Zur politischen Lage in der Ukraine im Vorfeld der Parlamentswahlen 2012
Neben den Dauerproblemen Armut, Korruption und politischer Repression wird die politische Debatte in der Ukraine nach wie vor von den Prozessen gegen die ehemalige Premierministerin Tymoschenko und den ehemaligen Innenminister Luzenko sowie von allerlei Gerüchten über Gesundheitszustand und Haftbedingungen der beiden Verurteilten dominiert. Darüber hinaus gibt es Spekulationen über die Solidität der Staatsfinanzen: Die Finanzagentur Bloomberg sieht die Ukraine in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit eines Staatsbankrotts weltweit auf Platz zwei hinter Griechenland. Gespräche der ukrainischen Regierung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über die Auszahlung der nächsten Tranche und über die Rückzahlungsmodalitäten des im Rahmen der Weltfinanzkrise gewährten Rettungskredits dauern an, ebenso wie der Konflikt mit Russland um den Gaspreis und um die Veränderung des Gaslieferungsabkommens 2009. Der Integrationsprozess mit der EU liegt vorläufig auf Eis. Zwar ist das fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen am 30. März in Brüssel paraphiert worden, die Ratifikation macht die EU jedoch von Fortschritten in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abhängig.
Im November 2011 verabschiedete das Parlament mit großer Mehrheit ein neues Wahlgesetz. Danach werden die Parlamentswahlen am 28. Oktober 2012 nach einem gemischten System abgehalten. Die Hälfte der 450 Abgeordneten wird nach dem Proportionalitätsprinzip über Parteilisten mit 5%-Hürde gewählt; die andere Hälfte nach Mehrheitswahlrecht in 225 Wahlkreisen. Eine Aufrechnung der Direktmandate auf die Parteilisten, wie sie in Deutschland stattfindet, ist nicht vorgesehen. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass nur einzelne Parteien, und nicht mehr, wie früher üblich, Wahlblöcke und -bündnisse ihre Kandidatenlisten zur Wahl stellen dürfen.
Das Regierungslager
Das Innenleben des Regierungsapparates bleibt aufgrund eines offensichtlichen Mangels objektiver Informationsquellen und der großen Bedeutung informeller Netzwerke schwer zu analysieren. Die meisten Analysten gehen jedoch davon aus, dass nach wie vor praktisch alle wichtigen Entscheidungen im Umfeld des Präsidenten getroffen werden, während sich die Arbeit von Regierung und Regierungsmehrheit im Parlament auf das Abnicken und Vollstrecken dieser Entscheidungen beschränkt. Premierminister Asarov ist es nicht gelungen, sein Profil zu stärken, was schon mehrfach zu Spekulationen über seine baldige Entlassung geführt hat – zumal einigen anderen Regierungsmitgliedern (z.B. dem ersten Vize-Premierminister Choroschkowskyj) höhere politische Ambitionen nachgesagt werden.
Trotz der relativ fest etablierten Machtvertikale gibt es Hinweise auf kleinere Uneinigkeiten bzw. eine gewisse Nervosität im Regierungslager und in der regierenden Partei der Regionen (PdR). Bei einer Abstimmung Anfang März erhielt der Regierungskandidat für das Amt des ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen.Nach Verlautbarungen des Parlaments werden auch die kürzlich vom Präsidenten geäußerten Pläne zur Einführung des Russischen als zweite Amtssprache ebenfalls keine Mehrheit finden. Die höchsten medialen Wellen schlug jedoch die „Degradierung“ Andrij Klujews vom ersten Vizepremierminister zum Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und die Ernennung des ehemaligen Finanzministers Choroschkowskyj zum ersten stellvertretenden Regierungschef. Eine vernünftige offizielle Erklärung für diese Personalrochade wurde nicht geliefert. Inoffizielle Erklärungen reichen vom Druck durch Oligarchen bzw. den Kreml, über eine Positionierung Choroschkowskyjs als möglichen Asarov-Nachfolger bis hin zu einer Distanzierung des Präsidenten von seiner eigenen Partei der Regionen – in welcher Choroschkowskyj kein Mitglied ist.
