„Rote Zone“: Reportage aus dem Infektionskrankenhaus in Tscherniwzi (Czernowitz)


Durch die Holztür eines zweistöckigen Gebäudes tragen sechs Frauen einen Mann auf einem dicken orangefarbenen Laken. Fünf von ihnen sind Krankenhausangestellte, die sechste ist seine Frau. Gelegentlich rutschen den Frauen drei Sauerstoffkissen aus den Händen. Der Mann hält mit der linken Hand eine Sauerstoffmaske und stöhnt laut – er ist am Ersticken. Nach wenigen Sekunden wird er auf einen Rollstuhl gesetzt, der drei Meter von der Tür entfernt steht. Er kann nicht näher hingestellt werden, da das Gebäude renoviert wird. Der Lärm des Betonmischers und das Rauschen des Wassers, das die metallene Schubkarre füllt, können das Stöhnen des Mannes nicht übertönen. Die Frauen schieben den Rollstuhl über ein kleines Stück grauen Schutt, auf dem der Mann durchgeschüttelt wird, und rollen schließlich auf dem Asphalt. Weiter auf die Intensivstation. Sie liegt eine Minute entfernt von der Infektionsabteilung des Gebietskrankenhauses von Tscherniwzi [Czernowitz]. Hier kämpfen sie den achten Monat gegen ein Monster namens Coronavirus. Manchmal verlieren sie jedoch gegen es. Eine Reportage der Ukrajinska Prawda.

Acht Monate zuvor

Am 2. März, als SARS-CoV-2 oder Covid-19 die Abkürzungen in der Rubrik Weltnachrichten und hauptsächlich für China und Italien waren, wurde das Czernowitzer Gebiets-Krankenhaus beauftragt, „den Mars zu kolonisieren“ – sie sollten den ersten Coronavirus-Patienten in der Ukraine heilen.

Dies musste ohne ein einziges Behandlungsprotokoll des Gesundheitsministeriums, Erfahrung und Medikamente erfolgen, die mehr als nur die Symptome beseitigen konnten.

Das Czernowitzer Gebietskrankenhaus bewältigte daraufhin die „Kolonisierung des Mars“.

Der 39-jährige Olexander, der Ende Februar mit seiner Frau in die Lombardei gereist war, erholte sich 20 Tage nach seinem Krankenhausaufenthalt.

Jetzt erinnert das blaue Schild des Nationalen Registers der Rekorde der Ukraine, das im Büro des Chefarztes Serhij Zyntar steht, an seinen Aufenthalt im Krankenhaus.

Zyntar kam für Sluha Narodu [Diener des Volkes; das ist die Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj, A.d.R.] in den Gebietsrat von Czernowitz. Er nennt die Kandidatur eher eine Notwendigkeit, als seinen eigenen Wunsch – sozusagen müsse er Geld für das Krankenhaus herausschlagen. Er fügt kurz hinzu, dass in diesem Jahr etwa ein Drittel der Ärzte der Einrichtung bei den Kommunalwahlen kandidiert hat.

Krankenhäuser haben es nötig, dass Geld „herausgeschlagen“ wird. In der Abteilung für Infektionskrankheiten, einer der beiden Abteilungen, in denen Patienten mit Covid-19 behandelt werden, gibt es beispielsweise keine Dusche oder Aufenthaltsräume für Ärzte.

„Ich schäme mich, wenn Patienten fragen – warum haben Sie kein heißes Wasser?“, wird uns später Walentyna Mindrescu, die Leiterin der Abteilung für Infektionskrankheiten, mitteilen. „Unsere Bedingungen, unser Badezimmer sind eine Schande.“

Das Czernowitzer-Krankenhaus unterscheidet sich von den typischen regionalen Krankenhäusern in grauen sowjetischen „Kisten“.

Es ist eine riesige medizinische Einrichtung, die 1886 im Auftrag des österreichisch-ungarischen Kaisers Franz Joseph erbaut wurde. Während des Ersten Weltkriegs, 1916, arbeitete der zukünftige russische Klassiker Michail Bulgakow hier als Chirurg.

Am 1. Oktober wurde das Krankenhaus 134 Jahre alt. Und dieses Jahr ist eines der schwierigsten in seiner Geschichte, zumindest für die Abteilung für Infektionskrankheiten.

