Rote Zone
In diesem Jahr erwies sich der 1. Mai als komplett von den orthodoxen Ostern überdeckt. Und das kann diejenigen von uns, für die das merkwürdige von der UdSSR geerbte Fest der Arbeit unangenehm ist, nur erfreuen.
Sogar nachdem er seinen ideologischen Ballast verloren hat und zu einem gewöhnlichen arbeitsfreien Feiertag verkam, erscheint der 1. Mai als ein unpassendes Rudiment, das weggeworfen werden sollte – gleich den Lenin-Denkmälern, der verbotenen Kommunistischen Partei, den blutroten Bannern, Sicheln, Hämmern und anderen Erinnerungen an den langjährigen Aufenthalt der Ukraine in der roten Zone.
Diese Seite der Inlandsgeschichte wird entschlossen, beharrlich und demonstrativ umgeblättert.
Die vom Klassenkampf geprägten Episoden unserer Vergangenheit unterliegen offiziell einem Kirchenbann. Das Eintreffen des Kommunismus in der Ukraine wird ausschließlich als Folge der Moskauer Besetzung gesehen – ohne irgendwelche inneren Voraussetzungen.
Als aufrührerisch erscheint jede Anmerkung darüber, dass in den Jahren 1917-1921 die Aufgabe des Kremls durch sozialen Hass erleichtert wurde und dass die bolschewistischen Losungen einen nicht kleinen Teil der ukrainischen Bevölkerung anziehen konnten.
Und bereits um so mehr unzumutbar ist es von Klassenhass zu stammeln, der in der Lage ist tausende ethnischer Ukrainer in gewöhnliche Beteiligte der Kollektivierung, des Kampfes gegen die Großbauern und des Stalin’schen Holodomors zu verwandeln.
Die Wortverbindung „bürgerlicher Nationalist“, die einst von der sowjetischen Propaganda erfunden wurde, wärmt die Seele unseres Zeitgenossen, nährt Gedanken an Wohlstand und Respektabilität, hilft sich von den schmutzigen Moskauer Lumpen abzugrenzen.
Dagegen ruft der Termin „National-Kommunist“ fraglose Ablehnung hervor. Der Zarenadjutant Skoropadski stellt einen weitaus größeren Ukrainer dar, als Revolutionäre wie Schumski [Alexander Schumski bzw. Olexander Schumskyj, aus dem Gebiet Schytomyr stammender Sozialrevolutionär] oder Petrowski [Grigori Petrowski oder Hryhoryj Petrowskyj, aus dem Gebiet Charkiw stammender Bolschewik].
Die sozialistische Rhetorik der Ukrainischen Volksrepublik wird verschämt in den Hintergrund verschoben. Und die Beteiligung von Lesja Ukrainka [Lesja Ukrajinka] an der Übersetzung des Manifests der Kommunistischen Partei in die Muttersprache komplett zurückgewiesen.
Mit einem Wort, die neue Geschichtsmythologie impliziert, dass ein Ukrainer im XX. Jahrhundert lediglich ein Opfer der kommunistischen Experimente gewesen sein konnte, doch nicht ihr freiwilliger Mitwirkender. Das ukrainische Bewusstsein wird per Definition mit der nationalen Agenda verbunden, doch überhaupt nicht mit der der Klasse.
Leider Gottes stimmt der durchzusetzende Mythos zu offen nicht mit der Realität überein, die wir mit eigenen Augen sehen.
Mit der Realität, wo die sozialen Widersprüche und der Klassenhass eine riesige Rolle im Leben der derzeitigen Ukraine und ihrer Bürger spielen. Einschließlich auch des Teiles unserer Gesellschaft, der schwerlich der Nostalgie nach der UdSSR und der Missachtung der nationalen Werte verdächtigt werden kann.
Der Kontrast zwischen den wohlversorgten Oben und den elenden Unten belegt einen zentralen Platz in den einheimischen Köpfen und Seelen. Die Oligarchen sind die Haupt-Antihelden unserer Zeit. Der „Schieber“ ist das beleidigendste Attribut für den unpopulären Ex-Präsidenten. [Micheil Saakaschwili bezeichnete einst Petro Poroschenko als Schieber/Hehler.]
Ukrainischer Luxus wird als Ergebnis von Diebstahl und Betrug gesehen. Ukrainische Armut als Folge der ungerechten Verteilung der nationalen Reichtümer.
Privatisierung wird als Beraubung des Volkes angesehen. Der Bodenmarkt als Ausverkauf unserer Güter. Fremder Erfolg wird Apriori als auf Kosten eines anderen angesehen. Die eigenen ärmlichen Verhältnisse als Unmöglichkeit das einem von Rechts wegen Zustehende zu erhalten.
Mit einem derartigen Ansatz wird praktisch jede Erscheinung des ukrainischen Lebens hervorgehoben. Sogar die Covid-19-Pandemie wird von vielen unserer Mitbürger nicht aus medizinischer, sondern ausschließlich aus Klassensicht betrachtet.
Eine Vielzahl der Ukrainer war von Anfang an überzeugt, dass die neue Infektion mit dem Ziel der Bereicherung beim Maskenverkauf und der Impfstoffproduktion erdacht wurde.
