Theatre of Displaced People: Zwischen Kunst, Sozialarbeit und Therapie. Ein Gespräch mit der Teilnehmerin des Theaters Anastassija Pugatsch
Von der Kunst um der Kunst willen hält man nicht viel im Theatre of Displaced People. Diese ungewöhnliche Kiewer Bühne, die vor einem Jahr vom deutschen Regisseur Georg Genoux, der Dramatikerin Natalja Woroschbyt und dem Kriegspsychologen Olexij Karatschynskyj ins Leben gerufen wurde, war von Anfang an als Projekt an der Schnittstelle zwischen Kunst, Sozialarbeit und Kunsttherapie gedacht.
Die Darsteller des Theaters sind keine Berufsschauspieler. Die meisten von ihnen sind Binnenflüchtlinge aus dem Donbass, aber auch ehrenamtliche Helfer und Soldaten. Auf der Bühne erzählen sie ihre eigenen Lebensgeschichten – von Krieg, Flucht und Hoffnung, arbeiten dadurch ihre Traumata auf und werden zur Stimme von Hundertausenden Vertriebenen aus der Ostukraine, die sonst nur wenig Gehör finden.
Schnell wurde das Projekt zu einem Erfolg – und zwar nicht nur in der Ukraine, wo es Ende 2015 von Kritikern als Theaterprojekt des Jahres bezeichnet wurde, sondern auch im Ausland. Mittlerweile absolvierte das Theatre of Displaced People eine Tournee in Deutschland und arbeitet mit dem renommierten Berliner Maxim Gorki Theater zusammen.
Eine der TeilnehmerInnen des Theaters, die von Anfang dabei ist, ist Anastassija Pugatsch. Sie ist für die Pressearbeit zuständig und nimmt auch als Darstellerin an den Aufführungen teil. In einem Gespräch erzählte die aus Donezk stammende Journalistin, wie das Projekt den Binnenflüchtlingen hilft.
Anastassija, wie bist du zum Theatre of Displaced People gekommen?
Das ist eine interessante Geschichte. Ich arbeite für einen Donezker TV-Sender, der zurzeit in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sendet. Einmal habe ich im Internet gelesen, dass ein deutscher Regisseur eine Theateraufführung mit Binnenflüchtlingen machen will. Ich fand das sehr interessant und kam, um einen Beitrag darüber zu drehen.
Ich sah dort bekannte Gesichter. Ich kannte einen Mann, der an der ersten Aufführung – „Wo ist Osten?“ – teilnahm. Ich hatte früher, noch in Donezk, ein Interview mit ihm gemacht, als er dort in einer Wohlfahrtsstiftung arbeitete. Er sagte, dass er sich zurzeit wie ein Steppenläufer fühlt. Diese Worte waren wie ein Stromschlag für mich: Ich hatte genau das Gleiche meinen Freunden schon gesagt – wortwörtlich. Das war auch mein Gefühl: Ein Mensch ohne Zuhause, der nicht weiß, wo er hingehört, wer er jetzt überhaupt ist.
Alles, was die Menschen aus dem Donbass erzählten, kannte ich nur zu gut. Das war einfach unglaublich. Mir wurde klar, dass es für mich mehr als nur ein Interview sein wird. Nach dem Dreh sagte ich, dass ich selbst aus Donezk bin. Olexij Karatschynskyj, Psychologe und einer der Begründer des Theaters, schlug mir vor, zu bleiben und an einer Aufführung teilzunehmen.
Beim ersten Gespräch waren nur ich, Olexij und Georg dabei. Ich erzählte ihnen meine ganze Geschichte. Das dauerte mindestens vier Stunden. Ich bekam einen echten hysterischen Anfall und habe damals eine ganze Schachtel Papiertücher verbraucht.
So bin ich im Theater geblieben. Dann fragte man mich, ob ich mich dem Team anschließen und mit meiner journalistischen Erfahrung dem Projekt helfen möchte.
Seitdem haben wir sehr viel gemacht: Aufführungen in verschiedenen ukrainischen Städten, eine Tournee in Deutschland. Ende 2015 wurden wir von der Zeitung gazeta.ua als Theaterprojekt des Jahres bezeichnet.
Nimmst du auch selbst an den Aufführungen teil?
Ja. Ich habe an der Aufführung „Wo ist Osten?“ teilgenommen. Das war die erste Aufführung des Theaters der Binnenflüchtlinge. Die Premiere war im Oktober 2015. Bei „Wo ist Osten“ handelt es sich um die Geschichten der Binnenvertriebenen aus dem Donbass. Mit diesem Stück wurde auch die Bühne der Binnenflüchtlinge beim diesjährigen Festival Gogolfest in Kiew eröffnet. Das war die stärkste Aufführung. Einfach unglaublich. Sogar wir selbst wurden vom Stück mitgerissen.
Wie viele Menschen machen eigentlich beim Theater der Binnenflüchtlinge mit?
Wir sind kein staatliches Theater und haben keine ständige Truppe angestellter Schauspieler. Es gibt aber einen Kern, ein Organisationsteam. Dazu gehören Georg, ohne den es unser Theater nicht geben würde, Natalja Woroschbyt, Olexij Karatschynskyj, der auch als Psychologe tätig ist, unser technischer Direktor Wassyl Bilous und ich. Ich bin für PR zuständig. Ich bin eigentlich der einzige Binnenflüchtling in diesem Organisationskern. Das Theater wurde zwar nicht von Binnenflüchtlingen gegründet, doch die meisten Menschen, die daran teilnehmen, sind es. Sie machen als Darsteller, als ehrenamtlicher Helfer mit.
Und was ist das Publikum?
Viele Zuschauer stammen aus dem Donbass. Besonders am Anfang war es so. Viele kamen zu unseren Aufführungen, um ihre Freunde auf der Bühne zu sehen. Bei der ersten Aufführung war der Saal voll. An jenem Abend haben wir zwei Aufführungen hintereinander gespielt: Es kamen so viele Menschen, dass der Platz nicht reichte. Beide Male war der Saal voll. Ich habe „gespielt“ gesagt, obwohl es eigentlich gar kein Schauspiel ist: Wir spielen nicht, sondern erzählen unsere wahren Geschichten.
Und wie kommen die Aufführungen des Theaters im Ausland an?
Wir haben im Ausland das Stück „Die Ware“ gezeigt. Das ist ein dokumentarisches Stück, die Geschichte von Alik Sardarjan, der an den Kämpfen um Debalzewe teilgenommen hatte. Er war Sanitäter in einem Feldlazarett, mitten in der Hölle. Alik erzählt, wie es dort war, wie er mit dem Tod konfrontiert wurde. Einmal wurde ein verwundeter Separatist ins Lazarett gebracht. Alle haben sich darüber gefreut, dass er überlebte – sogar der Soldat, der ihn angeschossen hatte.
Dieses Stück war ein tiefer Schock für deutsche Zuschauer. Alik erzählte, dass viele den Saal während der Aufführung verließen – so schockierend war sein Bericht für sie. Er zeigte auch Videos, die er an der Front gedreht hatte. Die Zuschauer konnten einfach nicht fassen, dass so etwas in Europa geschieht. Alle haben sich daran gewöhnt, dass Kriege irgendwo weit weg sind, aber nicht in Europa. Und da findet ein schrecklicher Krieg ganz in der Nähe statt: Mit Artilleriebeschuss, mit vielen Toten. Für ausländische Zuschauer war das alles schockierend.
Wie hilft das Theater den Binnenflüchtlingen?
Als Binnenvertriebene, die den therapeutischen Effekt des Theaters selbst erlebte, kann ich sagen, dass das Theater vor allem hilft, sich von der Last der traumatischen Erlebnisse zu befreien.
Menschen, die das selbst nicht erlebt haben, können sich gar nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben und durchmachen, wie schwierig und traumatisierend das ist. Wir werden oft gefragt, was der Unterschied zwischen uns und anderen Menschen sei, die die Entscheidung getroffen haben, nach Kiew zu gehen und hier in gemieteten Wohnungen leben. Die Antwort liegt schon im Wort „Entscheidung“. Wir haben uns nicht freiwillig entschieden, wegzugehen. Der Krieg entschied es für uns.
Manche gingen nach Kiew, weil sie nicht in der Hölle des Krieges bleiben wollten. Sie flüchteten vor dem Krieg. Manche sind weggegangen, weil sie unter dem Regime der Separatisten nicht leben konnten. Ich selbst bin im Juli 2014 vor allem deswegen weggegangen, weil ich in jener Realität nicht mehr sein konnte. Man hat mich angerufen und gesagt, dass es eine Möglichkeit gibt, schon am nächsten Tag nach Kiew zu gehen. In Donezk konnte man damals schon nicht mehr als Journalist arbeiten. Man fragte mich, ob ich Zeit zum Überlegen brauche. Ich sagte: „Nein, ich will hier sofort weg“. Ich konnte nicht mehr dort leben. Ich wollte weg von dort.
Das Theater hilft damit, dass man seine Geschichte verbalisieren und sie dadurch loslassen kann. Eine Geschichte, die du ausgesprochen hast, ist nicht mehr Teil deines Schmerzens, sondern Teil der Vergangenheit. Und wenn man die Vergangenheit zurückgelassen hat, kann man weiter leben. Vor einem Jahr habe ich mich verloren gefühlt, als Steppenläufer. Heute habe ich dieses Gefühl nicht mehr.
Das Theatre of Displaced People ist also mehr Therapie als Kunst?
Das würde ich nicht sagen. Das Dokumentartheater ist an sich ein besonderes Genre. Das sind keine erfundenen, sondern reale Lebensgeschichten, unabhängig davon, ob sie von Schauspielern oder von Protagonisten selbst aufgeführt werden. Für mich ist unser Theater vor allem doch ein Theater. Das ist Kunst, aber keine Kunst um der Kunst willen. Heute, wo in unserem Land Krieg herrscht, darf man keine Kunst um der Kunst willen, einfach nur zur Unterhaltung, machen. Das können wir uns heute nicht leisten.
Hast du dich am neuen Ort integrieren können, dich an das Leben in Kiew gewöhnt?
Mittlerweile schon. Ich habe jetzt aber ein anderes Problem. Ich kann und will nicht mehr zurück. Ich sehe für mich keinen Weg zurück mehr. Viele meine Freunde fragen mich, ob ich nicht nach Donezk reisen und mein Zuhause wiedersehen möchte. Aber ich will nicht dorthin fahren. Dabei reise ich sehr gerne nach Mariupol, nach Kramatorsk. Ich vermisse die Landschaften des Donbass, ich mag die Steppe. Das sind für mich die schönsten Landschaften der Welt. Ich habe im Mai meine Freunde in Kramatorsk besucht. Ich war geradezu begeistert, als ich diese flache und freie Landschaft wiedersah, diese Weite, soweit man blicken kann!
Alle meine Freunde haben Donezk verlassen und leben heute in Kiew oder in Odessa. Ich habe niemanden mehr in Donezk, außer meinem Vater, den ich sehr vermisse.
Fühlst du dich nicht mehr als Binnenflüchtling?
Doch, ich fühle mich immer noch als Binnenflüchtling. Ja, es gibt Probleme. Wir Binnenflüchtlinge sind keine vollwertigen Bürger unseres Landes. Ich habe kein Stimmrecht – ich kann zum Beispiel nicht an Regionalwahlen teilnehmen. Das gefällt mir nicht, weil ich hier bleiben und mich am Leben der Gemeinde beteiligen will. Das kann ich aber nicht, obwohl ich schon seit zwei Jahren in Kiew lebe. Ganz zu schweigen davon, dass Binnenflüchtlinge kontrolliert werden. Das macht ihnen das Leben schwer.
Warum ist es so? Will die Regierung nicht, dass Binnenflüchtlinge an neuen Orten Fuß fassen?
Ich denke, die Regierung will, dass möglichst viele Binnenflüchtlinge zurückgehen. Denn es fällt der Regierung schwer, sich um sie zu kümmern. Dabei könnte man das Potenzial der Binnenflüchtlinge durchaus nutzen. Es waren die besten, die fähigsten Leute, die aus Donezk weggegangen sind – Professoren, Journalisten, Künstler. Fast alle von ihnen, die ich kannte, sind weggegangen. Das ist unsere intellektuelle Elite. Hier versteht man das nicht.
Wie geht es weiter mit der Ostukraine? Wie stellst du dir die Zukunft des Donbass vor?
Ich will sehr, dass dieser Krieg zu Ende geht. Ich träume davon, dass Donezk zur Ukraine zurückkehrt. Mir ist klar, dass es nicht so wie früher sein wird. Aber ich will nicht, dass Donezk ein neues Transnistrien wird. Ich träume davon, dass Donezk wieder Teil des friedlichen und schönen Landes wird – der Ukraine, meiner Heimat. Ich glaube trotz alledem, dass es geschehen wird. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, dass ich das noch erleben werde.
Was muss man dafür tun?
Allem voran müssen die Kämpfe aufhören. Solange gekämpft wird, kann keine Rede von einer Rückkehr sein. Wenn ich sehe, dass immer neue Waffenstillstandsvereinbarungen unterzeichnet werden, und der Krieg nach kurzer Ruhe mit voller Kraft wieder los geht, bekomme ich Angst, dass dieser Konflikt sich noch über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinziehen wird. Davor, dass der Krieg nicht zu Ende geht, habe ich am meisten Angst.
Das Interview führte Nikolai Mratschinski.