Proteste in Belarus und Russland. Warum schweigt die ukrainische „Revolutionsregierung“?
Am 25. und 26. März kam es in Belarus und Russland zu Protestaktionen, die wie üblich mit der Verhaftung von Aktivisten ihren Abschluss gefunden haben. Unterschiedlichen Angaben zu Folge wurden in Russland dabei nahezu 1000, in Belarus ungefähr 900 Personen festgenommen. Trotz der Massendemonstrationen in diesen Ländern haben sich viele Experten bereits skeptisch darüber geäußert, dass es dort zu bedeutsamen Veränderungen kommen wird.
Unter anderem Jurij Romanenko, Direktor des Ukrainian Institute for the Future, kommentierte bezüglich der Ereignisse in Russland, dass „die Aktionen dort vom Standpunkt der Logik aus etwas komisches an sich haben.“
„Die Proteste gegen ‚Dimon‘ (gemeint ist Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, A.d.R.) in Russland sind an und für sich merkwürdig. ‚Dimon‘ selbst erscheint hier als die Quelle allen Übels. Das ist das traditionelle Schema: guter Zar, böse Bojaren. Der Zar selbst hat mit allem nichts zu tun. Was Nawalnyj angeht, so ist er lediglich ein Instrument im Kampf der Kremlspitze, höchstwahrscheinlich auch geschaffen von dieser selbst“, bemerkt Romanenko.
Bezüglich der Protestaktionen in Belarus stellt der belarussische Analytiker Ihar Tyschkewitsch fest, dass Lukaschenko die Proteststimmung entweder mit Gewalt niederschlagen, oder sich einfach auf einige Zugeständnisse gegenüber den Protestierenden einlassen wird.
„Für belarussische Verhältnisse besitzen die Aktionen zwar in der Tat einen großen Maßstab. Wenn man die Möglichkeiten eines Machtwechsels aber real einschätzt, so hat eine Revolution nur dann die Chance zu siegen, wenn sie von mindestens zwei Prozent der Bevölkerung unterstützt wird“, so Tyschkewitsch.
Es ist bemerkenswert, dass bereits einige Länder der EU ihre Empörung über die Verhaftungen von Teilnehmern der Protestaktionen in Russland und Belarus zum Ausdruck gebracht haben, darunter auch das benachbarte Polen. Die angeblich demokratische ukrainische Führung jedoch, die dank der Revolution der Würde an die Macht gekommen ist, hat bisher die revolutionäre Stimmung weder der Belarussen noch der Russen unterstützt.
Was bedeuten die Proteste in Russland und Belarus? Wozu könnten sie führen? Warum beziehen die ukrainischen Regierungsvertreter keine Position zu ihnen? Diese Fragen hat „vgolos“ mit drei internationalen Experten erörtert: den Diplomaten Oleksander Chara und Bohdan Jaremenko, sowie dem Politologen und Leiter des Zentrum für angewandte politische Studien „Penta“ Wolodymyr Fessenko.
Was bedeuten die Protestaktionen in Belarus und Russland?
Bohdan Jaremenko: Das, was in Russland und Belarus geschieht, ist ein weiterer Beweis dafür, dass wie sehr auch immer die Propaganda beider Länder bemüht war, ein Bild der Stabilität und Geordnetheit der derzeitigen Regime zu zeichnen, dass das nicht der Wahrheit entspricht. Beide Länder werden von inneren Widersprüchen zerrissen, entstanden durch das Unvermögen der Regierungen, ökonomische und soziale Reformen einzuführen. Und aufgrund der Verschärfung der sozio-ökonomischen Probleme finden nun diese Proteste und die Entwicklung von Widerstandsbewegungen statt. Das ist eindeutig eine positive Veränderung.
Oleksander Chara: Negativ an den Protesten ist jedoch, dass sie nicht mit prinzipiellen Forderungen an die Regierung auftreten, sondern für irgendwelche kurzlebigen Beschlüsse. Weder in Belarus noch in Russland gab es Forderungen bezüglich eines Regimewechsels. Obwohl genau diese Regime zur Verarmung ihrer Bürger beigetragen haben, zu den Sanktionen. Das zeugt von der bisherigen Unausgereiftheit der Zivilgesellschaft in beiden Ländern. Dort wird lediglich gegen die Erscheinungsformen der Krankheit gekämpft, gegen Korruption und Machtmissbrauch, nicht aber gegen die Ursachen der Erkrankung selbst: in Russland das Regime Putins, in Belarus jenes von Lukaschenko. Negativ ist außerdem, dass alle Protestaktionen in Belarus und Russland wie gehabt nach den Verhaftungen enden werden.
Wolodymyr Fessenko: Ich möchte noch hinzufügen, dass die Logik der Proteste in Russland und Belarus unterschiedlich ist. Sie sollten nicht zusammengefasst werden zu einem einheitlichen Ganzen, auch wenn sie in der Tat gemeinsame Charakterzüge besitzen. Einer davon ist die Furcht Putins und Lukaschenkos vor der Wiederholung einer Revolution der Würde (gemeint ist der gewaltsame Regierungswechsel im Februar 2014 in der Ukraine, A.d.R.) in ihren eigenen Ländern. Deshalb haben sie auch reichlich harte Maßnahmen in Bezug auf die Teilnehmer der Proteste angewandt. Außerdem herrscht in beiden Ländern eine sozial-ökonomische Krise, was ganz eindeutig die Proteststimmung unter der Bevölkerung verstärkt hat.
Damit allerdings enden die Gemeinsamkeiten. In Belarus werden jedes Jahr zur selben Zeit Protestaktionen durchgeführt – am Tag der Freiheit. In Russland fanden ganz andere Aktionen an einem völlig anderen Tag statt. Die Proteste wurden organisiert von Aleksej Nawalnyj, als Vorwand diente sein Enthüllungsfilm über die Korruption des russischen Ministerpräsidenten Medwedew. Eben diesen Vorwand hat Nawalnyj als Teil seiner Strategie genutzt, seinen Namen in Umlauf zu bringen. Ihm ist es gelungen, das für Russland so schmerzliche Thema der Korruption damit zu verknüpfen, weshalb auch so viele Leute auch die Straße gegangen sind.
Was bedeuten diese Ereignisse für die Ukraine?
Oleksander Chara: Die Proteste haben den für die Ukrainer so angenehmen Deckmantel der Stabilität und des Aufblühens in Belarus, wie er jahrelang von den Medien entworfen wurde, vernichtet. Es wurde deutlich, dass es keinen Wohlstand in einem Land geben kann, welches sich in eine autoritäre Richtung bewegt.
Was Russland betrifft, so empörten sich die Menschen hier über den immensen Reichtum des Tandems Putin-Medwedew, da sich ihnen darin die Korrumpiertheit der Staatsspitze zeigt. Das ist eine positive Entwicklung, insofern wir daran sehen können, dass selbst wenn die Zivilgesellschaft, im Vergleich zur Ukraine, in Belarus und Russland klein ist, dass es sie dennoch gibt. Und dass diese Zivilgesellschaft irgendwie versucht, sich den Regimen in ihren Ländern entgegenzustellen.
Einige Experten haben angemerkt, dass die Proteste in Russland stattgefunden haben, um die Aufmerksamkeit von der Quelle des Übels, dem Putin-Regime, abzulenken und das Problem auf den „Bojaren“ Medwedew zu übertragen. Inwiefern können solche Behauptungen als gerechtfertigt betrachtet werden?
Oleksander Chara: Bezüglich der Proteste in Russland wissen wir, dass dort der sogenannte Führer der Opposition, Aleksej Nawalnyj, verhaften worden ist. Ich würde ihn allerdings nicht als großen Oppositionellen bezeichnen, da sich seine Ideologie für die Ukrainer nicht besonders von der Ideologie Putins unterscheidet, insbesondere, da er sogar die Annexion der Krim anerkennt. Er ist faktisch ein chauvinistischer russischer Politiker. Seine letzten Schritte kann man auch so deuten, dass sie dem Kreml in die Hände spielen. Die Proteste am Sonntag könnten auch dafür gut gewesen sein, eine „Nebelkerze“ unter der Opposition zu zünden und deren aktiven und wirklichen Führer zu ermitteln, um hinterher die Anti-Putin-Stimmung zu ersticken.
Die große Mehrheit der Leute jedenfalls ging nicht deshalb auf die Straßen der russischen Städte, weil sie Nawalnyj als ihren Führer betrachten, sondern weil sie die Regierung satt haben. „Dimon“ und seine Reichtümer waren dabei, meiner Meinung nach, lediglich der formale Auslöser der Proteste.
Werden die Proteste in Russland und Belarus zu etwas ernsthaftem anwachsen?
*Oleksander Chara: *Ich bezweifle das mehr daraus wird, da es in diesen Ländern keine solche Tradition gibt. Natürlich gibt es einige Enthusiasten, die die Gefahr des Regimes verstehen und sich ihm entgegenstellen können. Allerdings denke ich nicht, dass sie bereit sind zu einem derart heftigen Widerstand, wie er auf dem Maidan stattgefunden hat. Obwohl es wahrscheinlich ist, dass wenn die Belarussen und die Russen gegen ihre Regierungen vorgehen sollten, es dort aufgrund der Härte der Regime weitaus blutigeren Widerstand geben könnte als in der Ukraine. Jedoch haben wir gesehen, dass die Regierungen in Russland und Belarus gut vorbereitet sind: Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden und Polizeitechnik waren sehr zahlreich präsent. Ihre Anzahl wurde sogar verglichen mit jener der Militärparaden am 9. Mai. Wenn diese Paraden den Feind abschrecken sollen, so sollte die Polizeitechnik auf den russischen und belarussischen Straßen die eigenen denkenden Bürger abschrecken, ihnen zeigen, dass sie lieber schweigen und nach Hause gehen sollten. Was die Gespaltenheit der Opposition in beiden Ländern betrifft: weder in Russland noch in Belarus gibt es einen einzelnen Führer, der zu radikaleren Aktionen aufrufen könnte. Deshalb denke ich, mit den stattgefundenen Protesten könnte alles auch wieder enden.
Wolodymyr Fessenko: Ich würde mich ebenfalls nicht damit beeilen eine Schlussfolgerung über einen möglichen Maidan in Russland oder Belarus zu ziehen. In nächster Zeit wird so etwas nicht passieren. Es gibt dort eine andere politische Kultur, andere Geheimdienste, andere politische Regime. Aus diesem Grund wird sich die Situation auch anders entwickeln, als es in der Ukraine der Fall war. Die Ereignisse in Moskau habe ich in Live-Übertragung verfolgt, dort gab es mehr OMON als Protestierende. Deshalb erwarte ich nicht, dass es zu massenhaften Unruhen kommen wird.
Dennoch ist das, was dort geschehen ist, ein Anzeichen gewachsener politischer Spannungen und ein Anzeichen dafür, dass diese sich auch noch weiter verschärfen werden.
Bohdan Jaremenko: Meiner Ansicht nach sind die Ereignisse allerdings ein Zeichen dafür, dass ein gewaltsamer Machtwechsel in Belarus und Russland stattfinden wird. Wenn auch nicht heute, so doch mit der Zeit. Beide Regime demonstrieren, dass sie die Situation nur mithilfe der Sicherheitskräfte unter Kontrolle zu halten fähig sind. Wenn man berücksichtigt, dass die Proteste die ökonomischen Probleme widerspiegeln, dann bleibt abzuwarten, wie lange Russland und Belarus ihre Systeme der Sicherheitskräfte werden aufrechterhalten können. Denn wenn ihnen das Geld ausgeht, dann kommt für beide Regime, Putins und Lukaschenkos, das Ende.
Die Regierungen der europäischen Länder haben angesichts der massenhaften Verhaftungen in Russland und Belarus wie gewohnt ihre „Besorgnis zum Ausdruck gebracht“, unter anderem auch das benachbarte Polen. Unsere Regierung hingegen, die die Ukraine infolge des Sieges der Revolution der Würde regiert, hat bisher geschwiegen. Warum?
Oleksander Chara: Tatsächlich kann man sie als Postmaidan-Regierung betrachten, allerdings unterscheidet sie sich ihrem Wesen nach kaum von jenen in Belarus oder Russland. Auch die Angehörigen unserer Regierung sind „Kinder“ der postsowjetischen Zeit. Geld und Einfluss sind für sie wichtiger als Ideen und Würde, also genau das, wofür der Maidan stand. Das ist einer der Gründe. Ein anderer Aspekt ist, wenn wir über Belarus sprechen, dass unsere Regierung, allen voran der Präsident, darum bemüht ist, Belarus als einen guten Nachbarn der Ukraine darzustellen. Dass von ihm keine Gefahr für unser Land ausgeht. Jedoch lohnt es sich zu bedenken, dass Belarus und Russland in einem militärischen Bündnis vereint sind, dass sie zusammen militärische Übungen durchführen, was durchaus eine Gefahr für die Ukraine darstellt. Trotzdem versucht unsere Regierung gute Beziehungen zu Belarus zu bescheinigen, jedoch nicht der nationalen Sicherheit der Ukraine wegen, sondern aufgrund bestimmter gemeinsamer Interessen.
Es lohnt sich nicht mit einer Illusion zu leben: ein Diktator, der den Geschmack von Blut gekostet hat, wird nicht innehalten. Ich möchte daran erinnern, dass während der Regierungszeit Lukaschenkos in Belarus immer wieder Oppositionelle verschwunden sind, die in der Folge tot aufgefunden wurden. Es gibt den Verdacht, dass der belarussische Präsident hier seine Hände im Spiel hatte.
Bohdan Jaremenko: Es ist absolut offensichtlich, dass die ukrainische Regierung, die nach der Revolution der Würde an die Macht kam, deren Ergebnisse banalisiert. Dabei teilt sie nicht einmal die Ideale des Maidan. Deshalb schweigt die ukrainische Regierung feige, in bester Tradition Janukowytschs, wenn sich in unseren Nachbarländern wichtige Dinge ereignen. Das hängt auch damit zusammen, dass die ukrainische Regierung innenpolitisch einen Kurs eingeschlagen hat, bei dem jeder aus dem Weg geräumt wird, der potenziell nicht mir ihrer Position übereinstimmt. Aus diesem Grund hat meiner Ansicht nach die Tatsache, dass die Regierung das Verhalten der totalitären Regime in Russland und Belarus nicht verurteilt, nichts merkwürdiges an sich.
27. März 2017 // Marija Bojko
Quelle: vgolos.com.ua