Populismus gegen Populismus


Dutzende Parteiprojekte. Hunderte verlockende Versprechungen. Tausende schöne Worte. Und als Tüpfelchen auf dem i – fünf spekulative Fragen von Präsident Selenski, welche die Wählerschaft in die Wahllokale ziehen sollen.

So begegnet die Ukraine den Kommunalwahlen 2020, die ein weiteres Mal dazu zwingen über den Triumph populistischer Politik in unsere Breiten nachzudenken.

Den Leuten das sagen, was sie hören wollen. Das Wünschenswerte als das Tatsächliche ausgeben. Das Unerfüllbare versprechen. Einfache Lösungen für schwierige Probleme anbieten.

Die einfache Formel des Populismus ist der Menschheit seit Urzeiten bekannt, doch hat das fortschrittliche XXI. Jahrhundert sie mit neuen Möglichkeiten vervollständigt.

Die moderne Gesellschaft ist in Informationscluster geteilt, die einander praktisch teilweise nicht überschneiden. Jeder dieser abgesonderten Cluster hat ein eigenes Leben, eine eigene Tagesordnung, eigene Idole.

Und jetzt kann diese populistische Taktik nicht nur an die breiten Massen adressiert werden, sondern auch an ausgesuchte Bevölkerungsgruppen.

Am Ende ist das einer der interessantesten Trends unserer Zeit. Populismus nicht für die Mehrheit, sondern für eine Minderheit. Nicht für das Volk, sondern für diejenigen, die darauf verzichten, sich zum Volk zu zählen. Für einen einzeln genommenen Teil der Bürger, der in der eigenen virtuellen kleinen Welt dominiert.

Eben solch ein exklusiver Populismus wird in der Ukraine zur Hauptalternative zum traditionellen Massenpopulismus.

Der gewöhnliche Populismus beruht auf der Gegenüberstellung der tugendhaften Massen und der verderbten Eliten. Der Populist zeigt mit Leichtigkeit die Schuldigen.

Die gierige und ehrlose Führung, die am Hals des unglücklichen Volkes hängt, scheint das Zentrum des Übels und der Quell aller Probleme zu sein.

Der exklusive Populismus wird auf der Gegenüberstellung der tugendhaften Minderheit und der lasterhaften Massen errichtet. Dem Populisten bereitet es wieder keine Schwierigkeit, die Schuldigen zu finden.

Das dumme und gewissenlose Volk, das der unglücklichen patriotischen Schicht zugefallen ist, wird als Brutstätte des Bösen und als Hauptursache allen Missstände angesehen.

Der traditionelle Populismus überzeugt den Normalbürger von der eigenen Überlegenheit. Der einfache Mensch wird zum Träger aller unmöglichen Vorzüge gewöhnlich ohne irgendeinen Anlass erklärt.

In der Mehrheit seiend, heißt automatisch besser und richtig sein. Daran erinnert der Fernseher unermüdlich die Bevölkerung, der die populistischen Botschaften überträgt.

Der alternative Populismus überzeugt die Leute vom Gleichen, die sich nicht zu den Normalbürgern zählen. In die Minderheit geraten, bedeutet automatisch auf intellektuelle und moralische Überlegenheit Anspruch zu erheben.

Der aggressive Holzkopf bildet sich ein, ein Held und Gigant des Denkens deswegen zu sein, da er der Minderheit angehört. Eilfertige Politiker und Blogger speisen seine Einbildung beflissen mittels Facebook.

Der Populismus für die Mehrheit nutzt einfache und radikale Rezepte aus, die eine Entledigung von der verhassten Elite vorsehen. Alle auseinanderjagen. Alle einsperren. Alle erschießen. Alles aufteilen.

Scheinbare Solidität fügen Verweise auf ausländische oder historische Erfahrungen hinzu – „wie in China“, „wie in Belarus“, „wie unter Stalin“ – die auf Unwissen der fremden Realitäten und dem Unwillen, sich mit diesen auseinanderzusetzen, beruhen.

Der Populismus für die Minderheit operiert mit den gleichen einfachen und radikalen Lösungen – doch zielen sie auf die Neutralisierung des verachteten Volkes ab. Das allgemeine Wahlrecht abschaffen. Mitbürger zu Nichtbürgern machen. Eine patriotische Militärdiktatur errichten.

Rituelle Verweise auf ausländische Erfahrung – „wie in Lettland“, „wie in Chile“, „wie in Europa im vorvorigen Jahrhundert“ – werden genauso aktiv benutzt und von dem gleichen Unwillen, sich mit der fremden Geschichte auseinanderzusetzen, begleitet.

Der Utopismus der diskutierten Rezepte in den modernen ukrainischen Realien stört niemanden. Das Zielauditorium hört das, was es hören möchte und das ist die Hauptsache.

Die Konfrontation beider Populismen erwies sich als besonders anschaulich im Verlaufe des letzten Präsidentschaftswahlkampfs.

In den Jahren 2018-2019 glaubten die Opfer des Massenpopulismus, dass ein Machtwechsel in der Ukraine alle einheimischen Probleme lösen wird: von der Armut bis zum sich hinziehenden Krieg.

Die objektive Wirklichkeit, die es nicht erlaubt an irgendetwas derartiges zu glauben, wurde komplett ignoriert. Jeder, der versuchte über die Unrealisierbarkeit der Hoffnungen des Volkes zu reden, erschien als Feind.

Die Logik der Populisten ist einfach: Wenn du behauptest, dass es kein Paradies auf Erden geben wird, bedeutet das, dass du für die Hölle auf Erden bist.

Derweil haben die Opfer des exklusiven Populismus genauso naiv geglaubt, dass der fünfte Präsident der Ukraine [gemeint ist Petro Poroschenko, A.d.Ü.] zum gewünschten Triumph schreitet.

Die objektive Realität, die sich in der Soziologie widerspiegelte, wurde einfach verworfen. Leute, die versuchten davon zu sprechen, dass Pjotr Alexejewitsch [Petro Poroschenko] keine Chance auf eine Wiederwahl hat, wurden als Feinde und Verräter angesehen.

Dabei wurden sie Post Faktum zu Schuldigen an der Niederlage Poroschenkos ausgerufen: in voller Übereinstimmung mit der eisernen populistischen Logik.

Ja, es gibt Übereinstimmungen zwischen den beiden populistischen Strömungen. Doch die Wahlen vom Vorjahr legten auch den prinzipiellen Unterschied zwischen beiden offen.

Der Populismus der breiten Massen opfert die Realität dem Sieg. Er räumt dem geschickten Demagogen den Weg zur Macht frei. Wie auch immer, doch Wladimir Alexandrowitsch Selenski [Wolodymyr Olexandrowytsch Selenskyj] sitzt auf der Bankowaja und bleibt der populärste ukrainische Politiker.

Doch der exklusive Populismus zwingt dazu nicht nur die Realität zu opfern, sondern auch die Chancen auf einen Sieg: für die Lösung von bescheidenen praktischen Aufgaben.

Dank der populistischen Rhetorik für die Minderheit erhält der fixe Blogger tausende Likes. Der kategorische Journalist sichert sich eine dankbare Hörerschaft.

Die politische Nischenkraft stattet sich mit einem ergebenen, wenn auch wissentlich begrenzten, Wählerkern aus.

Es ist schwer auf etwas größeres abzuzielen, als das Matra des „idiotischen Volks“ unter den Bedingungen eines politischen Wettbewerbs auszunutzen, doch, möglicherweise, streben die alternativen Populisten auch nichts größeres an?

Allenthalben ergibt sich der Eindruck, dass das Land zu einem spontanen populistischen Konsens gekommen ist, der alle zufriedenstellt. Der Mehrheit gefällt es an die eigene Tugendhaftigkeit zu glauben, wegen allem das unnütze Establishment zu beschuldigen, bedauernd die Arme auszubreiten und die Schmeicheleien der Politiker in den Massenmedien zu genießen.

Für die Minderheit ist es angenehm, an die eigene Exklusivität zu glauben, das unnütze Volk wegen allem zu beschuldigen, mit den Schultern zu zucken und sich an den Lobhudeleien der anderen Politiker und der anderen Massenmedien zu berauschen.

Alle sind unzufrieden mit der existierenden Ukraine, doch zufrieden mit sich selbst. Und am 25. Oktober gewährt sich jedem die Möglichkeit das eigene Ego aufzuheitern.

25. Oktober 2020 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1011

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