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Den gemeinen Durchschnittsukrainer retten

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Der 22. November 2010 wird noch zu einem echten Wendepunkt in der ukrainischen Politik. Die heutigen Ereignisse markieren einen sehr wichtigen historischen Tag. Historisch bedeutet dieser Tag mehr als die Präsidentschaftswahlen oder die sonstigen innerelitären Spielchen, in welche sich die ukrainische verloren hat.

Noch ein Maidan – das ist nicht nur eine gewöhnliche tagespolitische Nachricht, sondern in seinem Kern und seinen potenziellen Folgen ein historisches Ereignis.

Der Protest des Unternehmertums, der Mittelklasse, gegen das neue Steuergesetzbuch, welcher revolutionäre Ausmaße erreichen, sowie eine revolutionäre Intensität und revolutionäre Effekte nach sich ziehen kann, zeugt davon, dass sich der revolutionären Prozess des Jahres 2004 fortsetzt.

Revolution bedeutet weniger eine machtpolitische Wende oder Machtwechsel, als vielmehr die qualitative, tiefe, systematische Veränderung des öffentlichen Lebens. Erst heute nahm die Revolution eine neue qualitative Gestalt an.

Während die Mittelklasse 2004 auf die Straße gegangen ist, um ihre politischen Rechte und Freiheiten angesichts der elektoralen Prozesse und des Vorhabens seitens der Staatsmacht, diese zu beschränken, zu verteidigen, so steht heute die bürgerliche Freiheit im Vordergrund: Das Recht auf ein transparentes Steuersystem, sowie das Recht auf eine gerechte Rechtsprechung.

Mit anderen Worten zeugen die Protestaktionen der ukrainischen Unternehmer, die sich sozusagen als neues ukrainisches Bürgertum aufgestellt haben, vom Übergang in die Phase einer bürgerlich-demokratischen Revolution.

Die vorrangige Forderung ist die Verabschiedung eines Steuergesetzbuches, das das Wachstum des kleinen und mittleren Unternehmertums stimuliert, und nicht als administratives Instrument dazu dient, sämtliche denkbaren Abgaben beizutreiben.

Der neue Maidan wurde durch das Staatsdefizit induziert. Aber Probleme, die mit den staatlichen Finanzen zusammenhängen, sind in erster Linie Probleme des Staates: Fehlt dem Land Geld im Haushalt, dann bedeutet dies, dass der Staat zahlungsunfähig und die Staatsmacht nicht kreditwürdig ist.

Anders ausgedrückt: So wie sich die Staatsfinanzen ausnehmen, so auch der Staat und das politische System. Steuern sind nämlich nicht nur ein technisches Instrument der Staatsmacht, mit dessen Hilfe diese die Ökonomie steuert. Steuern sind ein inhärentes Element des politischen Systems. Und im aktuellen Kontext werden Steuern zu einer politischen Kategorie.

So kommt es keineswegs von ungefähr, dass im Rahmen der Analyse der gegenwärtigen Situation ausgerechnet von Änderungen der politischen Ökonomie gesprochen wird. Neben dem geänderten Steuergesetzbuch stehen Korrekturen zum Arbeits-, Zivil, Miet- und Grundbuchrecht auf der Agenda.

Die parallele Reformierung der für jeden Ukrainer essentiellen Gesetzesbücher zeugt davon, dass fundamentale Veränderungen des polit-ökonomischen Staatsgefüges ihre Schatten vorauswerfen.

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Das Wesen des aktuellen gesellschaftspolitischen Moments besteht darin, dass 20 postsowjetische Jahre ihr Ende gefunden haben.

Die Epoche der politischen Transition ist beendet und die letzten Überbleibsel der sozialistischen Politökonomie lösen sich auf. Eine vollkommen neue posttransitionale, postsozialistische Epoche hat begonnen, in welcher sich Möglichkeiten für den Aufbau eines Protokapitalismus formen, in welchem Lohnarbeit, Privateigentum und Kapital ihren Platz finden, in welchem menschliche Fähigkeiten in Kapital umgewandelt werden können.

Genau darin liegt der Kern der gegenwärtigen historischen Wende.

Eine Umwälzung des Steuersystems beinhaltet, dass dieses gerecht und transparent gestaltet werden sollte, damit die Leute bewusst Steuern zahlen und diese nicht hinterziehen.

Eine Neuordnung sollte sowohl intransparente Steuerzahlungssysteme wie auch das ungerechte Besteuerungssystem, in welchem Arme mehr als Reiche zahlen, beseitigen.

Wenn beispielsweise die kommunalen Gebühren erhöht werden, leiden in erster Linie die Armen.

Das vorgelegte Gesetzesbuch, das weder die regressive Besteuerung noch die soziale Ungerechtigkeit, oder die undurchsichtigen Steuerschemata korrigiert, kommt einer angezündeten Zündschnur innerhalb einer imaginierten Stabilität gleich. Ausgehend von einer nicht beneidenswerten Kurzsichtigkeit, die die Staatsmacht bewiesen hatte, ist die Initiative einer steuerrechtlichen Neuordnung jetzt in die Hände der Unternehmer übergegangen – den Antriebsmotoren der realen Ökonomie. Und die Staatsmacht wird gezwungen sein, zu verhandeln und Zugeständnisse zu machen.

Heute unterstellen die wichtigsten Reformer der Staatsgewalt dem kleinen und mittleren Unternehmertum, dass es keine Steuern zahlen wollte. Aber das ist keineswegs korrekt.

Erstens: Wenn das Unternehmertum davon ausgehen könnte, dass die gezahlten Steuern zur Finanzierung der sozialen Wohlfahrt, für Pensionen, Krankenkassen, Bildung verausgabt würden, dann gäbe es keinen Grund, diese nicht zu zahlen. Angesichts der existierenden Sachlage sind die Menschen einfach nicht davon überzeugt, dass die Steuern genau in die versprochene Richtung fließen, und nicht in die Taschen der Beamten oder Oligarchen.

Zweitens sollte es tatsächlich um Steuern im ökonomischen Sinne gehen. Wenn vom Unternehmertum Gewinne abgeschöpft werden, aber dieses nicht weiß, wohin die Staatsausgaben fließen, dann handelt es sich nicht um Steuern im eigentlichen Sinne, sondern um Grundzins, Fronabgaben, Rente.

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Die Steuer ist ein gesetzlicher Prozentsatz vom Gewinn, der vom Steuerzahler kontrolliert und für die Finanzierung des öffentlichen Wohls durch den Staat aufgewendet wird. Der Fiskus sieht sich nicht der Aufgabe gegenüber, die eingezogenen Steuern einfach zu verausgaben, seine Aufgabe besteht vielmehr darin, die Haushaltseinkünfte für die Produktion und Reproduktion des öffentlichen Wohls einzusetzen.

In diesem Fall arbeitet der Staat, der die Verfügungsgewalt über das Steuersystem inne hat, wie ein Motor zur Produktion des Gemeinwohls und zum Nutzen der Öffentlichkeit. Darin liegt das soziale Wesen von Steuern. Die derzeitige Fassung des Steuergesetzbuches erweist sich demgegenüber als Abschöpfung von Lehnzins und Fronabgaben.

Wenn in der Realpolitik begonnen wird, über Steuern und das Steuersystem zu diskutieren, dann zeugt dies davon, dass eine öffentliche Nachfrage nach realistischen und nicht geheuchelt-glamourösen Politikern, nach echten, sozial aktiven und nicht dekorativ-virtuellen Parteien entstanden ist. Und auf ökonomischer Ebene kommt dies einer Nachfrage nach einer neuen, national-ökonomischen Politik gleich, und nicht einer Konservierung korrumpierender Privilegien zu Gunsten einer extrem reichen Oligarchie.

