Der tatarische Hetman
Im Mai 1692 wurde die Ukraine zu einem unabhängigen Staat erklärt. Die Grundlage hierfür bildete eine Übereinkunft zwischen „seiner Durchlaucht dem Khan der ganzen Krym“ Safa Giray und dem „von Kyjiw und Tschernihiw abgetrennten Fürstentum aller Truppen Saporischschjas und des kleinrussischen Volkes“.
Diese Übereinkunft kam zustande auf Initiative eines Mannes namens Petro Iwanenko, ehemaliger Hauptkanzlist in der Obersten Kriegskanzlei des Hetmans Iwan Masepa. Am 23. April machte sich Iwanenko zusammen mit 60 Kosaken auf den Weg nach Kizi-Kermen, wo er am 26. Mai einen Ewigen Frieden mit dem Khan der Krym schloss.
Petro Iwanenko, wegen dienstlicher Angelegenheiten nach Hadjatsch und nach Poltawa geschickt, tauchte 1691 unerwartet in Saporischschjaschje auf. Man nannte ihn nach seinem Spitznamen, den er wohl von Iwan Masepa erhalten hat, Petryk.
Der bekannte ukrainische Historiker Oleksandr Ohloblyn schrieb in seiner Arbeit über „Hetman Iwan Masepa und seine Zeit“ [ukr. Het’man Iwan Masepa ta joho doba, Anm.d.Übers.]:
„Petro Iwanovitsch Iwanenko stammte aus dem Poltawaer Regiment (aus Poltawa oder aus der Stadt Nowi Sanschary) und war, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Sohn eines Kosaken. Als fähiger, gebildeter und erfahrener Mann schaffte er es bis in die Oberste Kriegskanzlei, wo er auch bald das Amt eines Kanzlisten bekleidete. Dabei geholfen haben dürfte ihm ebenso seine Ehe mit der Nichte des Generalschreibers Wassyl Kotschubej, einer Enkelin des Oberst Fedor Schutschenko vom Poltawaer Regiment. 1689 war Petro Iwanenko einer von acht Kanzlisten, die zusammen mit dem Hetman nach Moskau fuhren. Auf der Gesandtschaftsliste nahm er dabei bereits den ersten Platz nach Wassyl Tschujkewytsch ein, dem zukünftigen Leiter der Obersten Kriegskanzlei und Generalrichter. 1691 war Petryk schon Hauptkanzlist und genoss das volle Vertrauen und die Gunst sowohl von Kotschubej, als auch von Hetman Masepa selbst. Zu diesem Zeitpunkt besaß er bereits eine Familie (die Quellen erwähnen einen Sohn, er selbst spricht von „Kindern“) und einen ansehnlichen Besitz („feines Vieh“ in seinen eigenen Worten), unter anderem einen Hof bei Baturyn. Vor ihm stand eine vielversprechende Karriere innerhalb der Kosaken-Starschyna. Doch für einen ambitionierten Menschen war dies zu wenig.“
Es gibt Hinweise darauf, dass Petro Iwanenko die Kyjiw-Mohyla-Akademie abgeschlossen hat. Einfache Leute hätten auch nicht als Schreiber in der Militärkanzlei dienen können. Dem Beispiel Chmelnyzkyj’s folgend, versuchte er, gestützt auf die Krym, eine Erhebung der Kosaken einzuleiten, diesmal allerdings nicht gegen Polen-Litauen, sondern gegen das Moskauer Zarenreich.
An einem Bündnis mit Bachtschyssaraj war zu dieser Zeit nichts außergewöhnliches. Die Krymtataren waren die einzigen, wenn auch mitunter unzuverlässigen Verbündeten von Bohdan Chmelnyzkyj gewesen. Ebenso hatte Petro Doroschenko auf sie gesetzt und auch andere Hetmane ihre Hilfe ersucht.
Was aber brachte Petryk dazu, sich mit einigen Gleichgesinnten in die Sitsch zu begeben? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage werden wir nicht finden. Möglich ist, dass dies mit Ermächtigung der politischen Kreise in Poltawa und Baturyn geschah. Wenn dem so ist, hätte er gar im Auftrag von Masepa oder Kotschubej handeln können. Es ist bekannt, dass der Hetman mit seinem Generalschreiber, der selbst nach dem Hetmansstab strebte, ständig in Streit geriet. Ohloblyn vermutet, es könnte Masepa gewesen sein, der Iwanenko beauftragt hat, um über ihn einen Vertrag mit den Tataren und Türken zu schließen und sich mit ihrer Hilfe der Moskauer Fesseln zu entledigen. Als deutlich wurde, wie wenige Kosaken sich Petryk anschlossen, sah er sich gezwungen gegen ihn aufzutreten, um seine Absichten nicht zu enthüllen. Obwohl doch Masepa selbst die „Unternehmung Petryks Kotschubej und anderen Führern der Opposition gegen ihn zuschrieb. Letztendlich beschuldigte er Kotschubej direkt, die Flucht Petryks und dessen weitere Handlungen in Saporischschja und auf der Krym vorbereitet zu haben. Das sagte der Hetman ihm nicht nur direkt ins Gesicht und stritt sich heftig mit ihm darüber, sondern gab auch den Befehl, ihn ‚unter Bewachung in Ketten zu legen‘. So wurde dies die offizielle Version der ukrainischen Regierung, obwohl nicht die für die breiteren Masse vorgesehene, und zugleich die öffentliche Meinung, die in dieser Zeit jedoch keine offizielle Bestätigung erfuhr. Das wusste man auch in Moskau und auf der Krym. Petryk selbst verheimlichte im übrigen nie seine Verbindungen innerhalb der Starschyna“, heißt es bei Ohloblyn.
Petryk verbrachte über ein Jahr in der Sitsch, wo er zum Lagerschreiber wurde. Die Wichtigkeit dieser Stellung gab ihm die Möglichkeit, nähere Bekanntschaft mit den Menschen innerhalb der Gemeinschaft zu machen. Mehr und mehr agitierte er unter ihnen für das freie Kosakentum und gegen Masepa, gegen die reiche Starschyna und besonders gegen Moskau. Im Frühjahr 1692 traf er mit 60 Kosaken in Kizi-Kermen ein, der zentralen Festung im Befestigungsring am unteren Dnjepr. In seiner Eigenschaft eines ehrwürdigen Vertreters der Sitsch-Hierarchie, stellte er sich als offizieller Gesandter aus Saporischschjaschje vor und begann die Verhandlungen mit dem Khan der Krym. Von hier aus streute er seine Botschaften in die Sitsch, von hier aus fuhr er nach Bachtschyssaraj.
Am 26. Mai 1692 schloss Petryk das Bündnis mit der Krym, im Namen eines (so wie er es sich vorstellte) freien Staates auf den Prinzipien der „Gleichheit und wechselseitigen Verpflichtungen“. Am 18. Juli wurde Petryk in Kalantschak, unter Anwesenheit des Khans und des Kalga-Sultans, zum Hetman erklärt. Noch Ende desselben Monats machte er sich zusammen mit dem Kalga-Sultan (also dem Thronfolger) an der Spitze eines 20.000 Mann starken tatarischen Heeres auf den Weg.
Sich der Sitsch nähernd, schickte Petryk dem Lager-Ataman Iwan Husak die Forderung, ihn mit Brot und Salz zu empfangen. Husak lehnte ab. Unter den Kosaken jedoch begann eine Erhebung und viele von ihnen liefen zu Petryk über. Masepa und Kotschubej beschuldigten sich derweil gegenseitig der insgeheimen Unterstützung Petryks. Masepa verschickte Briefe, die voller Hass gegenüber dem selbsternannten Hetman waren. Als es Petryk nicht gelang, die belagerte Festung Nowobohorodyzka einzunehmen, zog er zu den äußersten Städten des Poltawaer Regiments am Oril. Das war eine Reaktion auf die Verbreitung eines Briefes durch die Poltawaer Starschyna, in dem sie sich abfällig über Petryk ausließen: „als armer Bettler von niederer Herkunft gibt es nichts, was du Gutes über dich sagen kannst. Wir wissen alle, dass dein Vater ein Bettler war und in unserer Stadt Poltawa im Spital gelebt hat und dass du, der sich in der Schule mit Bettlern abgab und unter unseren Fenstern herumlungertest, dich von Brotkrumen ernährt hast.“ Der Brief war vorsätzlich in beleidigender Form geschrieben, da Petryk in Poltawa viele Anhänger besaß. Auch war er dort noch verbunden mit dem alten Poltawaer Oberst Schutschenko und der Familie Iskor.
Der Poltawaer Brief erzürnte Petryk. In der Chronik des Samijlo Welytschko heißt es: „als er ihn gelesen hatte, da entmutigte und beschämte ihn dies wohl, jedoch bändigte es nicht seinen Zorn und er überzog die genannten Städte am Oril mit Krieg, welche (besonders Kitajhorod) vor der großen Stärke dieser Horde in Furcht gerieten – eine aufgrund ihrer Schwäche und geringen Bevölkerung, aber ebenso wegen der geringen Zusendung von Truppen aus dem Myrhoroder Regiment und anderer; eine zweite, Zarytschanka, aufgrund ihrer Abgeschiedenheit (und der Erwägung, dass man umsonst auf die Hilfe des Hetmans hoffen würde), befand sich dieser doch mit seinen Truppen bei Hadjatsch. Jene Städte also unterwarfen sich dem Sultan und Petryk und brachten ihnen zu essen und zu trinken, wofür der Kommandeur Zarytschankas späterhin zum Tode verurteilt wurde – dies geschah am 2. Dezember 1692. Und Salo, der Kommandeur von Kitajhorod wurde in Poltawa öffentlich ausgepeitscht und nach Sibirien verbannt.“
Zu dieser Zeit kamen von der Krym Meldungen über einen Aufstand der Mirza und der Bey gegen den Khan. Die Tataren kehrten daraufhin nach Hause zurück und Petryk, dem selbst kaum mehr als 80 Kosaken an seiner Seite geblieben waren, zog sich ebenfalls nach Perekop zurück. Damit endete der erste und realistischste Versuch des Petro Iwanenko die Ukraine zu befreien.
Nach diesem Fehlschlag schickte er jedoch erneut Briefe in die Sitsch, um zu beweisen, dass die Sache noch nicht verloren war. Petryk erhielt von dort allerdings keine Unterstützung mehr. Während einem seiner folgenden Feldzüge schrieb er, sich an die Bewohner der Sitsch wendend: „Wenn ihr jetzt nicht loszieht, dann verliert ihr eure Freiheiten und befreit die Ukraine niemals aus der Untergebenheit Moskaus…Moskau wird euch aus der Sitsch verjagen, eure militärischen Freiheiten wird man euch nehmen.“ Und so geschah es im Laufe der Zeit auch.
Anfang Januar 1693 begab sich Petryk zusammen mit dem Nuraddin-Sultan, dem Schir-Bey und 40.000 Krymtataren, nachdem sie dem neuen-alten Khan Selim I. Giray (es war seine dritte Herrschaft von insgesamt vier) gehuldigt haben, auf den zweiten Feldzug. In der Sitsch jedoch verweigerte man ihm die Unterstützung und das Heer versuchte auf Poltawa zu ziehen. Ohne den kleinsten Erfolg erzielt zu haben, kehrten sie auf die Krym zurück. Es folgten noch weitere Versuche, mit Hilfe der Krymtataren einen Aufstand in der Ukraine zu entfesseln, doch kamen diese zumeist über einen lokalen Charakter nicht hinaus.
Der Wind aus dem Süden, bildlich gesprochen, erwies sich zum wiederholten Male als ein verheerender Wüstenwind und die Ukrainer entschieden sich erneut für das, wie es ihnen schien, kleinere Übel – die Moskauer Herrschaft.
Man wandte sich dennoch nicht überall von Petryk ab. Die Bewohner entlang der Grenze verließen ihre zerstörten Gegenden und siedelten in das Gebiet zwischen Südlichem Buh und Dnister über, also in das Khanat der Krym. Der Zustrom der Umsiedler war anfangs beträchtlich und verstärkte sich noch nach der Niederlage des von Semen Palij geführten Aufstandes, als die polnisch-litauische Regierung das Hetmanat in der rechtsufrigen Ukraine auflöste. Auf der anderen Seite der polnisch-litauischen Grenze wurde das Gebiet von Petryk, seit 1695 „Hetman der Khan-Ukraine“, im Auftrag des Khans verwaltet. In den gerade erst in der Steppe gegründeten Dörfern führten Kosaken ihre Wirtschaft, unter anderem ein ehemaliger Kommandeur von Semen Palij und Hawrylo Olejtschenko, eine Kosake aus dem Fastiwer Regiment. Auch die Namen der anderen Hetmane des Khans sind bekannt – Iwan Bahatyj und Stezyk (Stezka) Jahorlyzkyj, jener Kosake, der als Hetman „von Seiten des Khans“ bezeichnet und im Winter 1692 mit einem tatarischen Heer nach Podolien zog.
