Streik: Ein Tag auf dem Basar der Stadt „K“


Vor dem Tor eines Bekleidungsmarktes, an dem ein riesengroßes Schloss hing, standen einige mir bekannte Einzelhändler.

??„Kannst du dir das vorstellen: Der Basar ist schon seit zwei Tagen zu. Man hat gestreikt. Nach dem ersten Tag kamen wir her und der Basar war immer noch zu.

Wir fragen: „Wer hat das angeordnet?“. Nun fangen sie an, ihr Herz auszuschütten.

Sie verkaufen aus China eingeführte Kleidung und Schuhe, die sie auf den Großmärkten ankaufen. Jeder hat auf dem Basar seinen Verkaufsstand und verfügt über das sogenannte Patent, das heißt zahlt eine fixe Steuer. Das Steuergesetzbuch haben sie niemals zu Gesicht bekommen. Ich habe sie den Entwurf alle der Reihe nach ausgefragt und auf sie den Eindruck eines Experten in Sachen Steuerrecht gemacht.

„Wer hat die Basarschließung angeordnet?“

„Na wer sonst? Die Verwaltung des Basars. Sie sind es ja, die das alles veranstalten.“

Unter „alles“ werden Demonstrationen und Streiks gemeint.

Die Basarleute sind in der Regel schwerfällig, was sie früher selbst zugaben. Und jetzt streiken sie auf einmal vor dem Büro der lokalen Vertretung der Partei der Regionen und dem Gebäude des Exekutivausschusses. Ich wollte wissen, um wie viel ihre Ausgaben infolge der Annahme des Steuergesetzbuches erhöht werden. Am Tag davor habe ich dieselbe Frage mit meinen Freunden diskutiert. „Du weißt es einfach nicht. Um eintausend Hrywnja mehr!“, rief einer aus, der sich mit Immobillien beschäftigt und bei einer Firma einer großen Finanz- und Industriegruppe arbeitet. „Was ist in diesen tausend drin?“, fragte ich. Mich interessierten die Posten dieses Betrages. Mein Freund sagte nur, er habe den Teil des Steuergesetzbuches, der sich auf die Einzelhändler bezieht, nicht besonders aufmerksam durchgelesen. Nun habe ich dieselbe Frage den Basarhändlern gestellt.

„Alles wird teuer werden! Was daraus wird, ist nicht auszudenken!“, bekam ich von überall zu hören. Ich bestand darauf, uns die Situation näher anzuschauen. So fingen wir aufzuzählen an. „Man wird 300 Hrywnja in den Rentenfonds zahlen müssen“, sagte einer.

„Aber das hat bereits Julja (Timoschenko) eingeführt. Das hat mit dem Steuergesetzbuch nichts zu tun“, sagte ich. Ich weiß noch, wie verzweifelt die Menschen waren, als diese Zahlung in den Rentenfonds bekannt gegeben worden war. Manche waren sogar im Begriff, ihre Verkaufsstände aufzugeben.

„Die fixe Steuer. Bis jetzt haben wir 70 Hrywnja gezahlt…Was danach kommt, keine Ahnung…“. So sind wir zum Wesentlichen vorgedrungen.

„Man sagt, es würden 600 Hrywnja werden!“, meinte ein Händler.

„Das ist die Obergrenze für die Großstädte“, so ich. Ich erinnere mich an den Inhalt des Entwurfes. „Für euch wären 200 Hrywnja das Maximum.“

„Mensch!“, rutschte wieder bei einem raus. „200 Hrywnja ist ganz schön viel für einen Markt, wo der Tagesumsatz eines Händlers nur 50 Hrywnja betragen kann.“

„Das heißt also, wenn der Stadtrat 200 Hrywnja für ein Patent beschließt, werdet Ihr um 130 Hrywnja mehr zahlen müssen? Und wenn man die Zahlung in den Rentenfonds mitrechnet, dann kommt man auf satte 500 Hrywnja?“, kalkulierte ich. Die Händler nickten.

„Was habt Ihr noch zu bezahlen?“

„Unsere Verkaufsstände und die Marktgebühr.“

Diese Marktgebühr war letztes Jahr eine Geschichte für sich. Die Marktverwaltungen hoben die Gebühr an, wobei sie gewisse Lücken in der Gesetzgebung ausnutzten. Die Unternehmer murrten und die Regierung schlug vor, überhaupt die Gebühr abzuschaffen, um die Menschen zu beruhigen. Die lokalen Kräfte starteten in den Medien eine geheime Kampagne gegen die Abschaffung. Die Situation wurde absurd: Für die Anhebung der Marktgebühr traten die Unternehmer höchstpersönlich ein.

„Aber die Abschaffung der Marktgebühr tritt am 1. Januar in Kraft“. Mit vereinten Kräften sind wir wieder zur Schlussfolgerung gekommen, dass das Steuergesetzbuch die Zahl der lokalen Steuer wesentlich verringert.

