladimir Putins in der gleichen Periode), die bezeugen, dass abgesehen von einer “Russischen Welt” die ROK noch eigene Ziele in der Ukraine hat: Hier befinden sich die reichsten Eparchien.

Und die ständige ideologische Bearbeitung der ukrainischen Behörden durch Patriarch Kyrill persönlich ist wie eine zweite Front in den russisch-ukrainischen Beziehungen, ebenso wie die Lobbyarbeit der ROK für ihre eigenen Interessen, die dabei die sinkende Popularität der Staatsmacht in der Ukraine ausnutzt. Wenn Wiktor Janukowitsch den Boden unter seinen Füßen im eigenen Land verliert, warum sollte man ihm nicht einen anderen geben (zumal dieser der orthodoxen Kirche sehr vertraut, wir erinnern an die wiederholten Besuche auf dem Athos und im Heiligen Himmelfahrtskloster von Swjatogorsk bei ihren Geistlichen) und den “guten Bullen” spielen (für die Rolle des “schlechten” kommt selbstverständlich jemand anderes in Frage, Sie verstehen selbst…)?

Aber es gibt noch eine Rolle, die der Patriarch Kyrill einigermaßen erfolgreich versucht, im System der politischen Beziehungen mit Russland zu spielen. Und sie gefällt und passt ihm anscheinend. Es ist die Rolle des “orthodoxen Rahbare”2, des “orthodoxen Ajatollah” im System der “doppelten Präsidentschaft” ähnlich dem Iran, mit der Verbesserung, dass im Unterschied zum Iran in Russland sowohl formell als auch informell der weltliche Präsident die leitende Funktion hat, aber nicht die steuernde. (Und hier erweist sich Premierminister Dimitrij Medwedjew als “überflüssiges drittes Rad” im Tandem Putin-Kyrill) Warum ist es möglich, über die Bildung ausgerechnet solcher Beziehungen zwischen der ROK und der Staatsmacht zu sprechen?

Erstens verwendet die Kirche aktiv ihre Einflusshebel in den Sicherheitsorganen und im Justizsystem bei Entscheidungen bezüglich eigener ökonomischen Fragen wie auch zur Stärkung der eigenen Position in den “leitenden und verwaltenden” Behörden. Zum Beispiel interessieren sich für die Kritiker der Tätigkeiten der ROK bereits Strafbehörden entsprechend dem traurigerweise allzu bekannten § 282 SGB der Russischen Föderation. Ein weiteres Beispiel ist die große Resonanz hervorrufende “Sache Jefimow”, in der der karelische Journalist und Bürgerrechtler die örtliche Eparchie der ROK der Korruption und räuberischen Aneignung von Immobilien beschuldigte, aber die Sicherheitsorgane, statt die dargelegten Fakten zu überprüfen, eine Strafermittlung wegen “Aufhetzung” einleiteten und den Verdächtigen einer psychiatrischen Zwangsuntersuchung unterzogen. Noch einige Fälle sind verbunden mit Gegnern der ROK aus protestantischen Gemeinden vor Ort, wobei die Initiatorin der Untersuchungen praktisch immer die ROK war. Dies ist natürlich noch nicht der Iran mit seinem “Korps der Beschützer des Glaubens” und der Moralpolizei, aber die Tendenz einer verstärkten Arbeit der Kirche im Bereich der Klerikalisierung der russischen Sicherheitsorgane ist vorhanden.

Zweitens geht die ROK vom ideologischen Standpunkt aus seit Langem und beständig in eine konservative Richtung, die in Russland akzeptiert ist.

Liberale Werte werden abfällig als atheistische gewertet, wenn auch die Mehrheit der Politiker liberaler Richtung weder gegen das Christentum noch gegen die ROK aufgetreten sind. Nicht genug, dass, wenn man nur oberflächlich die Reden des Pariarchen Kyrills überfliegt, man bemerkt, dass das Wort “Russland” in ihnen kaum öfter erklingt als “Gott”. Übertrieben ausgedrückt bedeutet dies, dass in der Auslegung der ROK ein Mensch, der eine politische Position ausdrückt, die sich von der der Staatsmacht unterscheidet, ein Sünder und Gottloser ist. Kyrill selbst rief mehrmals die Herde dazu auf, nicht an Protestdemonstrationen teilzunehmen und die eigene Wahlentscheidung zu schützen, sondern zu beten. Nicht zu reden von der ständigen Brandmarkung des “sündigen” Westens (man erinnert sich sofort an die in der Sowjetunion übliche Formulierung vom “verfaulenden Westen”). Nach Meinung des russischen Religionswissenschaftlers und Soziologen Sergej Filatow “sind viele Menschen aus der Mannschaft Kyrills völlig einverstanden damit, dass, wäre in der Sowjetunion die offizielle Ideologie nicht der Kommunismus, sondern die Orthodoxie gewesen, eine perfekte Ordnung entstanden wäre.”

Heraus kommt im Grunde ein gewisser Gegensatz zur “Theologie der Befreiung”, auch wenn die soziale Situation in Russland in vielem an die der lateinamerikanischen Länder erinnert, es gibt praktisch das gleiche Bild der Spaltung in einen verschwindend geringen Teil sehr reicher und eine sehr große Masse an der Armutsgrenze lebender Menschen, ein hohes Korruptionsniveau, eine Missachtung elementarer Rechte und der Rechtsordnung. Es scheint so, dass, bei dem großen Misstrauen in die Staatsmacht als Ganzes die Kirche ein echter Initiator des Kampfes mit der Armut und ihren Ursachen werden muss, dabei einige “linke” Ideen in ihre Doktrin aufnehmend. Aber hier beobachten wir einen direkten Gegensatz – die ROK schützt die konservative Ausrichtung der Ordnung und damit ihre sozialen Mängel.

Stattdessen wird “Alle Macht durch Gott” zum Hauptmotiv, eine Bestätigung, dass die Menschenrechte eine zweitrangige Kategorie gegenüber Fragen des Glaubens ist, dass jeder Mensch, der gegen die Ordnung auftritt, unmoralisch ist (Übrigens, warum werden die Vertreter der russischen staatlichen Elite, die ihre Vermögen auf unmoralische Weise erarbeitet haben, von der ROK nicht verurteilt?). Eine solche Doktrin kann man wohl eher als “Theologie der Unterdrückung” bezeichnen. In jedem Fall droht Kyrill nicht das Schicksal des Erzbischofs von San-Salvador Oskar Romero, der von “Todesschwadronen” für seine Verbreitung der “Befreiungstheologie” ermordet wurde, und der anderen Kritiker des oligarchisch-militärischen Regimes in Salvador.

Drittens fehlt in der Kirche praktisch eine “innere Zensur”, die extreme und sozial unannehmbare Erscheinungen der Religiosität ausgleicht und ebnet. Verschleiert mit dem Namen der ROK und dem “Schutz der Orthodoxie”, aber auch, was nicht auszuschließen ist, mit ihrer direkten Unterstützung, arbeitet in Russland und dem nahen Ausland eine ganze Reihe halbmilitärischer Organisationen, welche man auf Wunsch als Extremisten erklären und in einigen Erscheinungsformen ihrer Handlungen begrenzen kann. Zum Beispiel nahm die “Union orthodoxer Chorugwträger”3 mehrmals auf Seiten der Staatsmacht an Massenunruhen teil, zusammen mit “Naschi”. Oder die vielzähligen “orthodoxen Kosakenlager” (welche übrigens mittlerweile auch auf der Krim zu finden sind), wo Kinder im Geiste des “orthodoxen Taliban” erzogen werden und ihnen dabei eine feindliche Gesinnung zu allen Nationen und Konfessionen außer den orthodoxen Russen eingeflößt wird. Viele Experten und Journalisten befürchten, dass solche Kinder die zukünftigen Soldaten in ethnoreligiösen Konflikten sein werden. Und dabei ist noch nicht die Rede von Initiativen offizieller Persönlichkeiten der ROK zur Lehre orthodoxer Ethik in allgemeinbildenden Schulen und von der Kleidungsvorschrift für orthodoxe Kirchgänger, welche diese nicht nur in der Kirche einhalten müssen, sondern auch bei der Arbeit, zu Hause usw. Natürlich ist Kyrill als Kirchenoberhaupt verantwortlich für ähnliche Entwicklungen, aber der Mehrheit davon widerspricht er nicht, wobei der die extremsten Auswüchse verurteilt (so z.B. die Losung der Union orthodoxer Chorugwträger “Orthodoxie oder Tod”).

Auf der anderen Seite fehlt Kyrill für eine erfolgreiche Selbstverwirklichung in der Rolle eines geistigen Führers der Russen die gesellschaftliche Unterstützung. Denn im Iran konnte sich Ruhollah Chomeini auf einen breiten Rückhalt in den konservativen Schichten der Bevölkerung verlassen, und dort waren die religiösen Strukturen homogener, es gab nicht so eine große Gruppe Christen wie die der Muslime in Russland, der Iran war zum größten Teil schiitisch, in Russland gibt es genügend viele Protestanten. Letztendlich erhielt Chomeini die geistige Führung und Macht auf der Woge der Unzufriedenheit der Massen mit den Reformen des Schahs Reza Pahlavi und führte die Islamische Revolution an, Kyrill versucht dies nachzuholen mithilfe der Nähe zur weltlichen Macht. Nun, bislang bleibt das Vertrauen der Bürger Russlands in die Kirche groß, aber Umfragen lassen erstens nicht vermuten, dass Kirche automatisch mit der ROK assoziiert wird, zweitens zeigen sie, dass dies verursacht wird von einem eher niedrigen Vertrauen der Bürger zu Organen der Staatsmacht. (Im Übrigen ausgerechnet die ROK und Patriarch Kirill betreffenden neuesten Daten zufolge ist das Vertrauen in ihn genügend hoch und zeigt sogar Wachstumstendenzen)

1 Sergianstwo – Begriff für die Kirchenpolitik der unbedingten Unterordnung unter das kommunistische Regime

2 Rahbare – Oberster Rechtsgelehrter, im Iran der höchste Repräsentant des Staates

3 Union orthodoxer Chorugwträger – religiös-politische Organisation, die die Förderung und Verbreitung des orthodoxen Glaubens fördert und ein monarchistisch-nationalistisches politisches System für Russland verfolgt;
Chorugw – Bezeichnung für Flaggen und Banner religiöser Bedeutung in den orthodoxen und ostkatholischen Kirchen

16. Juli 2012, Maxim Pobokin

Quelle: LB.ua

Übersetzer:   Andre Müller  — Wörter: 2202

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