Die Knackpunkt der gegenwärtigen historischen Stunde besteht darin, ob die Parteien es vermögen, die politische Agenda zu fassen.

Die ukrainische Elite sollte begreifen, dass die Zeit für Spielchen dekorativer und öffentlichkeitswirksamer Krawattenträgerparteien vorbei ist, wie auch die Zeiten für „Auftritte im Volk“ und Wählerstimmenmanipulationen. Das heißt, dass die Zeiten für die Parteien der Elite vorüber sind, die über keine eigene soziale Basis, öffentliche Unterstützung oder ein ideologisches Fundament verfügen.

Jetzt hat sich die Chance eröffnet, Parteien zu formieren, die auf einer neuen sozialen Gesellschaftsstruktur fundieren, welche die realen sozial-ökonomischen und politischen Interessen der neuen Gesellschaftsschichten widerspiegelt.

Politik beschränkt sich nicht darauf, Forderungen nach dem Rücktritt gescheiterter Politiker auszuformulieren, sondern beinhaltet auch soziale Interessen in politische Forderungen zu gießen, in ein Parteiprogramm mit dem Ziel mit politischen, legitimen Methoden zu agieren.

Ein positiver Aspekt des Maidans der Unternehmer besteht auch in der Tatsache, dass die Politiker nicht aktiv an diesem partizipieren.

Einerseits ist dies ein Anzeichen für das Fehlen des Vertrauens der Bürger in das gesamte politische System. Die Unternehmer möchten in keiner Weise mit irgendjemanden aus den Parteien oder aus den Politikerreihen in Verbindung gebracht werden.

Andererseits wäre dies notwendig, damit der Protest nicht in einem blinden, ungezügelten und unkontrollierten Aufruhr mündete, der sich schwer mit politischen Mitteln eindämmen lassen würde.

Damit dies ein zivilisierter demokratischer Protest wird, muss dieser politisiert werden, eine politische Gestalt bekommen, was nur durch eine vollkommen neue Partei realisiert werden kann, die von unten organisiert wird. Lediglich ein derartiger Parteientyp vermag es, die Forderungen und Überzeugungen dieser Bewegung zu formulieren, die Konzeption eines neuen Steuersystems vorzulegen. Die Bildung einer solchen Partei ist jedoch eine Angelegenheit der nahen Zukunft.

Noch wird danach gefragt, auf wessen Seite die Regierung stehen wird: Auf der Seite der Mittelklasse oder der der Oligarchen, der des einfachen Ukrainers oder der der windigen Beamten?

Wird die Staatsmacht weiterhin eine bürgerliche Gesellschaft aufbauen oder die oligarchischen Strukturen konservieren?

Werden die grundlegenden bürgerlichen Rechte und Freiheiten implementiert: Das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum? Oder bleiben diese „Privateigentum“ der Oligarchen?

Diese Frage tangiert die Wirtschaftsform, die die Ukraine wählen wird: Die europäische, bürgerlich-ökonomische, mit einer gerechten Gesetzgebung, einem legitimen Steuersystem, einer Gleichheit bezüglich der Möglichkeiten oder das autoritäre, monopolistische Modell des bürokratischen Kapitalismus mit Privilegien für die Oligarchen, „privatisierten“ Gerichten, mit einem grundzinspflichtigen Steuersystem und restringierten Möglichkeiten.

Die Staatsmacht wird Bedenken erheben und auf Zeit spielen. Dabei ist die Antwort simple: Den gemeinen Durchschnittsukrainer zu retten, heißt die Ukraine zu retten, den Oligarchen zu retten, heißt den Oligarchen zu retten.

Wie lautet ihre Antwort, Herr Präsident?

23. November 2010 // Wadim Karassjow

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:    — Wörter: 1307

Jahrgang 1978. Yvonne Ott hat Slavistik und Wirtschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg studiert. Seit 2010 arbeitet sie als freie .

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