Und die bourgeoisen Weljur/Velours [Luxusrestaurant in Kiew, das auch während des ersten Lockdowns geöffnet hatte] und Epizentr [Baumarktkette, die für ihre Umgehung der Lockdownregeln berüchtigt wurde.] wurden zum moralischen Freibrief für alle, die sich nicht mit irgendwelchen antiepidemiologischen Einschränkungen belasten wollten.
Von der Sache her ist das eine leicht überformte Logik des Jahres 1917, wobei sich am Krieg die fett werdenden Schufte in der Etappe bereichern und der gesamte Krieg ist kompletter Betrug und mit dem Gegner braucht man nicht zu kämpfen …
Der demonstrative Bruch der Ukraine mit der kommunistischen Vergangenheit führt hauptsächlich dazu, dass Klassenhass und Klassenkampf nicht mehr mit den alten Namen benannt werden.
Emotional dem Anhänger der roten Flaggen aus der Vergangenheit nahe stehend, verbrämt der moderne Ukrainer seine Gefühle mit einer anderen verbalen Form.
So wurde die Antikorruptions-Agenda zum idealen Ersatz für das Kapital und das Kommunistische Manifest im XXI. Jahrhundert.
Der Kampf mit der Korruption beherbergt faktisch in unserem Land den altmodischen Klassenprotest, diesen äußerlich veredelnd.
Öffentlich über Reiche herfallen ist unanständig; das verlinkt auf die sowjetische Epoche und riecht nach moralischem Verfall. Doch sich auf korrupte Reiche stürzen ist eine würdige und progressive europäische Praxis.
Die Enttarnung von sich vollfressenden Kapitalisten, die sich auf Kosten des werktätigen Volkes bereichern, ruft unangenehme historische Assoziationen hervor. Doch die Aufdeckung des sich vollfressenden Korrupten, der sich auf Kosten der Gesellschaft bereichert, wirkt komplett modern und ruft keine unbequemen Parallelen hervor.
Wenn der liberale Korruptionsbekämpfer von Demonopolisierung und transparenten Spielregeln träumt, dann bedeutet für den gewöhnlichen Bürger der „Kampf gegen die Korruption“ Arreste und Entkulakisierung der verhassten Geldsäcke mit ihren Villen, Devisenhaufen und Luxusautos.
Hinter dem Protest gegen die Unehrlichkeit verbirgt sich sehr oft der Protest gegen die Ungleichheit und bei uns gibt es praktisch keine Möglichkeiten das eine vom anderen zu unterscheiden: in der Ukraine ist die Grenze zwischen der gesetzwidrigen Bereicherung und der Bereicherung überhaupt sehr dünn.
Genauer gab es diese Möglichkeit nicht bis zum Jahr 2019 als das nicht lange, doch lehrreiche Experiment unter der Bezeichnung „Kabinett Gontscharuk“ gestartet wurde. [Gemeint ist die Regierung unter Ministerpräsident Olexij Hotscharuk/Alexej Gontscharuk vom 29. August 2019 – 4. März 2020]
Man kann lange über die Professionalität der Jungreformatorenminister reden, doch Gontscharuk und Co. wurden nicht mit Schmiergeld, prozentualen Beteiligungen an Staatsaufträgen, Budgetdiebstahl und anderen schändlichen Handlungen erwischt.
Leider Gottes war das der erste derartige Präzedenzfall in der gesamten Geschichte der ukrainischen Unabhängigkeit. Und, die langjährigen Klagen über Korruption in den oberen Schichten berücksichtigend, hätte man eine besondere Gunst des Volkes zur damaligen Regierung erwarten können.
Aber das ist nicht passiert! Das Vertrauen gegenüber dem jungen Regierungschef und seinen Kollegen verflog sehr schnell. Wobei der tödliche Schlag gegen das Kabinett der Skandal um die Ministergehälter wurde – aus der Sicht des kleinen Ukrainers waren das übermäßig hohe.
Die Worte von Frau Nowossad [damalige Bildungsministerin Hanna Nowossad] darüber, dass ihr ein Gehalt von anderthalb Tausend Dollar nicht reiche, wurden zu einer nicht geringeren Ohrfeige für die gesellschaftliche Meinung, wie die Villa von irgendeinem Oligarchen an der Cote d’Azur.
Korruptionsvorwürfe vermeidend, erschienen die Jungreformatoren dennoch in den Augen der Bevölkerung als klassenfeindliche Elemente.
Es stellte sich heraus, dass die ukrainischen Oberen auch nicht stehlen können, doch im Ergebnis hören die ukrainischen Unteren nicht damit auf, sich übergangen zu fühlen.
Ungleichheit erregt das arme Land weitaus stärker als Schweinereien.
Es ist sehr verführerisch sich des Klassenkampfes zu entledigen, indem man einfach aufhört, über ihn zu reden. Es ist sehr bequem so zu tun, als ob wir gemeinsam mit der kommunistischen Symbolik auch ihre Binneninhalte wegwerfen.
Es ist sehr leicht vorzugeben, als ob die bolschewistischen Träume an das Imperium gebunden sind, doch der ukrainische Nationalcharakter frei von irgendetwas derartigem ist.
Doch die reale Geisteshaltung von Millionen unserer Mitbürger wird dennoch an die Oberfläche durchbrechen – in der einen oder anderen Form.
Und der Austritt der Ukraine aus der roten Ideenzone erscheint eine äußerst ferne Aussicht zu sein.
1. Mai 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda