Ein rutschiger Abhang
Russifizierung im weiteren Sinne, inklusive ökonomische, gesellschaftspolitische und andere, stellt eine Bedrohung dar – nicht nur für die betroffenen Gesellschaften sondern auch für jedes ihrer Mitglieder.
Die größte Gefahr kommt direkt von dem Unterbau, auf dem die Konzepte, die Russland seinen Nachbarn aufzwingt, basieren und die direkt auf die Grundinstinkte der menschlichen Psyche abzielen. Dies führt zu einer sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Abwertung. Abgewertete Menschen, ganz zu schweigen von solchen Gesellschaften, sind unfähig, Durchbrüche, Wirtschaftswunder oder Wohlstand zu erreichen.
Erstens ist der “Spezialweg”, den Russland für sich propagiert, nie klar definiert worden. Seine Hauptmerkmale lassen sich darauf reduzieren, dass die “russische Zivilisation” sich von denen Westeuropas unterscheiden und leitet daraus die Idee ab, dass die “russische Welt” alles westliche zu verachten und andererseits alles zu bewundern, was russisch, “alt” und “unseres”. Diese Liebe hat von oben bis unten bedingungslos zu sein – es gibt dabei eine allgemeine Gegenüberstellung, was “unseres” und was “fremd” ist (Anm. d. Übers.: die sprachlichen Kontrapositionen наший (unseres) und чужий (fremd) sind im russischen Sprachraum unabhängig von diesem Kontext ein sehr verbreitetes Denkkonzept). Ein weiteres Merkmal ist eine Kultivierung eines “wir”-Gefühls und die Unterdrückung abweichender Meinungen, was unweigerlich zu Stagnation führt. Darüberhinaus führt Häme gegenüber dem Westen und seine rationale Einstellung zum Leben und der Verantwortung des Einzelnen für seine jeweilige Zukunft zu einer gleichgültigen Faulheit und Konsumorientierung – keine Vision im Leben, nur eine vage Hoffnung auf eine Glückssträhne, gleichzeitig das Ertränken des eigenen Versagens in Alkohol und dabei die Schuld für jedes Problem immer bei Feinden “da draußen” zu suchen, etc. Angesichts dieser in der russischen Massenkultur idealisierten Einstellung, ist es kein Wunder, dass der durchschnittliche Lebensstandard in Russlands Sattellitenstaaten und in der Tat auch in Provinzen Russlands so niedrig ist.
Zweitens sind Ziele, die klar und für die Mehrheit akzeptabel sind, so wie z.B. das Schaffen guter Rahmenbedingungen für Erfüllung on Wohlstand der Menschen, seit den frühesten Tagen des Moskauer Reiches durch künstliche Fetische ersetzt worden – “das dritte Rom”, “weltweite Revolution”, “strahlende kommunistische Zukunft”, “Ein erstarkendes Russland, das von der Welt gefürchtet wird” etc. Diese Fetische werden benutzt, um “vorübergehende Härten” zu rechtfertigen. Im Namen dieser hohen Ziele können Autokraten ihren Völkern Geduld abverlangen – für willkürliche Entscheidungen, eine ineffiziente Wirtschaft, die Bereicherung eines kleinen Kreise derer die “für uns alle denken”. Repressives Vorgehen gegenüber der Opposition wird gerechtfertigt nicht als Bestrafung für den Wunsch, etwas im Land zu ändern, sondern als notwendige Maßnahme, dem Land ein Hindernis auf seinem Weg zu allgemeiner Glückseligkeit aus dem Weg zu räumen. Das wiederum garantiert Stagnation und das Fehlen von Initiative. Darüberhinaus rechtfertigt das “Große Ziel” gefährliche und unpraktikable Projekte, wie “kleine siegreiche Kriege”, die all die Nationen vernichten, die es Russland erlaubt haben, sie näher als es ihnen angenehm war, an sich heranzuziehen.
Drittens führt die traditionelle authoritäre und hierarchische Konstrukton russischer Regierungen zur Ablehnung jeder Initiative “von unten”. Der russische Staatsapparat hat eine Art inhärente “historische Angst” vor Demokratie. Versuche, die verborgene herrschende Klasse wenigstens ins Licht zu ziehen und dem Volk gegenüberzustellen, führte zum Zusammenbruch des Reichs: nach Godunow in der “Zeit der Not”, nach der provisorischen Regierung 1917, nach Gorbatschow und Jelzin 1991. Daher wurde von der Regierung jegliche Initiative vorsorglich erstickt, während ambitionierte Menschen entweder in den Dienst der Regierung gestellt, unterdrückt oder zur Emigration gezwungen wurden. Alle die, die geblieben sind, sind zum absoluten Gehorsam der Regierung gegenüber verpflichtet. Natürlich bringt diese Methode eine Attraktivität mit sich für Leute, die wenig oder überhaupt keine Initiative besitzen: jemand anders denkt und entscheidet für sie und sorgt, so es möglich ist, für ein zumindest erträgliches Leben.
Somit kann man sagen, “rutschen” Länder und Gesellschaften im wörtlichen Sinne in die “russische Welt”, verlieren ihre Möglichkeiten zur Entwicklung und wandeln sich zu ressourcenliefernden Anhängseln der Ambitionen der russischen Führung. Allerdings ist auch ein Entkommen von diesem rutschigen Abhang möglich. Nachdem Georgien Kraft gesammelt und Reformen durchgeführt hatte, ließ es Weißrussland und die Ukraine weit hinter sich. Estland und Lithauen, die konsequent gegen Einmischung russischer Faktoren in ihre internen Angelegenheiten Widerstand geleistet haben, sind jetzt stabiler als Lettland, das vermutlich am schlimmsten unter der wirtschaftlichen Krise gelitten hat und sich nun in einem von mit Russland in Verbindung gebrachten Oligarchen verursachten politischen Chaos befindet.
Um von diesem Abhang abzukommen, muss eine Nation Antworten zu allen Verlockungen der Russifizierung finden, Antworten, die helfen werden, sowohl finanzielle als auch geistige Armut zu überwinden. Fehlen Arbeitsplätze, und es gibt Menschen mit einem Mangel an Initiative, so ist die Antwort, die Bedingungen für das Starten und Enwickeln eigener Unternehmen zu vereinfachen, Qualifizierung anzubieten und Menschen, die sich selbstständig machen wollen, günstige Kredite anzubieten. Wenn die russische Kultur einen Kult macht aus Trunksucht und einer “Verländlichung” (Anm. d. Übers.: das Verdrängen ukrainischer Kultur von der Stadt aufs Land ist einer der häufigsten im Zusammenhang der Russifizierung der Ukraine genannten Aspekte) unserer Geschichte, dann ist die Antwort die Unterstützung nationaler Kulturprodukte und straffere Regelungen bezüglich des Gebrauchs der offiziellen Landessprache. Wenn russische Geschäftsleute mit Hilfe örtlicher Bürokratie Unternehmen übernimmt, ist die Antwort de Einführung transparenter Privatisierungs-Bieteverfahren. Wenn bezahlte “einflussreiche Agenten” in den Medien für Schlagzeilen sorgen, ist die Antwort, die eigenen Sicherheitsdienst dazu zu zwingen, für das eigene statt das Nachbarland zu arbeiten. Wenn die Wirtschaft vollständig in die Hände von Oligarchen gerät, ist die Antwort, deren Imperien aufzuteilen, die Wirtschaft zu demonopolisieren und wirksame Unterstützung für kleine und mittelständische Unternehmen zu bieten.
Diese Rezepte sind nicht neu, aber sie wirken. Wir müssen nur verstehen, dass wenn es uns nicht gelingt, sie anzuwenden, wir in der “russischen Welt” versinken werden. Später wird es schwer und kompliziert sein, uns wieder zu befreien, was die, die diese Entwicklung erlaubt haben, selber nicht mehr erleben werden.
5. Juli 2011 // Rostyslav Pavlenko
Quelle: Ukrayinskij Tyzhden