Ein gewisse Unruhe auf Regierungsseite ist angesichts aktueller Umfragewerte nicht verwunderlich: Sowohl der Präsident als auch seine Partei der Regionen haben in der Bevölkerung dramatisch an Rückhalt verloren, da sie als Hauptverantwortliche für Stagnation und zunehmende Repression gesehen werden. Zu diesem Bild tragen – neben zahlreichen Korruptionsskandalen, Fällen von Straflosigkeit der regierenden „Elite“ und ihrer Kinder sowie umstrittenen Gesetzesvorhaben – vor allem die stagnierenden Verhandlungen mit dem IWF und der EU, die Tymoschenko-Affäre sowie der Gasstreit mit Russland entscheidend bei. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist auf sehr hohem Niveau, jeder Funke kann zurzeit eine gefährliche gesellschaftliche Explosion in der Ukraine auslösen.
Aktuell geben lediglich 16 bis 20% der Wähler an, bei der Parlamentswahl 2012 für die Partei der Regionen stimmen zu wollen. Die Kommunistische Partei – der in Bezug auf seine Rhetorik sowjetisch reaktionäre, aber in der Praxis weitgehend farblose Koalitionspartner der Regierungspartei – erreicht zwischen 5 und 7%. Die weiteren Unterstützer der Asarov-Regierung (v.a. Lytwyns „Ukrainische Partei“) haben nach der Abschaffung der Parteienblöcke keine realistische Chance mehr, über eigene Parteienlisten ins Parlament einzuziehen. Als Reaktion darauf haben sich zwischen mehreren kleineren Parteien und der Partei der Regionen Fusionspläne entwickelt. Im Fall der Partei „Starke Ukraine“ von Vizepremierminister Tihipko wurden diese Pläne bereits vollzogen. Von parteistrategischen Manövern dieser Art erhoffen sich die Funktionäre des Regierungsblocks einige zusätzliche Prozentpunkte. Als weiteres Projekt zur Steigerung der Regierungspopularität kann ein von Präsident Janukowytsch bereits angekündigtes umfassendes Sozialprogramm gesehen werden, das eine Erhöhung der Pensionen und Leistungen an Bedürftige sowie eine Entschädigung (einmalige Auszahlung von ca. 100 EUR pro Kopf) für im Laufe der Inflation Anfang-Mitte der 90er verlorene Bankeinlagen in der sowjetischen Sparkasse vorsieht. Die Finanzierung dieses Programms ist jedoch noch nicht endgültig geklärt, und angesichts des niedrigen absoluten Niveaus sozialer Leistungen und der Dominanz anderer Problemfelder im öffentlichen Diskurs ist fraglich, inwieweit sich sein Effekt in der Gesellschaft bemerkbar machen wird.
Noch nervöser werden PdR-Abgeordnete und regierungsnahe ukrainische Oligarchen angesichts einer Verfassungsklage, die eine Doppelkandidatur auf der Liste und im Wahlkreis verbieten soll. Gerüchten zufolge rechnet die PdR mit max. 100 sicheren Listenplätzen. Gute Direktwahlreise im Donbass und in den südöstlichen Regionen sind inzwischen auch rar. Der Kampf in der PdR um einen sicheren Platz im nächsten Parlament wird immer brutaler und rücksichtsloser.
Die Opposition
Angesichts der niedrigen Umfragewerte für die Regierung und die PdR haben die oppositionellen Kräfte grundsätzlich gute Chancen, die Parlamentswahlen zu gewinnen. Die Opposition rechnen mit ca. 130 sicheren Listenplätzen und noch bis zu 100 Direktwahlkreise können durch oppositionelle oder unabhängige KandidatInnen gewonnen werden. Behindert werden sie dabei jedoch von internen Machtkämpfen und den Unwägbarkeiten des Wahlsystems.
