Russlands giftige Lügen über ein fiktives "Odessa-Massaker" und die Verantwortung der Ukraine


Fünf Jahre sind nun vergangen seit dem 2. Mai 2014, als in Odessa bei Unruhen und einem Brand 48 Menschen ihr Leben verloren.

Die Ereignisse, die die Unruhen auslösten, waren vermutlich Teil eines Plans, Odessa in das gleiche blutige Chaos stürzen zu sehen, wie es in den Oblasten Donezk und Luhansk geschah – ein Plan, an dem der Seniorberater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Sergej Glasjew, beteiligt war.

Der Plan scheiterte, und Russland wandte sich stattdessen der Schaffung einer vergifteten, propagandistischen Darstellung über ein fiktives „Massaker“ zu.

Es ist ein Narrativ, für dessen Förderung Russland viel Geld ausgegeben hat – aber eines, dem die ukrainischen Behörden nicht richtig entgegengewirkt haben, indem sie nicht bereit waren, die Ereignisse an diesem Tag angemessen zu untersuchen und Rechenschaftspflicht zu gewährleisten.

Was geschah am 2. Mai 2014?

Die folgenden Ausführungen basieren auf umfangreichen Untersuchungen der 2. Mai-Gruppe, einer angesehenen überparteilichen Initiative von Journalisten, Wissenschaftlern und Bürgerrechtlern. Ihre Ergebnisse, die auf Russisch, Englisch und Deutsch präsentiert wurden, wurden auch von internationalen Experten des Internationalen Beratungsgremiums des Europarates (IAP) gestützt.

Von allen wird bestätigt, dass es zu den ersten Unruhen kam, nachdem eine Gruppe pro-russischer Antimaidan-Aktivisten aus einer kurz zuvor gebildeten (und scheinbar von Russland finanzierten) „Odesskaja Druschyna“ [Odessaer Gefolgschaft] einen friedlichen [!sic] Umzug für die ukrainische Einheit angriff. Die Gewalt eskalierte, wobei Waffen und Schusswaffen von beiden Seiten benutzt wurden, und geriet außer Kontrolle, besonders nach der Nachricht über einen ersten Toten – dem von Ihor Iwanow, eines Maidan-Aktivisten. Sechs Menschen wurden getötet, vier davon Antimaidan-Aktivisten.

Einheits-Aktivisten zogen dann zum Kulykowe-Pole-Platz, um ein Zeltlager des Antimaidans zu zerstören, wo sie von Aktivisten von innen und auf dem Dach des Gewerkschaftsgebäudes beschossen wurden.

Molotow-Cocktails wurden von beiden Seiten verwendet, und unabhängige Experten sind zu dem Schluss gekommen, dass es keine Möglichkeit gibt, festzustellen, ob das Feuer durch einen ungünstig geworfenen Molotow-Cocktail ausgelöst wurde, der von Anti-Maidan-Aktivisten aus dem Inneren des Gebäudes oder von Pro-Einheits-Aktivisten außerhalb des Gebäudes geworfen wurde.

Wladyslaw Balinskyj, Biochemiker und Mitglied der Bürgerinitiative Gruppe 2. Mai, war einer der ersten, der das Gewerkschaftsgebäude nach dem Brand betrat. Er legte Hinweise dafür vor, dass kurz vor dem Angriff Barrikaden im Inneren des Gebäudes errichtet wurden, mit großen Mengen an Molotow-Cocktails und entzündlicher Flüssigkeit für sie. Er und die Gruppe haben auch Beweise dafür gesammelt, dass mit verschiedenen Methoden, einschließlich Täuschung, rund 380 Personen in das Gewerkschaftsgebäude gelockt wurden (weitere Details: http://khpg.org)

Die meisten, wenn nicht alle der 42 Todesfälle durch den Brand im Gewerkschaftsgebäude hätten abgewendet werden können, wenn die Feuerwehr nicht vierzig Minuten gebraucht hätte, um anzukommen – trotz wiederholter Anrufe.

Russland

Den Glasjew-Bändern nach zu urteilen – Gesprächen, die zwischen Putins Seniorberater und verschiedenen Personen, darunter einige in Odessa, abgefangen wurden – beinhaltete einer der Pläne, für deren Finanzierung Glasjew verantwortlich war, angebliche „Volksaufstände“ in verschiedenen Teilen der Südostukraine (Details hier: http://khpg.org).

Es wird weithin angenommen, dass die schockierenden Ereignisse vom 2. Mai 2014 Odessa vor einem blutigen Krieg, wie im Donbass, bewahren.

Tatsächlich hatten die russischen Propagandamedien am selben Abend damit begonnen, die Ereignisse in einer stark verzerrten Weise darzustellen. Damals wurde mit wenigen Variationen behauptet, dass „ukrainische Radikale“ die Unruhen verursacht und dann Menschen in das Gewerkschaftshaus am Kulykowe-Pole-Platz getrieben und dieses bewusst angezündet hätten.

Diese Behauptungen wurden auch von westlichen kommunistischen oder rechtsextremen Parteien, zu denen Russland Kontakte pflegte (sowie einigen anderen) aufgegriffen, die davon ausgehen, dass der fehlende Nachweis eines „Massakers“ auf eine Vertuschung durch die NATO oder ähnliches zurückzuführen sei.

Angesichts der Wiederholung der gleichen Lügen durch Putin und einer „Ausstellung“ mit angeblichen „Opfern“, die durch Europa reiste, handelte es sich dabei nicht lediglich um Sensationsberichterstattung.

Die russischen und pro-russischen Medien präsentierten von Anfang an einen bewusst verzerrten Eindruck, insbesondere von den Ereignissen rund um den Brand. Sie zeigten oder erwähnten grundsätzlich nicht die Menschen, die vom Dach auf proukrainische Aktivisten schossen, noch die verzweifelten Versuche derselben Aktivisten, Gerüste ins Gebäude zu schleppen und die darin eingeschlossenen Menschen zu retten. Alle Berichte zielten darauf ab, den falschen Eindruck zu erwecken, dass die Pro-Einheit-Aktivisten ihre Gegner in ein Gebäude getrieben und es angezündet hätten.

Es gab vielleicht noch empörendere Lügen, die die russischen staatlich kontrollierten Medien erzählten, aber das ist sicherlich die giftigste und gefährlichste. Es ist zum Beispiel bekannt, dass die Lügen über Odessa viele junge Männer veranlassten, im Donbass zu kämpfen (und in einigen Fällen, dort zu sterben).

Dies geschah zweifellos bewusst – am deutlichsten zeigte sich das in der Berichterstattung von „Russia Today“ oder anderen, durch den russischen Staat finanzierten Medien über den Bericht der Überwachungsmission des UN-Menschenrechtsbeauftragten vom Juni 2014 berichten. Die russischen Berichte erwähnten Kritik an der ukrainischen Staatsanwaltschaft und der Polizei, ignorierten dabei aber konsequent alle Teile, die die Behauptungen über ein „Massaker“ widerlegen.

Die ukrainischen Behörden

Über die ukrainische Untersuchung der Unruhen und des Brandes gab es von Anfang an höchst kritische Aussagen – und die Situation hat sich im Anschluss nur noch verschärft.

In ihrem jüngsten Quartalsbericht über die Ukraine stellte das Büro des UN-Menschenrechtskommissars fest: „Bis zum 15. Februar 2019, fast fünf Jahre nach den Ereignissen, die zu dem Tod von 48 Menschen geführt haben, wurde kein Beamter zur Verantwortung gezogen. Am 16. Januar 2019 hob das Berufungsgericht für die Region Odessa die Entscheidung des Bezirksgerichts des Kiewer Bezirks von Odessa auf, die Anklage gegen drei Beamte des staatlichen Notdienstes, die der Fahrlässigkeit beschuldigt wurden, an die Staatsanwaltschaft zurückzugeben und entschied, den Prozess zu beginnen. Das OHCHR stellt fest, dass es in dem Verfahren gegen den einzigen der Tötung beschuldigten ‚Pro-Einheits‘-Aktivisten keine Fortschritte gibt: Zwei Anhörungen wurden vertagt, weil das Gericht keine Jury auswählte und die Verfahren von ‚Pro-Einheit‘-Anhängern unterbrochen wurden.“

In dem Bericht wird einer der Hauptgründe für den mangelnden Fortschritt im Prozess gegen den Pro-Einheit-Aktivisten Serhij Chodijak erläutert, nämlich die Behinderung durch Anhänger Chodijaks (von denen viele aus dem Rechten Sektor oder anderen rechtsextremen Gruppen stammen).

Es ist tatsächlich möglich, dass der Fall auch ohne Behinderung scheitern würde, da es keine direkten Beweise dafür gibt, dass Chodijaks Schüsse mit einem bestimmten Tod zusammenhängen. Dies wird wahrscheinlich durch die schockierende Störung seines Prozesses und die Tatsache, dass er fast sofort aus der Haft entlassen wurde, vergessen werden – im Gegensatz zu den vielen pro-russischen Aktivisten, die wegen weniger schwerer Anschuldigungen inhaftiert blieben.

Im September 2017 wurden 20 pro-russische Aktivisten freigesprochen, nachdem viele von ihnen sehr lange Zeiträume in Haft verbracht hatten – wegen Anklagen, die sowohl von der Gruppe 2. Mai als auch von der Internationalen Beratungskommission scharf kritisiert worden waren.

Zwei der Männer – der Ukrainer Serhij Dolschenkow und der Russe Jewgenij Mefjodow – wurden sofort wieder verhaftet und befinden sich immer noch in Haft, da sie mit Anklagen nach Artikel 110 des Strafgesetzbuches konfrontiert sind, die die territoriale Integrität der Ukraine betreffen.

Die letztgenannte Anklage könnte im Gegensatz zu den vagen Anklagen, denen die 20 Männer ausgesetzt waren, sogar einen gewissen Sinn ergeben – zunächst wurde ihnen nämlich die Beteiligung an Unruhen vorgeworfen, einen Vorwurf, den man an diesem Tag genauso gut gegen eine große Zahl anderer Menschen hätte richten können.

Am 2. Mai 2014 gab es kein „Massaker“, aber es wurden sehr schwere Fehler gemacht. Es gibt auch Hinweise darauf, dass Personen innerhalb der Polizei oder der Staatsanwaltschaft denen zur Flucht verhalfen, die mit den schwerwiegendsten Anklagen hätten rechnen müssen – wegen der Bereitstellung von Waffen usw.

Der oben genannte IAP-Bericht führt Hinweise für eine gewisse Komplizenschaft der Polizei [damals noch Miliz, A.d.R.], sowie Unterlassungen und fatale Verzögerung durch die Rettungsdienste auf, und weist darauf hin, dass die Untersuchung von einer vom Innenministerium unabhängigen Stelle durchgeführt werden müsste. Diese Empfehlungen wurden ignoriert.

Während einige der Beamten fast unmittelbar nach den Ereignissen flohen, scheint es wahrscheinlich, dass Wolodymyr Bodelan 2016 „verschwinden“ durfte. Zum Zeitpunkt der Tragödie war er der Leiter der Rettungsdienste, die mehr als 40 Minuten brauchten, um anzukommen, trotz wiederholter und immer dringender Anrufe von Personen im Gebäude oder in der Nähe. Inzwischen ist auch eine Störung der Verhandlung gegen seine Untergebenen erkennbar.

Das in Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf Leben verlangt vom Staat sowohl den Schutz des menschlichen Lebens als auch eine wirksame Untersuchung von Fällen, in denen Leben verloren ging.

Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte liegt inzwischen mindestens eine Klage zu den Ereignissen vor, von der Mutter eines jungen Mannes, der im Gewerkschaftsgebäude gestorben ist – und diese Zahl wird wahrscheinlich steigen.

In einer Erklärung vom 17. März 2017 schrieb die 2.-Mai-Gruppe: „Die Ukraine hat ihre Bürger während der Unruhen im Zentrum von Odessa nicht verteidigt, keine Maßnahmen ergriffen, um sie während des Brandes im Gewerkschaftshaus zu retten. Der Staat führt keine ordnungsgemäße Untersuchung der an diesem tragischen Tag begangenen Verbrechen durch und schützt das Gesetz nicht bei Gerichtsverhandlungen.“

Zwei weitere Jahre sind inzwischen ohne Fortschritt verloren gegangen.

2. Mai 2019 // Halja Kojnasch

Quelle: Charkower Menschenrechtsgruppe

Zum Jahrestag veröffentlichter Bericht der UNO-Menschenrechtsmission in der Ukraine: Bericht

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