Ungeschützte Ärzte

„Wo werdet Ihr Euch umziehen?“, fragt uns Natalija Kostina, Spezialistin für Infektionskrankheiten, mit zwei verpackten Schutzanzügen.

Die Anzüge sind eine Kleiderordnung für „Fremde“, die in die Abteilung gehen wollen. Sie selbst trägt einen schlichten weißen Kittel über Knie und Hose. Im Gesicht eine Atemschutzmaske.

Wir gehen die schwach beleuchtete Treppe hinunter zu einem kleinen Keller, wo Krankenhausbettwäsche begleitet vom „Russischen Radio“ gewaschen und ausbessert wird.

Natalija hat wie die meisten ihrer Kollegen bereits Covid-19 durchgemacht – sie hatte sich Ende April mit dem Virus infiziert.

„Wir haben damals so hart gearbeitet, dass ein Weg aus diesem Irrenhaus nur zum Krankenhausbett führte – um uns auszuruhen. Aber einige unserer Mädchen wurden sehr krank, andere wurden entlassen, weil sie nach dieser Krankheit einfach nicht mehr arbeiten konnten.“

Natalija erzählt, dass der Beginn der Epidemie von Ärzten der örtlichen Abteilung für Infektionskrankheiten in grünen Seuchen-Anzügen bewältigt wurde und es einfacher war, in ihnen zu arbeiten als heute. Nach denen gegen Seuchen gab es Kittel, die auf dem Rücken gebunden wurden, gummierte Anzüge und schließlich die aktuellen – etwas zwischen Stoff und Polyethylen.

„Dies ist ein Anzug von Herrn Achmetow“, sagt Natalija und schneidet die Verpackung auf. Zu Beginn der Epidemie gab Achmetow mindestens 300 Millionen Hrywnja [circa neun Millionen Euro, A.d.R.] aus, um das Coronavirus in der Ukraine zu bekämpfen. [Der Milliardär Rinat Achmetow ist der reichste Ukrainer. A.d.R.]

„Und wie ist es, sind es gute Anzüge von Herrn Achmetow?

„Sie werden es gleich selbst sehen. Eines kann ich sagen, dass es in ihnen im Winter nicht kalt wird.“

„Wir fügen hinzu: auch im Herbst.

Natalija hilft uns, die riesigen weißen Kittel blitzartig anzuziehen – sie rascheln so, als wärst du acht Jahre alt und packst die BMW-Tüten [Im postsowjetischen Raum waren und teilweise sind bis heute Plastiktüten mit aufgedruckten Markennamen populär, A.d.R.] aus, die deine Mutter gerade vom örtlichen Markt mitgebracht hat.

Als nächstes kommen ein blaues Mützchen, unter dem man seine Haare verstecken muss, eine Atemschutzmaske, unter der man ziemlich leicht atmen kann, ein Schutzschirm, der um den Hinterkopf gebunden ist, und weiße Gummihandschuhe. Alles zusammen dauert 15 Minuten.

„Die Kapuze kommt noch nach innen“, sagt Natalija, „aber dann wirst du nichts sehen können. Es wird herunterrutschen.“

Und sie hat recht. In wenigen Sekunden fällt der Korrespondentin der Ukrajinska Prawda mindestens dreimal die zusätzliche Haube auf die Augen, und wir entscheiden, dass wir darauf verzichten können.

Im Wechsel mit Pop ertönt im „Russischen Radio“ politische Agitation mit den Worten: „Das sind Leute, die wissen, wie man Probleme löst.“

In diesem Augenblick ist unser größtes Problem der transparente Gesichtsschutz, auf dem ständig Kondenswasser auftritt. Als „Scheibenwischer“ kann nur die eigene Hand dienen, wenn sie frei ist und zwischen Schutzschirm und Atemschutzmaske geschoben werden kann.

Die Ärzte haben jedoch einen kleinen Life-Hack – das Visier kann mit einem Stück trockener Seife eingerieben werden, wonach die Wassertropfen ohne „Treibhauseffekt“ nach unten fließen. Bei uns funktioniert dieser Life-Hack nicht.

„Wie lange kann ein Arzt in einem solchen Schutzanzug gehen?“, fragen wir Natalija.

„Vier Stunden.“

Und wie lange dauert die Schicht?“

„24 Stunden.“

Fast keiner der Ärzte auf der Station, auf der Patienten mit Covid behandelt werden, trägt Schutzkleidung. Es gibt zwei Argumente – wir haben die Krankheit bereits durch, die Anzüge schützen nicht.

„Wir haben sie im Februar, März, April getragen und was hat es uns gebracht?“, sagt die Leiterin der Abteilung für Infektionskrankheiten Walentyna Mindrescu. „Wir sind dennoch krank geworden. Ebenso alle unsere Kollegen, die Assistenzärzte und die Nachwuchskräfte.“

Fünf Liter Sauerstoff pro Minute

„Kranke werden nicht fotografiert“, bedeutet uns Natalija Kostina, als wir in den ersten Stock der Abteilung für Infektionskrankheiten gehen, wo Patienten mit Coronavirus behandelt werden.

Die Patienten wechseln sich ab und verlassen ihre Stationen zum Mittagessen in den Korridor, der von großen Metalltöpfen auf dem Kühlschrank übersät ist. Das Mittagessen ist für sie kostenlos. Von Verwandten mitgebrachte Lebensmittel können unter Angabe des Datums und ihres Nachnamens im Kühlschrank aufbewahrt werden.

Die Abteilung für Infektionskrankheiten des Gebietskrankenhauses Czernowitz verfügt über 60 Betten auf zwei Etagen des Krankenhauses und 82 medizinische Mitarbeiter.

Der wichtigste Raum ist das Zimmer für Intensivbehandlung. Dies ist der einzige Ort mit direktem Zugang zu dem Notwendigsten während der Covid-19-Epidemie – Sauerstoff. Und hier fehlt er.

„Dies ist unser Luftbefeuchter, ein Nachbau“, Natalija zeigt auf eine Plastikflasche Morschynska [eine bekannte ukrainische Mineralwassermarke, A.d.Ü.], zu der am Tropf Sauerstoff „herabsinkt“.

Nach der Befeuchtung gelangt es durch einen hellgrünen Schlauch zu der Maske, die am Gesicht des Patienten und entsprechend an seinen Atemwegen angebracht ist.

Es können nur vier Patienten gleichzeitig an Sauerstoff angeschlossen werden.

Jetzt arbeiten sie jedoch an einem neuen Verteiler.

Im Zimmer für Intensivbehandlung sind drei Personen – zwei Männer und eine Frau, alle sind dem Aussehen nach über 45 Jahre alt.

Der vierte war ein Mann, der am Morgen auf die Intensivstation gebracht wurde.

„Wir legen es Ihnen einfach ans Händchen“, – sagt Natalija zu der Patientin im Zimmer für Intensivbehandlung und schließt ein Pulsoximeter an – ein Gerät zur Messung von Blutsauerstoff und Herzfrequenz. Sie legt es auf einen Stuhl neben dem Bett des Patienten – zwischen Medizin, Toilettenpapier und geriebener Rote Beete mit Brot zu Mittag.

„Gib ihr noch ein kleines Kissen“, bittet sie die Krankenschwester.

Ein Tischchen neben dem Krankenhausbett im Zimmer für Intensivbehandlung. In der Mitte ein gerade angeschlossenes Pulsoximeter

Das [Finger-]Pulsoximeter zeigt nach einigen Sekunden den Sauerstoffgehalt im Blut an – Sättigung – 86.

„86 – ist das nicht genug?“, fragen wir bei Natalija nach, als wir das Krankenzimmer verlassen.

„Das ist sehr wenig. Jetzt ‚atmet‘ sie durch.“

Der direkte Anschluss an Sauerstoff ist die zweite Stufe der Versorgung eines Patienten mit Atemproblemen. Der erste ist ein Sauerstoffkonzentrator, an den ein Patient mit einer leichten Abnahme der Sättigung angeschlossen ist.

Die dritte sind Sauerstoffmasken und Beatmungsgeräte [Überdruckbeatmung]. An sie wird nur in kritischen Fällen angeschlossen – auf der Intensivstation.

Seit Ende März hat das Krankenhaus eine zweite Abteilung für Covid-Patienten – die Pulmonologie. Sie wurde neu gestaltet. Es gibt 45 Betten, die derzeit alle belegt sind.