Umfangreicher war noch einmal der Feldzug des Jahres 1696, als im Januar ein gewaltiges tatarisches Heer – bestehend aus Krymtataren, Tataren aus Bilhorod u.a. – mit der Absicht nach Baturyn zu ziehen im Süden des Hetmanats auftauchte, in den Gebieten Poltawa, Myrhorod und Hadjatsch. Unter den Truppen aus Bilhorod befand sich auch Petryk. Hetman Masepa mobilisierte einige Regimenter und begab sich selbst mit dem übrigen Heer auf einen Feldzug nach Lochwyzja, wohin er auch Scheremetjew um Hilfe rief, der sich zu dieser Zeit in Ochtyrka aufgehalten hatte. Außerdem befahl er dem Kommandeur von Baturyn sich auf die Verteidigung der Stadt vorzubereiten. Letztlich blieb aber auch dieser Feldzug Petryks nach einigen Anfangserfolgen ohne Ergebnisse. Unter den Tataren kam es zu Streitigkeiten und das frühzeitige Tauwetter zwang ihn zum eiligen Rückzug. Es wiederholte sich die übliche Geschichte: Kitajhorod im Poltawaer Regiment wurde von den Tataren „völlig niedergebrannt, nur jene konnten sich retten, die in der örtlichen Festung Zuflucht gesucht hatten, Kischepka und Keleberda wurde dasselbe Schicksal zuteil“. Im Myrhoroder Regiment „zerstörten die Tataren die Städte und Dörfer am Fluss mit Feuer und Schwert; die Leute wurden an Ort und Stelle erschlagen, Gefangene wurden keine gemacht.“ Die Truppen der Krym, auf ihrem Rückzug durch das Poltawaer Regiment, „ergriffen, schon ohne Kraft weiter zu morden, die Leute wo auch immer sie welche antrafen“ (Chronik des Samuel Welitschko).
Das war der letzte Versuch Petryks, die Taten Chmelnyzkyj’s zu wiederholen – allerdings gegen Moskau, gegen „die Moskauer Besatzer und ihren Herren“, wie er schrieb. Petryk beunruhigte als Hetman der „Khan-Ukraine“ noch eine Zeit lang danach die ukrainische und die Moskauer Regierung. Mitte der 1690er Jahre in diese Stellung ernannt, wird er – im Zusammenhang mit den Ereignissen des neuerlichen Russisch-Türkischen Krieges und den Aktivitäten Masepas in der Emigration – zum letzten Mal in den Jahren 1711/1712 als „Hetman von Dubăsari“ erwähnt. Darüber schreibt Oleksandr Ohloblyn, der sogar eine Zusammenarbeit Petryks mit Pylyp Orlyk während der Ausarbeitung der Verfassung von 1710 vermutet. Allerdings bleibt dies lediglich Spekulation.
Was für ein Mensch war er also, dieser Petryk Iwanenko? Ein Abenteurer, ein Verräter, ein Patriot? Sein Auftauchen am historischen Horizont verrät, dass das Volk jene Freiheiten noch nicht vergessen hatte, die es sich unter Chmelnyzkyj erkämpfte. „Die Menschen haben schon immer ihre Propheten getötet, beginnend mit Christus und bis in unsere Tage“, schrieb der Schriftsteller Hnat Chotkewytsch. Und dafür musste das Volk leiden, denn die Prophezeiung Petryks sollte sich bewahrheiten: „Hey, Ukrainer, nehmt euch in acht. Wenn ihr jetzt eure Freiheiten nicht erringt, werden wir ewig die Sklaven Moskaus bleiben.“
15.04.2016 // Wolodymyr Dumanskyj
Quelle: Dserkalo Tyschnja