„Jetzt zahlen wir 180 Hrywnja. Wenn die Gebühr abgeschafft sein wird, werden wir natürlich 200 Hrywnja fürs Patent zahlen können…“, kommen die Händler ohne meine Hilfe auf eine unerwartete Schlussfolgerung.

„Was habt Ihr noch zu zahlen?“, hake ich weiter nach.

„Das war´s dann schon. Mehr haben wir nichts zu zahlen“, mussten sie mit Verwunderung feststellen.

Es war merkwürdig, dass sie gegen die Einführung der Zahlung in den Rentenfonds nicht auf die Straßen gegangen waren, protestieren aber jetzt gegen eine um das Doppelte kleinere Summe und schließen den Markt.

„Wieso ruft Ihr, das Steuergesetzbuch würde Euer Geschäft ruinieren?“, fragte ich.

Die Händler machten ein nachdenkliches Gesicht.

„Na ja, das sagen nicht wir. ‘Geschäft’ wäre wohl zu viel gesagt. Drei- bis viertausend im Monat. Das sagt er“. Unter „er“ meinten sie den Besitzer des Marktes, der die Verkaufsstände auf dem Basar verpachtet.

„Ja klar, der Jahresumsatz für die Unternehmer, die nach dem vereinfachten Verfahren steuerlich geführt werden, wurde fast auf die Hälfte abgesenkt.“, sage ich verständnisvoll dazu. Die Händler kichern und verraten mir ein Geheimnis: „Vereinfachtes Verfahren? Der arbeitet ebenso ‘über das Patent’ und zahlt 70 Hrywnja genauso wie wir!“

„Wie das?“, frage ich ratlos. „Wie ist das möglich? Es ist ja ein riesengroßes Gelände!“

Der Basar hält zwar einem Vergleich mit dem Großmarkt in Tschernowitz oder dem „7-km-Basar“ in Odessa nicht stand. Aber er ist immerhin der größte Bekleidungsmarkt in der Stadt. Daher ist es mir nicht ganz klar, wie das möglich sein kann, dass sein Besitzer lediglich 70 Hrywnja in den Haushalt (zu zwei Drittel subventioniert) zahlt.

„Ganz einfach“, antworten sie mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als hätte ich eine absurde Frage gestellt.

Hier gebe ich auf: „Dann verstehe ich nicht, wieso Ihr dann streikt“.

„Eben riskieren wir, dass wir in diesem Monat gar nichts verdienen“, sagte eine Frau und schaute traurig auf ihren Verkaufsstand hinter dem verschlossenen Tor.

Ein Händler erzählt uns von den Gerüchten: „Das Steuergesetzbuch, habe ich gehört, gibt der Steuerbehörde mehr Vollmacht. Ein Mitarbeiter kann nun sogar zu jedem nach Hause kommen ohne eine Erlaubnis.“

„Im Ernst? Wie ohne Erlaubnis?“, fragen die Frauen zweifelnd.

„Na ja, hast du ihn böse angeguckt, kommt er zu dir nach Hause und nimmt dir alles weg, was er nur will. So habe ich gehört.“, erklärte er.

Alle wandten sich an mich: „Du hast das Gesetzbuch gelesen. Steht da so was?“. Ich zuckte mit den Schultern. Das Einzige, was ich gesehen und gehört hatte, waren solche Flugblätter in Kiew und Gespräche unter den Freunden, dass das Schlimmste in diesem Steuergesetzbuch die breitere Vollmacht der Steuerbehörde sei.

„Vielleicht solltet Ihr dagegen protestieren?“, schlug ich vor. Die Händler blieben dem Vorschlag gegenüber gleichgültig.

„Die in Kiew sollten zwischen uns und ‘ihnen’ unterscheiden.“ Unter ‘ihnen’ meinten sie wiederum die Besitzer der Märkte. „Wie kann man nur uns alle über einen Kamm scheren?“

Während unserer Unterhaltung gingen wir in Richtung des in der Nähe gelegenen Obstmarktes. Da herrschte Hochbetrieb, was bei den Händlern des „streikenden“ Basars Neid hervorrief.

„Na sieh mal an“, meckerten sie ab und zu und tauschten paar Worte mit den Fleischverkäuferinnen und alten Omas aus, die aus irgendeinem Dorf Gemüse hergebracht hatten.

Nach dieser Unterhaltung wurde mir klar, dass ich vor lauter Sorgen um das Schicksal der Einzelhändler eine Bevölkerungsschicht, die von dieser Geschichte mit dem Steuergesetzbuch auch betroffen wird, völlig außer Acht gelassen habe, nämlich einfache Menschen, die nur von ihrem Lohn leben. Darum wird es im nächsten Artikel gehen.

24. November 2010 // Artjom Gorjatschkin

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Xenia Kim  — Wörter: 1177

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