Pokerspiel am Dnipro 3: Ist alles verloren oder läuft gerade die Endphase von Janukowytschs «großer Kombination»?
Knapp eine Woche vor dem Gipfel in Vilnius erscheint die EU-Assoziierung der Ukraine als gescheitert. Ministerpräsident Asarow verkündete am Donnerstag die Unterbrechung der Vorbereitungen auf den Abschluss des Assoziierungsvertrages mit der Europäischen Union. Nach der Regierungsverordnung sind die EU-Anhänger in der Ukraine am Boden zerstört, alle Träume scheinen geplatzt und der Kurs des Landes unausweichlich Russland zugewendet. Eine nähere Betrachtung der Umstände lässt aber einen ganz anderen Schluss zu. Demnach hätte Janukowytsch mit seinem Team jetzt das Endspiel eröffnet und sie zielen darauf ab alles zu bekommen, was sie wollen: EU-Vertrag, Geld, Garantien gegenüber Russland und den Verbleib Tymoschenkos im Gefängnis. Das Spiel wird erst am 29. abgepfiffen.
Keine Lösung im Parlament
Die Plenarwoche lief für die Opposition erwartet schlecht. Am Montag gab es in der Sonderkommission keine Einigung zum Timoschenko-Sondergesetz und diese blieb auch bis zum heutigen Tag aus. Besuche der Vermittler Cox und Kwasniewski, sowie von EU-Erweiterungskommissar Štefan Füle endeten ergebnislos. Die Ankündigung von EU-Energiekommissar Günther Oettinger von der bald bevorstehenden Vertragsunterzeichnung zum Reversbetrieb der slowakischen Erdgaspipelines brachte ebenfalls keine Wendung. Zusammen mit dem über Ungarn und Polen erhaltenen Gas könnte die Ukraine bis zu zehn Milliarden Kubikmeter im Jahr importieren und das für aktuell etwa 30 Dollar unter dem Preis der russischen Importe.
Donnerstag sollte dann der entscheidende Tag für die EU-Integration werden. Die Opposition kündigte groß den Tag der Offenbarung an. Alle die EU-Assoziierung betreffenden Gesetze standen als Erstes auf der Tagesordnung. Julia Tymoschenko rief in einem Schreiben zur Annahme aller EU-Gesetze auf und erklärte sich mit jeder Variante der ihren Fall betreffenden Gesetze einverstanden. Die hohe Zahl an anwesenden Abgeordneten (415) zeugte auch davon, dass man heute etwas Großes plante. Cox und Kwasniewski waren ebenfalls zum wiederholten Male in der Ukraine, um auf eine Verabschiedung der Gesetze hinzuwirken. Doch es kam wieder anders.
Anfänglich lief es wie gewünscht. Die Änderungen zum Wahlgesetz wurden mit großer Mehrheit verabschiedet (365 Stimmen). Danach einigte man sich darauf, dass neben den vier vorhandenen Entwürfen zwei weitere Vorlagen Julia Tymoschenko betreffend, darunter der von den Oppositionsmitgliedern der Sonderkommission ausgearbeitete Entwurf, auf die Tagesordnung kommen. Nicht alle hatten eine Heilbehandlung von Strafgefangenen im Ausland zum Thema. Beispielsweise sah das Papier der drei oppositionellen Fraktionsvorsitzenden Arseni Jazenjuk, Witali Klytschko und Oleh Tjahnybok eine sofortige Freilassung der Ex-Regierungschefin vor. In der schnellen Abstimmung scheiterten am Ende alle sechs Gesetze, was sofort mit Protesten der Oppositionsabgeordneten quittiert wurde. Man sprach von Sabotage und dem Scheitern der EU-Integration. Janukowytsch sollte gar zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Eine von der Opposition geforderte Abstimmung zum Staatsanwaltschaftsgesetz wurde auch nach der Rücknahme der Änderungsanträge der Opposition (!) nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Die Partei der Regionen lehnte es ab, das Gesetz in der vom Präsidenten eingereichten Version (!) zu verabschieden. Die Vormittagssitzung war damit so gut wie beendet.
Dabei hätte es auch anders kommen können. Der Fotograf des Kommersant Wladislaw Sodel veröffentlichte ein Bild, auf dem Parlamentspräsident Wolodymyr Rybak dem Fraktionsvorsitzenden der Regionalen Olexander Jefremow einen Zettel mit einer Notiz zeigt. Der Inhalt besagt, dass jemand Rybak darum bat, das Gesetz 3599 in erster Lesung zu verabschieden. Es ist der Entwurf der oppositionellen Abgeordneten in der Timoschenko-Sonderkommission. Jefremow entschied offensichtlich anders.
Paukenschlag in Kiew
Gegen 14 Uhr ukrainischer Zeit meldete Interfax, dass der russische Präsident Wladimir Putin nichts gegen eine Assoziierung der Ukraine und der EU hätte, alle drei Seiten sollten sich jedoch an den Verhandlungstisch setzen und das vor Abschluss des Abkommens. Dies würde auf einen Vorschlag Wiktor Janukowytschs zurückgehen. Knapp eine Stunde später platzte dann die Bombe. Der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow ließ auf der Regierungssitzung über eine Verordnung abstimmen, die im «Interesse der nationalen Sicherheit» eine «Unterbrechung» der Vorbereitungen auf die EU-Assoziierung und fast wortgleich zu Putin trilaterale Konsultationen über die wirtschaftlichen Folgen der Assoziierung vorsieht. Zeitgleich widmete sich der größte Teil des Dokuments der Wiederbelebung der Beziehungen mit den Staaten der GUS und vor allem der Wiederherstellung der Handelsvolumina.
Die Entrüstung auf der Nachmittagssitzung des Parlaments war groß. Jazenjuk sprach von «Landesverrat und der Grundlage für eine Amtsenthebung», die ukrainische Regierung handelt mit Russland «Geld für die Nichtunterzeichnung des Vertrages mit der EU aus», die Vorbereitungen auf die EU-Assoziierung waren nur ein «billiges Spiel, in dem Wiktor Janukowytsch die Ukraine dafür verkauft, um sich einen Platz als Gouverneur von Kleinrussland zu sichern». Klytschko sagte: «Von diesem Tage an, beginnt die Zeit Janukowytschs und seiner Mitstreiter an der Regierung abzulaufen». Geschlossen forderte die Opposition Asarow und Janukowytsch dazu auf, die Absage an die EU-Integration am Freitag vor dem Parlament zu rechtfertigen. Eurokommissar Štefan Füle sagte einen kurzfristig anberaumten Besuch in Kiew ab.
Parallel dazu verkündete Wiktor Janukowytsch in Wien: «Die Ukraine wird auch weiter den Weg der Eurointegration beschreiten. Uns ist dafür vieles in den letzten Jahren gelungen». Für viele mag das wie der blanke Hohn erschienen haben. Von Regierungsseite meldete sich zudem Vizepremier Juri Boiko zu Wort: «Die Regierung unterbricht den Verhandlungsprozess zur Unterzeichnung des Assoziierungsvertrages mit der EU bis zu dem Moment, an dem ein Ausweg aus der Situation gefunden wird, wenn der Rückgang der Industrieproduktion und unserer Beziehungen mit den GUS-Staaten auf Rechnung des europäischen Marktes kompensiert wird». Gleichzeitig verlautbarte er, dass die Regierungsverordnung in keiner Weise mit dem Besuch Mykola Asarows auf dem GUS-Treffen in St. Petersburg am Vortag in Verbindung steht.
Dass das plötzliche Umschwung auch für Vertreter der Partei der Regionen überraschend kam und sie vielleicht wie Witali Portnikow sagt «die Schallplatte nicht schnell genug wechseln konnten», lässt sich beispielsweise an einem Blogeintrag der aus Charkiw stammenden Tymoschenko-Feindin Inna Bohoslowska ablesen. Diese schrieb am späten Nachmittag:
«[…] Ich glaube nicht, dass Präsident Janukowytsch, ein großer und starker Führer, es sich erlaubt, sich unter dem kleinen Absatz des benachbarten östlichen in Geburt befindlichen Imperators zu krümmen.
Ich glaube nicht, dass meine Kinder und Engel sich erneut als Kleinrussen fühlen sollen.
