Schleichende Föderalisierung: Wie und warum bekommen die Bürgermeister der Großstädte und die lokalen Clans immer mehr Einfluss in den Regionen der Ukraine
Die Rolle der lokalen Selbstverwaltung wird in der Ukraine stärker. In bestimmten Fällen nimmt die Bevölkerung die lokale Selbstverwaltung als eine Alternative zum Zentrum wahr, dessen Tätigkeiten auf den Regional- und Lokalebenen eher schlecht als recht eingeschätzt werden. Das Gewicht der gewählten Lokalpolitiker wird, unter anderem, auch auf die Präsidentschaftswahlen Einfluss haben. Und nicht nur auf sie.
Tatsächlich vollzieht sich gerade in der Ukraine eine ungehemmte „Föderalisierung“, im Zuge derer nicht die aus Kiew zentral bestellten Gouverneure, sondern die Bürgermeister der Großstädte zu den echten Herren in den Regionen werden; sowie die regionalen finanzpolitischen (oder sogar kriminellen) Kreise, die diese Bürgermeister beeinflussen.
Und gerade diese regionalen Machteliten müssen mittlerweile von allen Präsidentschaftskandidaten und Parteispitzenpolitikern persönlich aufgesucht werden, um ihnen in aller Öffentlichkeit Respekt zu zollen.
Wohin eine solche Konstellation führen kann, hat die Internetseite Strana untersucht.
Der Tango mit den Eingesessenen
Die Beziehungen Kiews als politischem Zentrum zu den Regionen der Ukraine haben in der letzten Zeit widersprüchliche Züge angenommen. Und der Wahlkampf hat es nur zu deutlich betont.
Politiker nationalen Maßstabs, einschließlich Präsident Pjotr Poroschenkos, suchen nach Wahlunterstützung in den Regionen. Dabei ist die Präsidialadministration daran interessiert, dass bedeutende Persönlichkeiten in den Regionen, allen voran, die in der Bevölkerung beliebten Bürgermeister der ukrainischen Metropolen, in ihren Rollen als VIP-Wahlhelfer das amtierende Staatsoberhaupt unterstützen, das wahrscheinlich zur Wiederwahl antreten wird.
Ihren Worten nach unterstützen die Bürgermeister der Metropolen den Präsidenten, wie zum Beispiel der Bürgermeister von Charkow Gennadi Kernes. Allerdings werden die Bürgermeister auch von anderen Politikern aufgesucht. Und deshalb legen die einflussreichen Lokalpolitiker ihre Eier eben in verschiedene Körbe.
Nach Angaben von Strana führen die Bürgermeister der Metropolen (sowie die hinter ihnen stehenden Einflusskreise) schon jetzt aktiv Verhandlungen sowohl mit [Julia] Timoschenko als auch mit [Wladimir] Selenski, [Juri] Boiko und einer Reihe anderer Kandidaten. Und wie sich schließlich alle administrativen Ressourcen im Vorfeld der Wahlen auf die einzelnen Kandidaten genau aufteilen, ist noch nicht heraus.
Letztendlich sind es ja auch die Bürgermeister, in deren Händen sich die Gesamtinfrastruktur einer kontrollierbaren Wahl befindet (das Netzwerk aus Wahllokalen sowie das Personal für die örtlichen Wahlkommissionen).
Und in der letzten Zeit kam da auch noch ein gestiegener Einfluss der lokalen Eliten hinzu. Vermutlich ist es ja zum ersten Mal seit der ukrainischen Unabhängigkeit (vielleicht mit Ausnahme der wirren Zeit der 1990-er Jahre) so, dass die lokalen Eliten zu einem einflussreicheren Faktor der Regionalpolitik werden können, als die Zentralregierung in Kiew.
Ihre Unterstützung bei den Präsidentschaftswahlen beruht auf drei tragenden Säulen.
1. Volkslegitimität
Das ständige Gehader in Kiew, sowie die gegenseitige Diskreditierung aller landesweiter Politiker haben dazu geführt, dass selbst die beliebtesten von ihnen (zum Beispiel Julia Timoschenko) in den Umfragen zum Vertrauen höchstens 20 Prozent der Wähler hinter sich haben. Ganz zu schweigen von den Regierungsinhabern, denen weniger als zehn Prozent der Wähler vertrauen.
