Von Russifizierung zur Armut
Die Aufdrängung der russischen Sprache ist nur ein Aspekt des Exports russischer Lebensart in die Ukraine.
Russifizierung ist ein wohlbekannter Begriff in der Ukraine. Selbst ein einfaches Schulbuch liefert eine handliche Erklärung: Russifizierung ist eine Politik mit dem Ziel, eine russische nationale und politische Dominanz in der Ukraine oder anderen Ländern zu verankern und zu verstärken. Sie wird durchgesetzt, indem Nichtrussen dazu gebracht werden, die russische Sprache und Kultur zu übernehmen, gefolgt von weiterer Assimilation. Die verbreitete Interpretation dieses Phänomens geht zurück auf die Schwelle vom 19. ins 20. Jahrhundert, als der politische Flügel der ukrainischen nationalen Befreiungsbewegung gegen alle möglichen verhängten Beschränkungen der ukrainischen Sprache und Literatur kämpfte. Während der sowjetischen Ära erfuhr diese Interpretation eine Wandlung zu einer Geißelung der sowjetischen Kultur- und Bildungspolitik. Dennoch ging es bei Russifizierung von Anfang an immer um mehr als nur um Sprache oder Vyshyvanka (das traditionell-ukrainische gestickte Hemd, Anm. d. Übers.).
Ökonomische Russifizierung: Kanonen statt Butter
Russifizierung wird überwiegend interpretiert als das Aufzwingen und die Pflege russischer Kultur, um etwas authentisches zu verdrängen oder in seiner Bedeutung zu schmälern. Tatsächlich ist Unterdrückung und Assimilation immer schon und bis zum heutigen Tag nur einer von mehreren Aspekten des Russifizierungsprogramms gewesen. Seine zweite Funktion ist die Erhaltung und Entwicklung einiger Elemente der lokalen Kultur oder sozialer Gepflogenheiten, die der Zentralmacht dienlich sind und eine Stärkung ihres Einflusses auf lokaler Ebene versprechen.
Russifizierung wird im Wesentlichen – und berechtigterweise – identifiziert mit der Erweiterung des russischen politischen Einflusses in der Ukraine nach der Kosaken-Revolution des 17. Jahrhunderts und einer Reihe von Kriegen gegen Polen und die Türkei, über die der “weiße, orthodoxe Zar” mehr und mehr ukrainische Territorien an sich reißen konnte. Tatsächlich jedoch betraf Russifizierung weniger die kulturelle und erzieherische als viel mehr die soziale und ökonomische Sphäre. In ihrem Eifer, andere vom angeblichen Nutzen der russischen Besetzung für die ukrainische Wirtschaft zu überzeugen, wurden die Redner von der ideologischen Front nicht müde zu betonen, dass dies der Ukraine die Möglichkeit gab, ihre Produkte – vor allem landwirtschaftliche – im Ausland zu verkaufen und ihre südlichen und östlichen Regionen zur Kornkammer Europas zu machen. Die bittere Wahrheit war allerdings, dass – wie sich schon im 18. Jahrhundert abzeichnete – diese Veränderungen die Ukraine eher zu einem ökonomischen Außenseiter als einem Akteur machten. Es ist kein Geheimnis, dass für ukrainische Händler der Zugriff auf westliche Märkte statt über seit dem Mittelalter etablierte profitable Handelsrouten nur noch über Russland und russisch kontrollierte Transitpunkte möglich war. Russische Außenhandelsideologie hatte nichts gemein mit der mit der im Westen üblichen Philosophie des freien Handels. Sie war ausgerichtet auf das Errichten einer wirtschaftlichen und danach politischen Dominanz. Stück für Stück schränkte Russland den Export strategisch bedeutsamer Güter ein und leitete den Handel über seine eigenen Transitpunkte und legte damit neue Spielregeln für Ukrainer fest, nach denen Erfolg im Geschäftsleben nur für solche möglich war, die mit den Mächtigen verbunden waren. Umgehend waren die einzigen Geschäftsleute, die noch mithalten konnten, Günstlinge des Zaren oder die, die die Unterstützung und den Schutz einflussreicher Adliger genossen. Eine weitere bittere Konsequenz war die von vielen Historikern aus imperialer und sowjetischer Zeit gerühmte Integration ukrainischer Produzenten in den russischen Markt. Zu jener Zeit war die ukrainische Landwirtschaft exportorientiert. Der Status der Ukraine als Kornkammer Europas schmeichelte Quasi-Patrioten. Unterdessen wurde die Tatsache, dass das exportierte Getreide hauptsächlich als Futtermittel und nicht für europäische Konsumenten (die das Getreide sogar ihrerseits in ihre Kolonien weiter-exportierten) vorgesehen war, geheimgehalten. Die sich schnell entwickelnde Zuckerindustrie in der Westukraine, die so sehr der Kleinstadt-Eitelkeit schmeichelte, wurde auch zu so einer Art “Wirtschaftswunder”. Der einzige Nachteil war, dass die Arbeitsbedingungen auf den Zuckerplantagen fast unerträglich waren und das Netz kleinerer Unternehmen in keiner Weise das Problem der Arbeitslosigkeit und schlechter Lebensbedingungen löste. Selbst obwohl die Ukraine praktisch die Hauptstadt der europäischen Zuckerproduktion war, konsumierte der durchschnittliche Ukrainer verglichen mit den europäischen Nachbarn im Schnitt kleinste Menge Zucker pro Jahr.
Der industrielle Umbruch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein rein “russisches” Projekt, da die Regierung alle Investitionen kontrollierte und versuchte, das Geld in strategisch wichtige Industrien zu leiten, die der Armee und der Flotte dienten, statt den Lebensstandard im Lande zu verbessern. Bismarck’s Modell “Kanonen statt Butter” lockte Investoren aus dem Ausland an, da es einen Markt für ihre Produkte wie z.B. Kanonen, Dampfschiffe, Walzgut, Schienen, Schienenfahrzeuge und Industrie-Ausrüstung garantierte, deren Abnehmer der Staat war. Die imperialistische industrielle Revolution und kurz danach sowjetische Industrialisierung folgten praktisch identischen ökonomischen Prioritäten, wonach Abbau und Schwerindustrie über Lebensmittel- und Textilindustrie dominierte. Unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg betrugen hergestellte Produkte weniger als 20% aller ukrainischen Exporte, der Rest waren Rohmaterial und Zwischenprodukte.
Die ineffiziente Entwicklung der Industrie und Landwirtschaft, die darauf ausgerichtet war, den Interessen einer Minderheit zu dienen, behinderte das Wachstum des inländischen Komsums. Die imperialistische Wirtschaft hinkte den gesunden hinterher und mottete die veralteten Essgewohnheiten und Kultur der Ukrainer ein. Rudimente altertümlichen Alltagslebens, so wie exzessiver Konsum von Brot und Getreide, um die Protein- und Fettdefizite in der Ernährung zu kompensieren sowie hoher stillschweigend durch das staatliche Monopol begünstigter Alkoholkonsum überlebten die Phase des Imperialismus und wurden zu Schlüsselelementen sowjetischer Zivilisation.
Unterentwickelte Kommunikation wie von Nikolaj Gogol als Russlands chronische Krankheit beschrieben wurde zu einer vollendeten Tatsache für die Ukraine. Irrationaler und langsamer Bau von Straßen bzw. später von Schienennetzen, veraltete Technologie und Veruntreuung von Mitteln wurden für immer zu einem wahrhaft russischen Markenzeichen auf diesem Gebiet. Transportprojekte wurden oft zu Augenwischerei, um die Hilflosigkeit des Landes zu kaschieren. Szenen, in denen der zukünftige Herrscher Nikolai II beim Bau der transsibirischen Eisenbahn eine Schubkarre schiebt, wurden in Geschichtsbüchern aller weiterführenden Schulen veröffentlicht. Ein wenig später erfuhren sie eine Wiedergeburt in Propagandaplakaten der BAM (Baikal-Amur-Magistrale, Anm. d. Übers.), einem weiteren Potjomkin-Projekt des nun sowjetischen Imperiums. Die aktuellen Infrastrukturprojekte der postsowjetischen Ukraine für die Euro 2012 erwecken einen ähnlichen Eindruck.
Soziale Russifizierung: Lange Schlangen ersetzen die Barrikaden
Der Anteil der ukrainischen Elite an der Entwicklung der russischen und sowjetischen Imperien als klarstes Beispiel sozialer Russifizierung wurde oft als Argument für die Nähe der ukrainischen Mentalität zu diesen Konstruktionen und ihren Ideologien verwendet. Der Genauigkeit zuliebe sollte bemerkt werden, dass unter den “Khochly”, die das Imperium aufbauten, hunderttausende ukrainischer Landbewohner und Kosaken waren, die zum Zweck der Russifizierung ins Kuban-Gebiet, die Krim, Ostsibirien und Kasachstan umgesiedelt wurden, nicht nur die Rozumovsky, Troschchynsky oder Kochubeys. Ein wesentliches Merkmal der Sozialpolitik des übergeordneten Staats war, dass alle seine die Ukrainer betreffenden Regulierungsmaßnahmen immer nur auf zwei Klassen gerichtet waren: Adel und Landbevölkerung. Die erstere fand finanzielle und Karriere-Chancen im imperialen Dienst im Tausch gegen ihre soziale und politische Unabhängigkeit (und nach einiger Zeit: ihre Identität). Die zweitere wurde mittels Zuckerbrot und Peitsche zu “Land und Freiheit” gelockt, zwei illusorischen, aber dabei integralen Elementen für die Landbevölkerung als sozialer Klasse. Zur selben Zeit ignorierte und marginalisierte die Poltik beider, der imperialen und sowjetischen Regierungen durchgehend die Mittelklasse. Eigentumsrechte für die unterprivilegierten Klassen gemäß imperialer Gesetzgebung blieben stets mehr eine Illusion als eine Realität, während politische Freiheiten überhaupt nicht existieren. Dies erstickte die Entwicklung einer bürgerlichen Schicht als Träger einer wesentlich anderen, auf Individualismus, Unabhängigkeit, Verantwortlichkeit und Unternehmertum basierenden “zivilen Religion”.
Im Gegensatz dazu befasste sich soziale Russifizierung immer mit dem Erhalt der sozialen Hierarchie. Führungspositionen wurden traditionell mit von der Regierung ernannten und geförderten Offiziellen und Armee-Offizieren besetzt, mitunter ergänzt um andere Kategorien der “Diener des Volkes”. Unter Bedingungen chronischer Ineffizienz von Regierung und Wirtschaft hatten diese Kategorien weitere Privilegen wie Zugriff auf die Vorzüge der westlichen Zivilisation bis hin zu hochwertiger Medizinversorgung und Zugriff auf Lebensmittel aus speziellen Verteilungszentren. Der Rest der Gesellschaft wirkte wie einer formlose, entpersonalisierte Masse, deren wichtigste moralischen Werte blinder Gehorsam und Glauben an einen starken Staat (Zar bzw. Führer) war. Alle sozialen Ambitionen konzentrierten sich auf die Suche nach Möglichkeiten, zu den “Auserwählten” zu gehören, also die ihnen zugestandenen Privilegien zu erlangen, anstatt sich persönlich zu erfüllen oder zu wachsen. Individuelle Freiheit wurde in ländlichen kollektiv-orientierten Gemeinschaften oder Stakhanov-Brigaden immer als eine Störung oder eine Bedrohung der traditionellen Werte gesehen. Die Folgen bevormundender Ideale und Erwartungen waren immer schon passive und wohlkontrollierte Individuen, das wertvollste soziale Produkt von Russifizierungsprojekten. Diese waren es, die dem übergeordneten Staat erlaubten, neue Gemeinschaften auf der Ebene physischer Menschenmassen statt Identitäten zu formen. Auf diese Art wurde das Phänomen der “sowjetischen Nation” möglich, deren Repräsentanten bis heute noch in allen früheren sowjetischen Ländern anzutreffen sind.
Tatsächlich waren und sind bis heute die sozialen Errungenschaften der Russifizierung die dubiosesten und auch beschränktesten von allen. Die Gründe dafür umfassen die von Sozialpsychologen belegte erstaunlich langlebige soziale Erinnerung der Ukrainer (das durch traumatische Erfahrungen von Dürre und Kollektivierung verursache Misstrauen der Landbevölkerung gegen die Regierung lebt mindestens für vier bis fünf Generationen weiter) bis zur grundsätzlichen Ungeschicklichkeit und der oberflächlichen Umsetzung einzelner Maßnahmen. Trotz aller in die Normalisierung aller sozialen und ethnischen Unterschiede zwischen “sowjetischen Bruder-Republiken” investierten Zeit und Mittel fand sich die Sowjetunion in den letzten Stunden ihrer Existenz mit einer Explosion der früher von ihr unterdrückten “Nationalismen” und der Renaissance sozialer Alltagstraditionen, die sie nicht hatte entwurzeln können, konfrontiert.
Der systembedingte Mangel der Russifizierung war ihr Mangel an Konstruktivität. In seiner Betrachtung der Konsequenzen der Russifizierung der Krim, die nach Sicht der russischen Gesellschaft dem Bringen der Zivilisation zu Barbaren gleichkam, stellte Jewgenij Makarov, ein russischer Autor, traurig fest: “die Frage, was für eine Nation gut oder schlecht ist, sollte mit unvoreingenommener Logik und Ehrlichkeit beantwortet werden… Lasst uns der Sache in die Augen blicken und, Hand aufs Herz, feststellen – haben wir den Krimtataren wirklich ein besseres Leben gebracht?”.
Kulturelle Russifizierung: “Wir sind arm, weil wir dumm sind, und wir sind dumm, weil wir arm sind!”
Die Wirkung der Russifizierung ist am offensichtlichsten in der Kultur, wobei er aber noch weitergehend und noch bedrohlicher ist als das Valuev-Dekret von 1863, in dem das Erzeugen jeden Druckerzeugnises in Ukrainisch verboten wurde, oder der Triumphmarsch des russischen Pop-Produktes im ukrainischen Fernsehen.
Das globale Resultat kultureller Russifizierung ist ein neues System von Werten und Motiven, das insbesondere in das tägliche Leben verankert ist. Es sind die Gewohnheiten und Bewertungen von Menschen, wie zitiert durch die klassischen ukrainischen Autoren, Hryhoriy Skovoroda und Ivan Nechuy-Levytsky: “Der Chef hat immer recht”, “nicht auffallen” oder “brauche ich das wirklich?” usw.
Soziale Gleichgültigkeit und spirituelle Lethargie sind im Grunde weit mehr gefährlich als ein durch die “russische Welt” kultivierter primitiver Geschmack. In diesem Sinne kann die Wirkung der Russifizierung sogar an Orten beobachtet werden, wo Menschen ukrainisch und nicht russisch sprechen, wenn in Krankenhäusern Menschen abhängig ihrer sozialen “Qualität” und des Umfangs ihrer Geldbörse behandelt werden.
Ein weiteres durch die Russifizierung hinzugefügtes Trauma der Zivilisation ist die Herausbildung der Auffassung von “Provinz” und “Metropole”, die sich im ukrainischen kulturellen Vokabular verankert hat. Vor der Ära der Russifizierung, gab es für die kulturelle Szene eine solche Schichtung nicht, hauptsächlich aufgrund einer gewissen europäischen Homogenität. Ihre großen Städte bildeten die wichtigsten ökonomischen und kulturellen Grundlagen regionalen Lebens, wo Bildung und Handelszentren nicht notwendigerweise mit Metropolen und den Stützpunkten der Herrscher übereinstimmten. Die Veränderungen durch die imperiale Ära zogen ein neues Koordinatensystem über das Land, beseitigten schnell Gleichwertigkeit und mit ihr die alten kulturellen und ökonomischen Zentren. Dass heute irgendjemand Kamyanets-Podilsky, Bila Tserkva, Korop oder Novhorod-Siversky als früher bedeutende Städte erkennen würde, darf bezweifelt werden. In einem großen Maße wurden neue Zentren, die kaum ausreichend entwickelt waren, von der neuen Regierung ganz einfach ausgewählt. Entwicklungschancen waren dabei nicht mehr abhängig von der natürlichen Leistungsfähigkeit sondern der hierarchischen Aufteilung zwischen dem “Zentrum” und der “Peripherie”. Letztendlich wurde hierdurch Provinzialismus zum Qualitätsfaktor.
Immunität gegen Russifizierung
Russifizierungsmodelle waren und sind bis zum heutigen Tag ein notwendiges Mittel, um die Konsistenz und den Einfluss des Imperiums zu gewährleisten. Aber sind sie wirklich so omnipotent und wirksam? Der Schwachpunkt der Russifizierung ist ihre totale Gleichgültigkeit gegenüber auf zivilen Werten fußender Individualität, so wie Menschenrechten, Individualität, Toleranz, gemeinschaftlicher Schaffenskraft usw. Aus diesem Grund akzeptieren selbst russifizierte Menschen oft nicht die Werte und Bedingungen, die ihnen von der “russischen Welt” geboten werden, selbst wenn sie selber ethnische Russen sind. Das russifizierte Modell eines sozialen und kulturellen Systems bietet einen ineffizienten Staat, finanzielle Labilität und soziale Trägheit, die dadurch den Menschen die Möglichkeit nimmt, ihre soziale Entwicklung zu wählen oder verändern. Dieses künstliche Entwicklungsmodell behindert die Entwicklung in westukrainischen Städten wie Lviv, Kolomya oder Lutsk genauso wie in ostukrainischen wie Luhansk, Jankoi oder Kherson. Russifizierung und seine neuere Reinkarnation, der Homo Sowjeticus, wird nie eine Chance haben an Orten, wo Menschen es bevorzugen, Bürger statt Sklaven zu sein.
10. Juni 2011 // Olexij Sokyrko
Quelle: Ukrayinskij Tyzhden