Ich glaube nicht, dass Janukowytsch nicht begreift, dass er kein Recht hat, die historische Chance zu verpassen Präsident der ganzen Ukraine zu werden.
Ich glaube nicht, dass das Team der Regierungspartei nicht rechnen kann und begreift, dass es unter diesen Bedingungen praktisch unmöglich ist, bei den Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.
Ich glaube nicht, dass Europa und die USA ihre Verantwortung vor der Welt nicht begreifen und Russland die Möglichkeit geben sein Imperium aus Schmutz, Armut und Trunkenheit wiederherzustellen.
Ich glaube nicht, dass die demokratischen Länder kein Geld und Kompensationsmaßnahmen finden, um der Ukraine zu helfen ihre Verluste aus den ungesetzlichen Maßnahmen Russlands zur Schließung der Märkte zu ersetzen. […]»
Über Twitter und andere soziale Netzwerke wurde dabei unter dem Hashtag #євромайдан bzw. #euromaidan spontan zu Protestaktionen für den Abend aufgerufen. Die Opposition warb verstärkt für ihre am 24. geplante Großdemonstration1 in Kiew. Auf dem Maidan versammelten sich in der Nacht etwa anderthalbtausend Menschen. Witali Klytschko kam mit seinem Bruder Wolodymyr, der ebenfalls eine kurze Ansprache hielt. Die Miliz verhielt sich zurückhaltend, einzig bei der Ankunft eines Lautsprecherwagens von UDAR kam es zu kleineren Rangeleien.
Asarow muss sich rechtfertigen
Am Freitag erschien die Regierung unter Führung von Ministerpräsident Asarow in der Rada. Einzig Außenminister Leonid Koshara fehlte. Eine Kette von Abgeordneten der Partei der Regionen schützte die Regierungsloge vor aufgebrachten Oppositionsabgeordneten. Asarow verteidigte seine Maßnahme und berief sich dabei erneut auf einen Brief vom Internationalen Währungsfonds, der am 20. bei ihm eingetroffen sein sollte. Gemäß diesem würde der Währungsfonds für den Ausgleich des Staatshaushaltes eine 40-prozentige Anhebung der Gastarife für die Bevölkerung fordern. Weiter sollen (staatliche) Löhne und Gehälter eingefroren, Ausgaben gekürzt und Subventionen gestrichen werden. «Ich möchte unsere Kritiker aus den Fraktionen UDAR, Batkiwschtschyna und Swoboda fragen, ob sie diese Bedingungen unterstützen?», rief er in den Saal. Er wiederholte ebenfalls seine Argumentation aus der Regierungssitzung, dass die Ukraine in diesem Jahr massive Exporteinbrüche zu verzeichnen hat. «Leider verzeichnen wir einen fortgesetzten Rückgang der Nachfrage nach unserer Produktion auf den Weltmärkten und seit Anfang des Jahres in Russland und Asien. So verringerte sich im laufenden Jahr der Warenexport aus der Ukraine nach Russland um beinahe zwei Milliarden Dollar, der Warenexport in die Länder Asiens ging um 10 Prozent zurück. Spürbare Rückgänge wurden bei Exportlieferungen in solche Länder wie Israel (12,8 Prozent), Indien (um 15.6 Prozent), Indonesien (um 31,4 Prozent) und die Republik Korea (um 65 Prozent) verzeichnet.» Unter «Schande, Schande»-Rufen und Papierwürfen zog sich die Regierung nach der Rede fluchtartig zurück. Damit war die Freitagssitzung beendet.
Insgesamt schien damit alles in der Kalte-Kriegs-Matrix an seinen gewohnten Platz gerückt zu sein. Die Partei der Regionen und Janukowytsch haben sich wieder als prorussische Politiker, «kleine Gauner» (Werner Schulz), «Banditen» entpuppt, welche die Zukunft des Landes für ein paar Milliarden an Putin verhökern. Die Opposition wäre mit diesem Szenario zufrieden, da sie weiter ihre Politik auf «Freiheit für Julia» und «Wir sind Europa» aufbauen und ihr privilegiertes Leben genießen kann. Man mobilisiert halbherzig zu Demonstrationen und bedauert mit Krokodilstränen die vertane historische Chance in Vilnius. Wenn man dann 2015 das Ruder übernimmt, würde natürlich als Erstes dieser Vertrag unterzeichnet. Das Szenario würde stimmen, wenn Janukowytsch und sein Team wirklich nur aus gierigen, dummen auf den kurzfristigen Vorteil bedachten Halbkriminellen bestünde.
Verschiedene Umstände ließen bereits am Donnerstag an der sich aufdrängenden Version der Geschichte Zweifel aufkommen und der weitere Verlauf der Ereignisse bestätigt ihn bisher. Stutzig macht die Verwendung des Wortes «Unterbrechung». Was will man damit sagen? Dauert die Pause mehrere Tage oder Jahre? Das Wort lässt Raum für Interpretationen. Zudem ist der Verhandlungsstopp eine Woche vor der geplanten Unterzeichnung verdächtig. Wieso diese sieben Tage? Spielt der Jahrestag der Orangen Revolution eine Rolle? Am Abend des 21. November 2004 begannen die ersten Proteste gegen die Wahlfälschung zugunsten von Wiktor Janukowytsch im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Ist der Gedanke an historische Revanche ausschlaggebend gewesen, für diesen Zeitpunkt? Oder wurde nur Wladimir Putin damit geködert, der von zwei Traumata geplagt wird: dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Orangen Revolution? Und wenn es nur um den Haupthandelspartner Russland geht, wieso erzählt Asarow dann, dass die ukrainischen Exporte in andere Richtungen ebenfalls eingebrochen sind?
Worin besteht die Abmachung mit Russland?
Am Freitagmorgen erschien in der Internetzeitung Ukrajinska Prawda ein Artikel des wohl nicht ganz unabhängigen Journalisten Mustafa Najem unter dem Titel «Wiktor Janukowytsch: Die Ermordung eines Traumes». Neben detaillierten angeblichen Gesprächswiedergaben aus dem Umfeld der Regionalen und den Verhandlungen zwischen Štefan Füle und Wiktor Janukowytsch am Dienstag und der Grundthese, dass Janukowytsch & Co. die Zukunft des Landes billig verkauft haben, enthielt der Artikel Bemerkungen, die ebenfalls stutzig machen lassen. Demnach existiert kein Deal zwischen Putin und Janukowytsch, die Ukraine betreffend. «Den Worten von Informanten nach erwartet Wiktor Janukowitsch, gemäß den Ergebnissen der Verhandlungen mit Wladimir Putin, neben finanzieller Unterstützung die Unterzeichnung eines neuen Gasabkommens bereits am Anfang des nächsten Jahres». Kann Janukowytsch nach drei Jahren leerer Versprechungen zu einem neuen Gasvertrag erneut allein Putins Worten und seinem Augenaufschlag geglaubt haben? Bisher fehlt auch die öffentliche Präsentation eines überzeugenden Deals mit Putin. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Janukowytsch für ein paar Hundert Millionen auf seinem Konto in einer geheimen Abmachung riskiert, die Kontrolle über das Land zu verlieren und sich Putin auszuliefern. Dafür braucht es härtere Vereinbarungen, die ihm wohl vom Großteil der Ukrainer und allen Fans von Tymoschenko im Ausland zugetraut werden, allein fehlt es an einer Bestätigung, die allerdings durchaus erst nach einem gewissen Zeitraum kommen könnte.
Vizepremier Boiko bestätigte ebenfalls, dass es noch keinen Deal mit Russland gibt. Angeblich würden Experten mit der Ausarbeitung eines neuen Gasvertrages beschäftigt sein – demnächst, bald, bald gäbe es also eine Einigung. Doch warum nicht jetzt? Die Optionen der Ukraine verfallen am Gipfeltag. Eine spätere Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der EU nach den EU-Parlamentswahlen im Mai und die Unterzeichnung gemeinsam mit Moldau und Georgien auf dem nächsten Gipfel der Östlichen Partnerschaft oder einem gesonderten – noch ausstehenden (!) – EU-Ukraine-Gipfel 2014 wären mit weiteren Unwägbarkeiten behaftet. Die Konditionen der EU und des IWF würden sich mit den nahenden Präsidentschaftswahlen 2015 und der fortdauernden Wirtschaftskrise nur verschlechtern.
Bei Nichtunterzeichnung in Vilnius wären Janukowytsch und sein Team auf Gedeih und Verderb Putins Willkür ausgeliefert. Die Wahlen am 29. März 2015 sind ohne Geldgeschenke und Wohltaten ans Volks, nur durch massive Fälschungen und wahrscheinliche Gewaltanwendung zu gewinnen, was internationale Isolierung und die komplette Kapitulation gegenüber Moskau mit Beitritt zur Zollunion zur Folge hätte. Nur bei einer Erfüllung der kursierenden Stereotype würde die Regierung diesen Schritt wagen. Haben die Kritiker von Janukowytsch und Co. doch recht?
Tymoschenko spielt Märtyrerin oder Freibrief für Janukowytsch?
Am Freitagnachmittag wurde ein Brief von Julia Tymoschenko veröffentlicht, auf den man in der Präsidialadministration wohl sehnsüchtig gewartet hatte. Unter dem Titel «Wiktor Janukowytsch: Sie können den Assoziierungsvertrag mit der EU retten» wurde er auf der Seite von Batkiwschtschyna veröffentlicht. Neben den üblichen Ausfällen in Richtung Janukowytsch – «Ehrlich gesagt, wollte ich Sie gestern, nach der Regierungsentscheidung zur Absage den Vertrag mit der EU zu unterzeichnen, einfach nur töten.» – und den ihr eigenen arroganten Ausführungen enthielt er einen entscheidenden Satz: «Ich geben Ihnen mein Wort, dass falls Sie auf der Sitzung des Nationalen Rates für Sicherheit und Verteidigung die Entscheidung zur Unterzeichnung des Vertrages treffen, dann werde ich mich am gleichen Tag an die europäischen Führer mit der Bitte wenden, den Vertrag ohne Erfüllung eines Teils der Kriterien zu unterzeichnen, darunter denen die meine Freilassung betreffen». Damit hat Janukowytsch den Freibrief erhalten, den er sich wünschte. Eine Ausreise oder gar Freilassung Tymoschenko kann damit praktisch nicht mehr als Bedingung für die Unterzeichnung des Vertrages angesehen werden. Die EU-Staaten müssten jetzt diese Kröte schlucken, um den Vertrag zu retten.
Unklar ist, was Tymoschenko zu dem etwas voreiligen Schritt zu diesem frühen Zeitpunkt bewegte. Wurde sie absichtlich falsch über den tatsächlichen Stand der Entwicklung informiert und gibt dem Vertrag keine Chance mehr, wodurch sie mit diesem Schritt ihr Image als Märtyrerin, die sich für ihr Land opfert, pflegen will, um damit innenpolitisch zu punkten? Intern rechnet man ja immer noch mit einer Freilassung infolge der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Oder hat sie ihre Idée fixe von den «Banditen aus dem Donbass» in die Irre geleitet, ist sie ihrem eigenen Denkschema aufgesessen? Oder gibt es gar einen internen Deal mit Janukowytsch für die Zeit nach der Unterzeichnung des Abkommens? Dass es ihrer Partei wichtig war, wurde jedenfalls an der schnellen Übersetzung ins Englische und anschließenden gesonderten Verbreitung an westliche Journalisten klar. Die Botschaft sollte schnell im Westen vernommen werden.
Die Türen der Europäischen Union bleiben offen!
Die EU-Diplomatie wurde am Freitag auch wieder lebendiger. Zwar gab es einige Statements zur Enttäuschung über die Entscheidung der ukrainischen Regierung, doch sprach man von «offenen Türen» und «jederzeitiger Gesprächsbereitschaft». Im Hintergrund werden die Telefondrähte geglüht haben. Die Abwesenheit von Außenminister Leonid Koshara am Freitag im Parlament spricht ebenfalls dafür. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk schloss eine Reise von Präsident Komorowski nach Kiew nicht aus, falls sich die kleinste Chance für das Abkommen eröffnen sollte. Am späten Abend ließ Füle darüber hinaus verbreiten, dass man bisher noch keine offizielle Absage von der ukrainischen Seite erhalten habe. Das Angebot der EU läge demnach bei 10,5 Milliarden Euro an Krediten zwischen 2014 und 2020.
Bestätigung dafür, dass noch keine Entscheidung gefallen ist, war die Mitteilung des außenpolitischen Präsidentenberaters Andrij Hontscharuk, dass Janukowytsch nach Vilnius fahren wird. Auch sein Vertreter im Parlament, Juri Miroschnytschenko, sprach in der Freitagabendtalkshow «Schuster live» davon, dass der Präsident noch «die Argumente abwäge».
Auffällig in der ganzen Konstellation ist ebenfalls, dass einzig Asarow und Boiko sich eindeutig in Bezug auf die Unterbrechung der Vorbereitungen auf die EU-Assoziierung positionieren. Sie halten somit ihren Kopf als mögliche Sündenböcke hin. Mehrere Beschlüsse regionaler Parlamente und von Politikern (auch der Regionalen) mit der Aufforderung nach Entlassung der Regierung deuten auf eine gezielte Steuerung hin. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Außenpolitik der Ukraine ein Vorrecht des Präsidenten ist.2
Im oben genannten Artikel von Mustafa Najem findet sich auch ein Absatz über ein mögliches Fernsehinterview mit Janukowytsch in den nächsten Tagen, in dem, Najem nach, die Schuld für das Scheitern der EU-Integration auf die Europäer und den Zynismus der Opposition geschoben werden soll. Entscheidend ist aber dabei, wie die aktuellen Verhandlungen ausgehen. Nach dem Hinfälligwerden der Forderung nach Freilassung von Tymoschenko – vorausgesetzt die EU-Staaten gehen darauf ein – wäre die Unterschrift in Vilnius einzig ein finanzielles Problem. Die ständigen Vorwürfe gegenüber dem IWF deuten darauf hin, dass man die 15 Milliarden Dollar IWF-Kredit zusätzlich zu den EU-Angeboten erhalten will. Der IWF entscheidet Mitte Dezember und zu den Hauptanteilseignern gehören die EU-Staaten und die USA, die anscheinend sehr interessiert an einer Herauslösung der Ukraine aus dem russischen Orbit sind.
Somit könnte es in der nächsten Woche vielleicht Mittwoch oder auch erst Donnerstag zu einer Sitzung des Nationalen Rates für Sicherheit und Verteidigung kommen, im Ergebnis dessen Präsident Janukowytsch nach reiflicher Erwägung, den schweren Entschluss fasst, den Vertrag zu unterzeichnen. Er verkündet ihn in einer Fernsehansprache an das Volk. Gleichzeitig könnte er Ministerpräsident Mykola Asarow und Vizepremier Juri Boiko entlassen oder diese Entlassung nach dem Gipfel vornehmen. Asarow hat Gerüchten zufolge seit Langem die Absicht in den Ruhestand zu gehen. Die «Wut des Volkes» auf sich nehmend und Einsicht zeigend, könnte er auch vor seinem 66. Geburtstag am 17. Dezember freiwillig zurücktreten. Der neue Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten stünde ebenfalls bereit: der ambitionierte 1. Vizepremier Serhij Arbusow, 37 Jahre alt und seit Langem heißer Kandidat aus dem Umfeld von Präsidentensohn Olexander.
Julia Tymoschenko müsste die Europäer öffentlich gemäß ihres Versprechens von ihrer Pflicht entbinden und zu einer Unterzeichnung, trotz ihres Gefängnisaufenthaltes aufrufen. Vorausgesetzt die EU-Staaten stimmen zu, würde Janukowytsch nach Vilnius fahren und den historischen Vertrag zu seinen Bedingungen unterzeichnen. Er hätte damit einen unglaublichen Weg zurückgelegt und das Unmögliche wahr gemacht: die Opposition mit Tymoschenko, die EU und Russland düpiert.
Was macht Russland?
Die Unbekannte in diesem Szenario sind allerdings weiter die Vereinbarungen zwischen Putin und Janukowytsch. Nicht auszuschließen ist weiterhin, dass Putin und Janukowytsch bereits einen konkreten Vertrag unterzeichnet haben. Putin könnte bis Freitag auch noch etwas drauflegen oder zu ganz anderen Maßnahmen greifen, wenn ihm die Verhinderung der Vertragsunterzeichnung wirklich so wichtig ist. Eventuell hat ihm Janukowytsch auch ein Angebot unterbreitet, das Putin nicht ablehnen konnte. Die Ukraine als Drehscheibe zwischen der EU und Russland hätte auch für Russland Vorteile. Nicht zu vergessen den Vorschlag Putins zur Schaffung einer Freihandelszone von Lissabon nach Wladiwostok von 2010. Vielleicht zielen die vorgeschlagenen trilateralen Gespräche letztendlich darauf ab. Jedoch angesichts des in der Öffentlichkeit sehr stümperhaften und überheblichen Vorgehens russischer Regierungsvertreter des Kalibers Glasjew, Markow oder Satulin in Bezug auf ihre kleinen Brüder im Südwesten ist eine andere Variante allerdings auch nicht auszuschließen.
Die vermeintlichen russischen außenpolitischen Siege (Gasverträge mit der Ukraine, Nord Stream, South Stream, Snowden, Syrien) der letzten Jahre haben die russische Außenpolitik blind gegenüber den realen Verhältnissen beim Bruderstaat gemacht. Außerdem lassen die Gegebenheiten in Putins Reich Selbstkritik oder gar Kritik des Präsidenten nicht zu. Der Aufstieg von Ja-Sagern und offensichtliche Fehlkalkulationen sind damit vorprogrammiert. Drei Jahre lang hat Janukowytsch vergeblich für einen neuen Gasvertrag bei Putin antichambriert und wurde immer wieder aufs Neue gedemütigt und herablassend behandelt. Die Unterzeichnung des Vertrages am 29. November wäre nur die logische Folge dessen. Damit wäre die größte außenpolitische Niederlage der russischen Außenpolitik in der jüngeren Geschichte mit womöglich drastischen Folgen für Putin und sein Regime letztendlich hausgemacht.
Zusätzlich hindert Putins öffentliche Aussage, dass er eigentlich nichts gegen die EU-Assoziierung hat, ihn auch an zu offensichtlichen Rachemaßnahmen. Janukowytsch hat zudem inzwischen eindeutige Garantien der EU mit Merkel an der Spitze und der USA erhalten. Russland kann sich einen Handelskrieg mit der EU offenbar auch nicht leisten, denn die russische Wirtschaft weist nur ein schwaches Wachstum auf und verzeichnete im dritten Quartal bereits einen Produktionsrückgang.
Die nächsten Tage bis zum Gipfel versprechen, noch interessant zu werden. Zum Freitag wird sich endgültig herausstellen, wie das Theaterstück, dessen Aufführung wir gerade erleben, eigentlich heißt: «Wie der Bandit aus dem Donbass sich vom Zaren kaufen ließ» oder «Wie die Kosaken die Prinzessin entführten und danach den Zaren und die europäischen Königshäuser zum Narren hielten». Ich hoffe auf Letzteres.
1 Es kursieren bereits Jobangebote für Maidan-Arbeiter für den Sonntag mit Angeboten von 100 Hrywnja (ca. 9 Euro) für drei Stunden Arbeit. Fahnenträger bekommen 25 Hrywnja (ca. 2,3 Euro) mehr. Das sind natürlich nur Angebote für Regierungsdemonstrationen.
2 Das sollte im Übrigen auch der Grünenpolitiker Werner Schulz wissen, der aus unerfindlichen Gründen im Ausschuss für parlamentarische Kooperation EU-Ukraine des EU-Parlaments sitzt und 2012 beispielsweise unwidersprochen verbreiten konnte, dass Julia Tymoschenko «praktisch diesen Assoziierungsprozess ins Leben gerufen» hatte. Die erste Verhandlungsrunde für den Assoziierungsvertrag fand am 5. März 2007 statt. Geschäftsführender Außenminister unter Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsident Wiktor Janukowytsch war nach der Entlassung Borys Tarasjuks zu dieser Zeit Wolodymyr Ohrysko. Julia Tymoschenko kam erst am 18. Dezember 2007 wieder in Amt und Würden, nachdem sie am 8. September 2005 zurücktreten musste.
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