Bei den Vertretern der lokalen Selbstverwaltung zeichnen die Umfrageergebnisse ein ganz anderes Bild.
Den Lokalpolitikern vertrauen mehr als 50 Prozent der Befragten in den eigenen Städten und sogar ganzen Regionen.
Zum Beispiel, so die Soziologieagentur „Rating“, befürworten 75 Prozent der befragten Bewohner der Millionenstadt Charkow die Arbeit ihres Bürgermeisters Kernes. Zum Vergleich erzielen in Charkow der Präsident Poroschenko nur 9 Prozent und Julia Timoschenko – 15,5 Prozent.
In anderen Großstädten zeichnet sich ein ähnliches Bild. In Iwano-Frankiwsk zum Beispiel, billigen 73 Prozent der Bewohner die Arbeit ihres Bürgermeisters, in Mariupol sind es 71 Prozent, in Tschernigow – 70 Prozent, in Odessa und Winniza – jeweils 68 Prozent, in Lwiw und Dnepr – jeweils 53 Prozent. Sogar in Kiew ist das Rating des Bürgermeisters Klitschko mit 41 Prozent höher als das eines beliebigen Politikers auf der Nationalebene.
Im Landesdurchschnitt sind mit der Arbeit der gewählten Entscheidungsträger der Städte und Orte 43 Prozent ihrer Bewohner zufrieden. Und die Tätigkeit von Poroschenko wird von lediglich zwölf Prozent als positiv bewertet.
Politikwissenschaftler bezeichnen eine Situation, bei der die Beliebtheitsführerschaft der einen Politikergruppe und das Regierungsgeschäft formal einer anderen gehört, als „Volkslegitimität“. Und unter bestimmten Umständen kann aus dieser Volkslegitimität ein tatsächlicher und maßgeblicher Einfluss auf die politischen Prozesse erwachsen.
Die Schlange bei den Bürgermeistern der Metropolen, in der die landesweiten Politiker im Vorfeld der Wahlen stehen, bestätigt das. Alle wollen sich ihrer Unterstützung versichern.
Praktisch mündet das in eine allmähliche Unterstellung aller politischen Parteien in den Regionen den Entscheidungsträgern vor Ort. Die Parteien vereinbaren einfach mit den Entscheidungsträgern, dass diese ihre Leute in die Parteien abordnen und damit das gewünschte Wahlergebnis gewährleisten.
Wie der Politologe Ruslan Bortnik hervorhebt stellen die lokalen Clans bereits jetzt die Regierungen in vielen Regionen. „Sie dominieren in der Wirtschaft der Region, dem Justizsystem und der Politik. Im Vorfeld der Wahlen tarnen sie sich zwar mit der einen oder anderen landesweit bekannten Partei, stehen aber, zu allererst, für ihre eigenen Interessen ein“, sagt der Experte der Strana.
Im Übrigen kann es auch gänzlich lokale Parteien geben. Ein Paradebeispiel dafür ist das politische Projekt „Für handfeste Taten“, das nur in der Oblast Chmelnizki aktiv ist. Die Kovorsitzenden dieser Regionalpartei sind der fraktionslose Abgeordnete der Werchowna Rada Alexander Gerega und seine Ehefrau Galina, denen die nationale Handelskette Epizentr K, die sich auf Baumarkt und Gartenarbeit spezialisiert hat, gehört. Diese Partei hat die größte Fraktion im Regionalparlament der Oblast Chmelnizki.
Ein Abgeordneter dieser Fraktion ist mittlerweile der erste Stellvertreter des Regionalparlamentspräsidenten der Oblast Chmelnizki. Zu den Parteimitgliedern gehört auch die stellvertretende Vorsitzende der Regionalregierung der Oblast, Swetlana Pawlischina. Darüber hinaus gehört zur Gerega-Umfeld selbst der Gouverneur der Region, Wadim Losowoi, ehemals der Geschäftsführer eines der Epizentr-Märkte.
Der Bürgermeister von Odessa [Gennadi Truchanow] hat ebenso eine eigene Partei: ‚‚Trau den Taten“.
Und Kernes hatte bei den Kommunalwahlen 2015 die Partei Wiedergeburt faktisch gemietet, als er mit Hilfe von deren Parteiliste eine Mehrheit für sich im Stadtrat von Charkow erhielt.
Ein ähnliches Bild, so die Prognosen, würden die Parlamentswahlen zeigen. „Die lokalen Clans werden den Inhabern der Parteilisten einfach ihre eigenen Kandidaten aufzwingen, im Austausch für die Unterstützung bei den Wahlen. Und sie werden ihre eigenen Leute in die Direktwahlkreise stopfen, wenn das Mehrheitswahlsystem erhalten bleibt. In Folge würde auch das Parlament von mittlerweile etwas anderen Akteuren als heute noch kontrolliert werden und der Prozess der Dezentralisierung in der Ukraine würde dann auch seitens der Gesetzgebung vertieft werden. Allerdings würde sich die Zentralregierung in Kiew diesem Prozess natürlich widersetzen“, prognostiziert ein einflussreicher Abgeordneter bei einem Gespräch mit Strana.
2. Finanzmacht
Wenn Poroschenko die Bürgermeister lobt, erinnert er sich gerne an die Dezentralisierungsreform, dank der, so sagt er, die Gemeinden vor Ort (lies: „Oberhäupter der Städte und Dörfer“) zusätzliche Finanzmittel erhalten haben sollen.
Und in der Tat hat der Dezentralisierungsprozess den Gemeindehaushalten ansehnliche Zusatzeinnahmen gebracht. Allerdings ist dieser Prozess nicht frei von Widersprüchen. Einerseits haben die Gemeinden jetzt mehr Geld zur Verfügung. Andererseits wurden so auch mehr Ausgaben aus dem zentralen Staatshaushalt an die Regionalhaushalte ausgelagert. Unter dem Strich sieht jetzt die wirtschaftliche Lage alles andere als kuschelig aus.
Aber in jedem Fall sind die Haushalte der Regionen und Städte nun zumindest volumenmäßig größer geworden. Das heißt, auch die Möglichkeiten für die „Aneignung“ der Haushaltsmittel und deren Veruntreuung seitens der lokalen und regionalen Entscheidungsträger sind gewachsen.
„Dieser Prozess verläuft aber nicht linear. Man kann nicht sagen, dass die Bürgermeister in Aneignung der Mittel der Gemeindehaushalte völlig frei sind. Denn man muss die Haushaltsmittel auch mit den „Boten“ der Zentralregierung teilen, indem man ihnen einige Ausschreibungen abgeben muss, sowie ganze Sektoren der kommunalwirtschaftlichen Versorgung. In jedem Fall muss auch das mit den Bürgermeistern ausgehandelt werden. Im Ergebnis werden die Clans in den Regionen finanzkräftiger. Heutzutage, so sagt man schon in unserer Branche, lohnt es sich eher seinen Intimus in der Position des Bürgermeisters einer ukrainischen Großstadt zu haben als in der eines regionalen Gouverneurs oder sogar Ministers. So kann man sich viel mehr aneignen. Und wer Geld hat, der hat auch Macht“, sagt Strana eine Quelle in einem der größten Finanz- und Industriekonzerne des Landes.
3. Geheimdienste, Militär und Polizei
Um ein vollständiges Bild der Machtübernahme zeichnen zu können, fehlt noch ein Pinselstrich zu den staatlichen Gewaltorganen. Alle Institutionen der Rechtspflege in der Ukraine sind der Zentralregierung in Kiew unterstellt.
Dennoch werden, erstens, schon jetzt in vielen Städten sogenannte „Städtische Wachen“ geschaffen, die im Grunde genommen direkt den Bürgermeistern unterstellte Polizeieinheiten darstellen.
Zweitens, stimmen sich auch formal Kiew unterstellte Exekutivbehörden vor Ort immer häufiger mit den Interessen der Clans vor Ort ab. Ein Paradebeispiel dafür ist die Lage in der Oblast Cherson, wo sich nach dem Skandal um den Tod der sozialen Aktivistin Jekaterina Gandsjuk [Kateryna Handsjuk] ein ganzes Knäuel von Verbindungen zwischen der lokalen Polizei, der Staatsanwaltschaft, sowie einflussreichen Regionalpolitikern und Geschäftsleuten auftat.
Und was kommt weiter?
Wenn diese Entwicklungstendenzen weiter bestehen bleiben, dann werden die Entscheidungsträger vor Ort offensichtlich schrittweise die Kontrolle über den Lauf der Dinge in den Regionen übernehmen.
In der Ukraine findet damit eine schleichende „Regionalisierung“ statt. „Diese kann man als eine Art Föderalisierung für nichtdemokratische Staaten, wie die Ukraine einer ist, bezeichnen“, meint Bortnik.
Allerdings kann man bereits jetzt von einem künftigen Widerstand der Zentralregierung in Kiew ausgehen.
„Ich kann voraussagen, dass die Zentralregierung nach den Wahlen, wie auch immer sie ausgehen sollten, versuchen wird diese Prozesse umzukehren. Aber wir müssen erst schauen, wie stark die Abwehrhaltung der lokalen Eliten sein würde“, sagt ein einflussreicher Abgeordneter des Parlaments.
Der Politologe Wadim Karassjow vermutet, dass das gelingen könnte. „Die Bürgermeister und die lokalen Eliten würden nicht zu vollwertigen Herren ihrer Gebiete werden können, weil die dem Präsidenten und den Nationalbehörden unterstellten Geheimdienst-, Militär- und Polizeiapparate den Handlungsspielraum der Regionalpolitiker ziemlich wirkungsvoll einschränken. Selbst paramilitärische Formierungen von Gemeinderäten oder Bürgermeistern stellen noch lange kein Merkmal einer ganzheitlichen Machtstruktur dar. Die Ambitionen der Bürgermeister werden nach wie vor von durch Kiew ernannte Gouverneure in den Regionen ausbalanciert. Die regionalen Dienststellen des Inlandgeheimdienstes (SBU), der Steuerbehörden und generell des Nationalen Antikorruptionsbüros werden alle von der Hauptstadt gesteuert. Natürlich sind die politischen Ressourcen der Bürgermeister vor Ort im Vorfeld der Wahlen sehr gefragt, aber nach den erfolgten Wahlen kann man ihre Frondienste ruhig vernachlässigen.“
Hingegen ist ein Vertreter der Stadtverwaltung einer der Metropolen mit dieser Prognose nicht einverstanden. „Schon jetzt hat in unserer Region der Bürgermeister der Gebietshauptstadt mehr Einfluss als der von Kiew installierte Gouverneur. Er verfügt sowohl über Beliebtheit beim Volk als auch beträchtliche finanzielle Ressourcen. Und auch Beziehungen zu Geheimdiensten, Militär und Polizei. Und alle Politiker der nationalen Ebene kommen zu uns, weil sie sich arrangieren wollen. Selbstverständlich hat keiner von uns vor darauf zu verzichten“, sagt dieser Vertreter einer Stadtverwaltung.
Offensichtlich werden die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Herbst 2019 und die endgültige Zusammensetzung der Rada eine Schlüsselbedeutung haben.
Ob der Prozess einer „ungehemmten Föderalisierung“ weitergeht oder nicht, hängt davon ab, ob das Parlament eine Vergrößerung der Rechte der Regionen und eine Verkleinerung der Rolle der Gouverneure innerhalb der Regionen gesetzgeberisch wird umsetzen können. Die entsprechenden Entwürfe für Änderungen der ukrainischen Verfassung wurden bereits im Jahr 2004 in das Parlament eingebracht und sahen vor, dass die Entscheidungskompetenzen in den Regionen von den Leitern der Gebietsverwaltungen zu den Ausführungsorganen der Gebietsparlamente übergehen (was den örtlichen Eliten erlaubt hätte ihre Macht nicht nur auf der Ebene der Städte, sondern auch der ganzen Regionen zu legitimieren).
Zuletzt wurde eine solche Gesetzgebung im Jahr 2015 versucht, als in erster Lesung Verfassungsänderungen zum Sonderstatus der Donbass-Region angenommen wurden (im Rahmen der Erfüllung des politischen Teils des Minsker Abkommens durch die Ukraine). Dort war ebenfalls eine Norm zu den Oblastparlamenten enthalten.
Wegen der Konfliktträchtigkeit des Donbass-Themas kam es jedoch nicht zur endgültigen Annahme der Änderungen zum Grundgesetz. Das Projekt der Verfassungsänderung an sich ist aber auch von niemand zurückgerufen worden, ebenso wenig wie die Verpflichtungen der Ukraine aus den Minsker Abkommen. Zu dieser Frage könnte die Rada bereits in neuer Zusammensetzung zurückkehren.
11. Januar 2019 // Denis Rafalski
Quelle: Strana