Gute Aussichten auf den Einzug ins Parlament haben zur Zeit Tymoschenkos Partei „Batkiwschtschyna“ mit Umfragewerten von 14 bis 20%, die Partei „Front Smin“ um den als liberal eingeschätzten ehemaligen Parlamentspräsidenten Arsenij Jazenjuk (7 bis 12%) sowie Witalij Klytschkos Partei „UDAR“ (4 bis 6%). Die radikal nationalistische Partei „Swoboda“ scheitert in bisherigen Umfragen an der 5%-Hürde (3% bis 5%), kann es aber u.U. ins Parlament schaffen.
Die vier aufgeführten Parteien sowie einige weitere, kleinere Bewegungen haben sich als Reaktion auf die Verhaftung Tymoschenkos 2011 informell zum „Komitee des Widerstandes gegen die Diktatur“ (KOD) zusammengeschlossen und diskutieren zurzeit im Rahmen dieses Forums eine mögliche Zusammenarbeit in Bezug auf die anstehende Parlamentswahl. Innerhalb des Komitees scheint inzwischen Einigkeit darüber zu bestehen, dass pro Wahlkreis jeweils nur ein Direktkandidat für die gesamte Opposition aufgestellt werden soll. Auf diese Weise soll eine Aufsplitterung des gegen die Regierung gerichteten Stimmpotentials zugunsten der Partei der Regionen verhindert werden. Die genaue Aufteilung der Wahlkreise bleibt jedoch strittig und bietet erhebliches Konfliktpotential. Klitschko mit seiner Partei nimmt bis jetzt an diesem Aufteilungsprozess nicht teil und plant laut Medienberichten, sich an der Wahl 2012 sowohl mit einer eigenen Parteiliste als auch mit eigenen DirektkanditatInnen zu beteiligen. „Swoboda“ scheint zu planen, eine eigene Parteiliste aufzustellen, nimmt aber andererseits an Gesprächen mit „Batkiwschtschyna“ und „Front Smin“ über gemeinsame DirektkandidatInnen in der Westukraine teil.
Parallel zu den Gesprächen über die Wahlkreismandate laufen Verhandlungen zwischen „Batkiwschtschyna“ und „Front Smin“ über eine Listenvereinigung. Eine solche Vereinigung würde angesichts des Verbots von Parteienböcken jedoch bedeuten, dass eine der beiden Parteien nicht unter ihrem eigenen Namen antreten könnte und ihre Kandidaten stattdessen als Unabhängige auf der Liste der anderen kandidieren lassen müsste. Dennoch sind die Verhandlungen Medienberichten zufolge bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. An der Spitze der gemeinsamen Liste (voraussichtlich unter dem Namen „Batkiwschtschyna“-Liste) sollen demnach Tymoschenko und Luzenko aufgestellt werden. Da sie als Inhaftierte jedoch nicht an der Wahl teilnehmen können, würde Jazenjuk als Nummer drei zum de facto Spitzenkandidaten. „Batkiwschtschyna“ bekommt 55%, und „Front Smin“ – 45% der Plätze in der gemeinsamen Liste. Im Gegenzug dafür soll Front Smin als leitenden Wahlkampfmanager ein Batkiwschtschyna Mitglied (Turtschynov) akzeptieren und sich zudem verpflichten, zur Präsidentschaftswahl 2015 keinen eigenen Kandidaten aufzustellen, sondern Julia Tymoschenko bedingungslos zu unterstützen. Insgesamt kann man heute von einer fast beschlossenen Fusion zwischen Tymoschenkos und Jazenjuks Parteien reden.
Ob und in welchem Umfang die antizipierten Übereinkommen aller oppositionellen Kräfte tatsächlich zustande kommen werden, ist noch nicht abzusehen. Ex-Präsident Juschtschenko, Vorsitzender der inzwischen marginalisierten Partei „Unsere Ukraine“, hat jedoch bereits den Gedanken geäußert, mit anderen Randgruppen einen alternativen Oppositionsblock zu bilden. Gleichzeitig ließ Witalij Klytschko verlauten, er wolle seine Partei lieber eigenständig ins Parlament führen. Weitere Zweifel an der Handlungsfähigkeit einer vereinigten Opposition schüren das Zerwürfnis zwischen „Batkiwschtschyna“ und der mittlerweile in „Ukraine Voran“ umbenannten Partei Natalija Korolewskajas sowie die antiliberalen, bisweilen offen rassistischen Positionen der „Swoboda“ Partei.
