Präsident Juschtschenko stellte gestern einen neuen Verfassungsentwurf vor


Präsident Wiktor Juschtschenko hat gestern im Parlament einen Gesetzesentwurf zum Eintrag von Änderungen in die Verfassung eingereicht. Das Dokument sieht eine Revision des Regierungssystems im Lande, die Durchführung von Gerichtsreformen und Reformen der Gebietsverwaltung, sowie viele andere Korrekturen im “Grundgesetz” vor. Eine der Hauptneuheiten ist die Trennung des Parlaments in zwei Kammern: eine Abgeordnetenkammer und einen Senat. Der Gesetzesentwurf beseitigt die Mehrzahl der Stellen der geltenden Verfassung mit doppelter Lesart, doch enthält dabei wieder Normen, welche zweierlei Deutungen zulassen. Der Entwurf hat nur wenig Chancen auf eine Bestätigung, da sich bereits Premierministerin Julia Timoschenko, Parlamentssprecher Wladimir Litwin und der Oppositionsführer Wiktor Janukowitsch dagegen ausgesprochen haben.

Scheidung nach Kammern

Gestern morgen wandte sich Wiktor Juschtschenko, in der Werchowna Rada mit seiner jährlichen Botschaft an das Parlament auftretend, an die Abgeordneten mit der Bitte seine Variante einer Verfassungsreform zu bestätigen. Vorher hatte Juschtschenko bereits verkündet, dass er die Einführung eines zweikammerigen Parlaments initiiert (siehe gestrige Ausgabe des “Kommersant-Ukraine“). Nach der Veröffentlichung des Gesetzesentwurfes des Präsidenten zur Einbringung von Änderungen in die Verfassung wurden die Details der vorgeschlagenen Reformen des Regierungssystems bekannt.

Die Hauptänderungen betreffen die Werchowna Rada. Es wird vorgeschlagen diese “Nationalversammlung der Ukraine” (NSU) zu nennen – von dem Terminus “Werchowna Rada” nahmen die Autoren des Entwurfes Abstand. Wie Wiktor Juschtschenko vorher bereits verkündete, sollen die maßgeblichen Gesetzesvollmachten bei der unteren Kammer der NSU verbleiben – der Kammer der Abgeordneten die aus 300 Personen besteht. Das Prinzip der Abgeordnetenwahl – nach Parteilisten oder Mehrheitswahlrecht – ist im Dokument nicht festgelegt. Auf die Idee des imperativen Mandats verzichtet der Präsident – Normen darüber, dass der Abgeordnete in die Fraktion der Partei eintritt, von der er gewählt wurde, gibt es im Dokument nicht. Der Begriff “Koalition” wird auch nicht erwähnt. Das Staatsoberhaupt, welches im Verlaufe mehrerer Jahre auf der Notwendigkeit der Existenz einer formalisierten Mehrheit bestand, geht jetzt davon aus, dass es in der NSU genügend situative Vereinigungen von Abgeordneten geben wird. Eine weitere Neueinführung besteht darin, dass die Abgeordneten die Tätigkeit im Parlament und in der Regierung mischen können.

In der oberen Kammer – dem Senat – wird die Wahl von drei Vertretern aus jeder Oblast und ebenfalls der Autonomen Republik Krim, Kiew und einer Reihe anderer Städte vorgeschlagen, “die dem Status nach Oblasten gleichgestellt werden” und deren Liste noch bestätigt werden müsste. Alle ehemaligen Präsidenten des Staates erhalten ein lebenslanges Recht im Senat zu sitzen. Die Hauptaufgabe der Senatoren ist die Bestätigung der Gesetze, die von der unteren Kammer verabschiedet wurden. Übrigens soll das Gewicht des Senats, der Meinung des Präsidenten nach, nur sehr klein werden – sogar wenn er ein Gesetz zurückgewiesen hat, kann die untere Kammer die Meinung der Senatoren ignorieren, indem sie diese Ablehnung mit 150 Stimmen überstimmt.

Wiktor Juschtschenko unterstrich, dass sein Projekt “die unbegrenzte Immunität der Abgeordneten aufhebt”. De facto wird vorgeschlagen lediglich die Norm der Abstimmung der Rada über die Bestrafung eines Abgeordneten aufgehoben. Die Norm darüber, dass der Senat oder die Abgeordnetenkammer eine Zustimmung für das Festhalten oder den Arrest eines ihrer Vertreter geben müssen, blieb im Gesetzesentwurf bestehen. Diese Garantien werden ebenfalls Richtern und von der NSU bevollmächtigten Vertretern zu den Menschenrechten zugestanden und es ist vorgesehen dem Präsidenten “die Garantie der Unantastbarkeit” ohne Entzifferung/nähere Erklärung dieses Begriffs zu geben.

Präsidentenorder

Auf den ersten Blick, beschneidet die Verfassung die Vollmachten des Präsidenten: er verliert das Recht Kandidaten für den Verteidigungsminister und den Außenminister vorzuschlagen und Akte des Kabinetts, welche ökonomische Fragen betreffen, im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuhalten. Doch die verborgenen Vollmachten, die in diese Verfassungsentwurf vorgesehen sind, kompensieren diese Verluste. Vor allem erhält das Staatsoberhaupt das Recht in jedem Moment, ausgehend von der politischen Zweckmäßigkeit, das Parlament aufzulösen. Ähnliche Mechanismen erlauben ihm die Leiter der Machtstrukturen zu kontrollieren. Gemäß dem Gesetzesentwurf, kann das Staatsoberhaupt den Generalstaatsanwalt, die Leiter des Geheimdienstes/SBU, des Nationalen Büros für Ermittlungen und “anderen Organen, die vorgerichtliche Untersuchungen durchführen” nur mit Zustimmung der NSU ernennen, doch entlassen – selbstständig.

Um die Abwesenheit der Minister des Präsidenten beim Innenministerium und dem Verteidigungsministerium zu kompensieren, wurde im Projekt die Norm eingeführt, dass er “Akte des Ministerkabinetts zu Fragen der außenpolitischen Tätigkeit, der Verteidigung und der Sicherheit des Staates ändern kann”. Übrigens, die Praxis der Arbeit des Rates für Nationale Sicherheit und Verteidigung (SNBO), dem der Präsident vorsitzt, zeugt davon, dass, wenn es notwendig ist, jeder Regierungsakt zu einem “Dokument, welches die Sicherheit des Staates betrifft” erklärt werden kann. Nebenbei gesagt, bleibt der Mechanismus des Einflusses auf das Kabinett über Entscheidungen des Sicherheitsrates nicht nur im Projekt bestehen, sondern wird auch gestärkt – das Staatsoberhaupt erhält die Möglichkeit jeden Bürger in den Sicherheitsrat zu berufen und nicht nur die Leiter der zentralen Organe der Exekutive. Dies erlaubt ihm ständig die Stimmmehrheit im SNBO zu kontrollieren.

Was die Regierung betrifft, so ist vorgesehen die Bestätigung der Zusammensetzung des Kabinetts in der Abgeordnetenkammer vorzunehmen. Dabei soll die Kandidatur des Premiers diejenige politische Kraft vorschlagen, welche den Ergebnissen der Wahlen nach die meisten Stimmen erhalten hat. Im Falle dessen, wenn innerhalb einer 20-tägigen Frist der Kandidat nicht bestätigt wird, geht das Recht zur Aufstellung eines Kandidaten an die zweitgrößte Fraktion. Falls es auch ihr nicht gelingt ihren Premier durchzubringen, hat der Präsident das Recht den dritten Kandidaten festzulegen. Falls die Kandidatur des Präsidenten nicht von der unteren Kammer bestätigt wird, hat das Staatsoberhaupt das Recht die Abgeordnetenkammer aufzulösen.

Zu den neuen Vollmachten des Präsidenten kann die ebenfalls verborgene Möglichkeit der Blockade jedes Gesetzes, welches vom Parlament verabschiedet wurde, gezählt werden. Die neue Verfassung gibt dem Parlamentssprecher nicht das Recht Gesetze zu unterzeichnen, bei denen ein Veto des Präsidenten überwunden wurde. Im Gesetzesentwurf ist angezeigt, dass dies das Staatsoberhaupt tun soll, doch ist kein Mechanismus der Einflussnahme auf den Präsidenten vorgesehen, falls er sich weigern sollte seine Unterschrift darunter zu setzen.

Der Meinung der Autoren des Gesetzesentwurfes nach, wird der amtierende Präsident bereits die besonderen Vollmachten nutzen können. Wiktor Juschtschenko erwartet, dass die Verfassungsreform in diesem Jahr abgeschlossen sein wird – gestern wandte er sich an die Werchowna Rada mit der Bitte Haushaltsmittel für die Organisierung eines Referendums zuzuweisen, welches für die Implementation der Reform notwendig ist. Dabei sind die nächsten Präsidentschaftswahlen für den 17. Januar 2010 vorgesehen und die Übergabe der Vollmachten an den neuen Präsidenten findet nicht vor März statt.

Wesentliche Einzelheiten

Neben den Änderungen im System der Zentralmacht, sieht das Gesetzesprojekt die Durchführung von Reformen der Territorialverwaltung vor. Der “Kommersant-Ukraine“ hatte bereits mitgeteilt, dass die Hauptneuerung die Bildung von Exekutivausschüssen bei den lokalen Räten wird, an welche die Hauptvollmachten der lokalen staatlichen Verwaltung übergehen. Wie weiter oben erwähnt wurde, erhalten mehrere Städte “mit einer vom Gesetz festgelegten Einwohnerzahl” den Status einer Oblast; die gleiche Reform wird auf der Ebene der Städte mit Kreisbedeutung durchgeführt. Bemerkenswert ist, dass Sewastopol der besondere Status entzogen werden soll, doch der Status der Autonomen Republik Krim – bleibt unverändert.

Die Änderungen betrafen praktisch alle Artikel. Wesentliche Änderungen wurden insbesondere in die Abschnitte der “Rechtssprechung” und des “Verfassungsgerichts” eingetragen, der Abschnitt zur “Staatsanwaltschaft” ist überhaupt aus der Verfassung verschwunden. In der Mehrzahl der Fälle geht die Rede von redaktionellen Änderungen, dabei bleibt der Sinne einiger unklar. Zum Beispiel gibt es im “Grundgesetz” keinen Punkt, der detailliert die Gleichberechtigung von Männern und Frauen beschreibt und die Unterstützung des Staates für berufstätige Mütter garantiert. Im sozialen Teil sind zwei Positionen anzuführen. Eine von ihnen garantiert den Bürger ??“nicht weniger als 30 Tage bezahlten Urlaub”, die zweite – hebt das Moratorium für die Reduzierung der Zahl der staatlichen und kommunalen Gesundheitseinrichtungen auf.

Zurück in die Zukunft

Die stellvertretende Leiterin des Präsidialamtes, Marija Stawnijtschuk, erklärte gestern, dass der Entwurf auf den Ergebnissen der Arbeit der Nationalen Verfassungskommission (NKS) beruht, die im letzten Jahr (von der Unterbrechung ihrer Arbeit berichtete der “Kommersant-Ukraine“ am 24. April 2008) tätig war. Doch die Mitglieder der NKS sehen das anders. “In der Konzeption, die wir damals vorbereitet haben, war nicht Rede von einer solchen Aufteilung der Vollmachten, darunter den Vollmachten eines zweikammerigen Parlamentes. Wir haben damals nur erwähnt, dass die Idee eines zweikammerigen Parlaments als Variante untersucht werden kann”, erklärte dem “Kommersant-Ukraine“ das Mitglied der NKS, Georgij Krjutschkow. Übrigens, einige Ausarbeitungen der NKS sind trotzdem in den Verfassungsentwurf eingegangen. Insbesondere geht die Rede von der Erweiterung der Rechte und Vollmachten des Verfassungsgerichtes und über die Einführung eines Mechanismus von Volksbegehrens – die Bürger erhalten das Recht den Beschluss von Gesetzen und die Aufhebung bestehender einzuleiten.

Die neue Verfassung soll vom Parlament verabschiedet werden (zwei Abstimmungen – 226 und 300 Stimmen), eine Expertise des Verfassungsgerichtes durchlaufen und in einem landesweiten Referendum bestätigt werden. Doch die Perspektiven der Annahme sind wenig erfreulich – die größten politischen Kräfte sind nicht einverstanden mit einer Reihe der Initiativen des Präsidenten. Premierministerin Julia Timoschenko erklärte, dass die Einführung des zweikammerigen Parlaments ein Schritt zu Föderalismus ist und die Korruption in das Parlament zurückbringt. “Der Präsident möchte einen Weg dafür öffnen, damit über den Kauf von Mehrheitswahlkreisen die obere Kammer gebildet wird. Vom Wesen her, wird das Land eine oligarchische Struktur haben, da nur die Oligarchen genügend Geld haben um in die obere Kammer zu gelangen”, erklärte Timoschenko gestern. Sie wurde vom Parlamentssprecher, Wladimir Litwin, unterstützt, der den Senat “ein Schutzgebiet für die ukrainischen Oligarchen” nannte, die in die obere Kammer streben werden, “damit sie die Immunität erhalten”. Der Vorsitzende der Partei der Regionen, Wiktor Janukowitsch, geht davon aus, dass der Text der neuen Verfassung von Vertretern des Parlamentes geschrieben werden sollte und nicht vom Präsidenten. Er schlug vor in der Rada eine entsprechende Kommisson zu bilden.

Sergej Sidorenko, Sergej Golownjow

Quelle: Kommersant-Ukraine

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1634

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