Wir haben Sauerstoff, einen Verteiler, zehn Konzentratoren“, sagt die Leiterin Switlana Kowalenko. „Jetzt kommen oft Patienten mit ihren Konzentratoren, weil sie solche Geräte sind, eher für den Heimgebrauch – für die Low-Flow-Sauerstofftherapie. Wenn der Patient eine solche Möglichkeit hat, empfehlen wir daher den Kauf von Konzentratoren.“

„Obwohl sie leider nicht billig sind – tausend Dollar plus-minus.“

Eine Person benötigt durchschnittlich fünf Liter Sauerstoff pro Minute, sagt Switlana. Das sind 300 Liter pro Stunde und mehr als 7.000 Liter pro Tag.

Kristina Awramenko ist eine der Krankenschwestern, die in der Abteilung für Infektionskrankheiten arbeitet. Sie kam vor einem halben Jahr mitten in der Epidemie in die Abteilung und wurde sofort krank.

„Ich hatte kein positives Testergebnis, aber die Lungenentzündung war beidseitig“, teilt das Mädchen mit, während sie Medikamente sortiert.

„Haben Sie nicht daran gedacht, zu kündigen, nachdem Sie krank geworden sind?“

„Nein, nein, ich mag diese Arbeit. Ich wollte hier arbeiten.“

Ein Patient mittlerer Schwere verbringt in der Infektionsabteilung des Krankenhauses Czernowitz mindestens zwei Wochen. „Leichte“ Coronavirus-Patienten werden in der Ukraine nicht ins Krankenhaus eingeliefert.

„Bei mir war das höchste 50 Tage“, erzählt Natalija am „Arzt“-Tisch am Eingang der Abteilung. „Ein komplette Schädigung der Lunge. Die Patientin verbrachte einen Monat auf der Intensivstation und dann weitere 20 Tage bei uns. Aber sie ging auf eigenen Füßen nach Hause!“

Die Hauptperson in der Abteilung ist Walentyna Mindrescu. Sie kam 1997 unmittelbar nach Beendigung des medizinischen Instituts in das Gebietskrankenhaus Czernowitz. Hier absolvierte sie ein Aufbaustudium und „wuchs“ bis 2009 zur Leiterin der Infektionsabteilung heran.

Das Coronavirus bezeichnet sie als die größte Herausforderung in den elf Jahren ihrer Arbeit.

„Als der erste Patient zu uns kam, hatten wir nur zehn Schutzanzüge“, – erzählt Walentyna.

Dazu wurden Freiwillige aktiv, nicht gleichgültige Menschen und erst dann – der Staat.

Jetzt erzählen die Ärzte des Krankenhauses Czernowitz offen, dass sie sowohl Schutzausrüstungen als auch Lohnzuschläge haben. Und abseits der Aufnahme fügen sie hinzu, dass man das Krankenhaus während des Wahlkampfes mit Medikamenten „zugeschüttet“ hat.

Walentyna hat wie ihre Mitarbeiter Covid-19 überstanden. Und sie war nicht die einzige Patientin in ihrer Familie – ihr Mann und ihre Tochter haben die Krankheit durchgemacht, aber sie wurden alle zu unterschiedlichen Zeiten krank.

… Der Mann, der morgens von sechs Frauen auf einem orangefarbenen Laken getragen wurde, ist übrigens Dozent an einer hiesigen Universität, mit ihm arbeitet ihre Tochter als Doktorandin zusammen.

Die Covid-Welt ist klein.

28. Oktober 2020 // Olha Kyrylenko

Quelle: Ukrajinska Prawda

[Czernowitz erlebte im Frühjahr 2020 die größte Welle von Corona-Infektionen in der Ukraine. Das russische Engagement in der Region – hier deutlich durch das Hören von „Russkoje Radio“ – hat vielfältige Wurzeln: Einerseits „einte“ und überdeckte die russische Sprache und Kultur nach dem 2. Weltkrieg die unterschiedlichen nationalen, politischen und politischen Prägungen, andererseits fühlt sich die Bukowina ähnlich wie auch die Karpatoukraine im Westen des Landes partiell von der jetzigen zentralen Regierung immer wieder im Stich gelassen, was nostalgische und Macho-Gefühle weckt. Anm. d. Übers.]

Übersetzer:    — Wörter: 1998

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