Zudem hat die Opposition angesichts der noch frischen Erinnerung an die politischen Grabenkämpfe nach der Orangenen Revolution keineswegs das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit. Allenfalls wird sie als das kleinere von zwei Übeln gesehen. Tatsächlich ist zweifelhaft, inwieweit selbst eine geeinte Opposition willens und in der Lage wäre, nach einer gewonnenen Parlamentswahl einen wirklichen Reformprozess anzustoßen und sich nicht erneut in persönlichen Intrigen, Machtspielen und Korruptionsskandalen zu verlieren.
Zusätzliche Hindernisse für die Opposition könnten durch die Manipulation der Wahl vonseiten der Regierung entstehen. Aus diesem Grund werden eine von Abgeordneten der Partei der Regionen angestrengte Verfassungsklage gegen das Prinzip der Doppelkandidatur auf der Parteiliste und im Wahlkreis, sowie eine weitere Klage gegen den Zuschnitt der Wahlkreise mit besonderem Misstrauen beobachtet. Der zweiten Klage hat das Verfassungsgericht inzwischen stattgegeben. Dadurch verlieren Wähler mit Wohnsitz im Ausland das Abstimmungsrecht in Kiewer Direktwahlkreisen und können nur noch im proportionalen Teil der Wahl abstimmen. Als Folge verliert die Hauptstadt drei Wahlkreise, während Regionen mit höherer Regierungsunterstützung drei Wahlkreise hinzugewinnen. Zudem wird befürchtet, dass die Regierung im Laufe der nunmehr nötigen Revision des Wahlgesetzes versuchen wird, administrativen Wahlbetrug durch die Änderung technischer Details im Gesetz zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Ebenso wird vermutet, dass es analog zur Wahl 2002 weitreichende Versuche geben wird, gewählte Oppositionskandidaten mit Geld, Posten oder Drohungen zum Überlaufen zu bewegen.
Ausblick und Fazit
Angesichts der Stimmung im Land erscheint ein Wahlsieg des Regierungslagers in freien und fairen Wahlen trotz aller Zwistigkeiten innerhalb der Opposition eher unwahrscheinlich. Eine Niederlage bei der Parlamentswahl würde die Handlungsfreiheit der herrschenden politischen Elite (v.a. Präsident Janukowytsch) jedoch nur leicht einschränken. Die aktuelle ukrainische Verfassung gibt dem Präsidenten weitreichende Vollmachten und Befugnisse. Aufgrund der Kompetenzüberschneidungen von Präsident und Parlament im Prozess der Regierungsbildung, könnte ein solches Wahlergebnis jedoch auch zu einem lähmendem politischen Patt führen.
In jedem Fall werden die Parlamentswahlen zum Lackmustest für die weitere politische Entwicklung des Landes. Ein Sieg des Regierungslagers mit unfairen Mitteln könnte das endgültige Abgleiten der Ukraine in autoritäre Zustände, den Bruch mit dem europäischen Integrationsprozess und die Hinwendung zu Putins Idee einer „gelenkten Demokratie“ und der Eurasischen Union bedeuten.
Positiv stimmt jedoch die große internationale Aufmerksamkeit, die der Wahl aller Voraussicht nach zukommen wird. Eine Vielzahl an Wahlbeobachtern dürfte Fälschungen im großen Stil beträchtlich erschweren. Des Weiteren ist die Perspektive eines Zugangs zum EU-Binnenmarkt für politisch einflussreiche Wirtschaftseliten verlockend – unabhängig von ihrer Haltung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Somit besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Wahl ruhig, frei und fair vonstatten gehen und der ukrainischen Politik – wenn schon nicht die Lösung aller Probleme – so doch wenigstens etwas frischen Wind bringen wird.
Autoren: Dr. Kyryl Savin, Büroleiter, hbs Büro Kiew, und Jakob Hauter, Praktikant im hbs Büro Kiew
Der Artikel erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung.