In den psychiatrischen Kliniken herrscht Hunger
Seit 1970 arbeite ich in der Psychiatrie. Überall, sogar in der „Vorzeigeklinik“ in Winnyzja mussten sich damals jeweils zwei Patienten ein gewöhnliches Bett teilen. Ja genau: in jedem Bett lagen oder saßen über längere Zeit hinweg zwei Leute nebeneinander, die vorher nicht miteinander bekannt waren; jeder mit seinem individuellen Problem – Wahn, Halluzinationen etc. Das war kein Anblick für Nervenschwache. Nichtsdestotrotz wurden die Patienten in den stationären Einrichtungen gut mit Essen versorgt, die Bettwäsche wurde regelmäßig gewechselt und vor allem gab es zeitgemäße Medikamente. In dem dicht von der zivilisierten Welt abgeschlossenen Land wurde sogar in den Provinzkrankenhäusern mit recht effektiven Neuroleptika und Antidepressiva behandelt.
Heute ist die Situation in den psychiatrischen Krankenhäusern der Ukraine, die regelmäßig von Journalisten und allen möglichen Bürgerrechtlern besucht werden, schlechter. Es herrscht Hunger und mancherorts werden die Patienten für lediglich 2-3 Hrywnja am Tag mit Nahrung versorgt. Zudem gibt es ein großes Problem mit Medikamenten, sogar mit günstigen und wenig wirksamen. All dies ist allgemein bekannt und sogar ausländische Gönner, die verstehen in was für einer schwierigen Lage sich ein Land im Kriegszustand befindet, versuchen, den Patienten in den ukrainischen psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen zu helfen.
Relativ oft erhalte ich Anfragen, oder es rufen Leute an, die fragen: „Wie kann man helfen?“ In der Regel antworte ich: „Die beste Hilfe ist Druck auf den Präsidenten der Ukraine. Wirken Sie mit allen ihnen verfügbaren Mitteln, auf direktem Wege oder über ihre Politiker auf Herrn Poroschenko ein. Helfen Sie uns. Zwingen Sie unseren Präsidenten, sich mit dem großen Problem zu befassen, dass es im Land ein archaisches, kostspieliges und wenig effektives System der psychiatrischen Hilfeleistung gibt. Niemand ist in der Lage, eine solche „Kasematten“-Psychiatrie in der Ukraine zu bezahlen, weder der ukrainische Steuerzahler, noch Sie, die Sie mit uns mitfühlen…“
Mit Wehmut und Entsetzen beobachte ich, wie als Ergebnis unserer Revolution der Würde aus undenkbaren Ecken Duzende offenkundige Nichtsnutze und Schufte hervorgekrochen und an die Macht gekommen sind. Wovon ich früher in klugen Büchern las, habe ich nun persönlich gesehen. Gerade jetzt, nach dem ruhmreichen und gleichzeitig todbringenden Majdan, habe ich verstanden: Der Kampf gegen die Korruption hat keinen Sinn, wenn sich die Kaderpolitik im Lande nicht ändert. Es ist sinnlos, korrupte Amtsinhaber ins Gefängnis zu bringen, wenn ihre Positionen mit dummen und inkompetenten Pseudospezialisten besetzt werden. Vor kurzem habe ich ein von unserem Gesundheitsminister Aleksander Kwitaschwili unterschriebenes Dokument gesehen, das von so einem Professor erstellt wurde. Leider hatte ich diesmal Mitleid mit meinem Land und habe dieses Beispiel für mittelalterliche Logik nicht ins Englische übersetzt und nicht zur Rezension in die psychiatrischen Vereinigungen zivilisierter Länder geschickt. Hätte ich das getan, wäre die Schande groß und ein Skandal unausweichlich gewesen.
Der Hunger in den psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen ist ein Resultat der Abwesenheit einer Sozialpolitik in der Ukraine. Das nicht reformierte, nicht optimierte soziale System – zu sowjetischen Zeiten hat es Milliarden Petrodollar aus dem Budget gepumpt – war eines der Gründe für das Scheitern der imperialen sowjetischen Wirtschaft.
Wir, die unabhängige Ukraine, haben dieses soziale Laster geerbt und pflegen es durch die Inkompetenz und Trägheit unserer Behörden. Wir, die wir nicht einen Petrodollar besitzen.
Ständig stelle ich mir diese so gar nicht rhetorische Frage: wer ist für mich gefährlicher – ein habgieriger und korrupter Politiker oder ein selbstbewusster Dummkopf? Eine schwierige Frage, die ich für mich noch nicht gelöst habe. Es mag sein, dass es sich auch gar nicht lohnt, das „Grundübel“ zu ermitteln. Doch ich schlage das folgende vor, und es ist durchaus umsetzbar: die Schaffung einer speziellen polizeilichen Unterabteilung, eines Büros, das die Funktion hat, Scharlatane und Dummköpfe, die das Leben des Landes bestimmen, aufzuspüren und zu beseitigen. Stellen sie sich vor, es öffnet sich die Tür zum Sitzungssaal, in dem das Ministerkabinett tagt. Es treten Polizisten ein und hängen dem einen oder anderen Minister ein Schild mit der Aufschrift „Professionell inkompetent“ um den Hals. Keinerlei Handschellen, kein Abführen zur Vernehmung. Soll er doch sitzen, der Gute – doch mit dem Schild um den Hals. So etwas hat unser Fernsehen noch nicht gezeigt.
In Analogie zum nach wie vor nicht existierenden Antikorruptionsbüro kann man diese spezielle Struktur Anti-Scharlatanerie-Büro nennen. Auch Varianten sind denkbar.
3. April 2015 // Semjon Glusman – Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Dienstes für Strafvollzug der Ukraine
Quelle: Lewyj Bereg