Als ein Staat und ein „frisch erschienener“ Spieler auf der geopolitischen Bühne erlebt die Ukraine heutzutage eine echt schwierige Zeit, voll von Unsicherheit, Bedrohungen, Armut und dem Versuch zu überleben. Die Tatsache, dass wir einen Krieg haben und ein Teil des ukrainischen Territoriums von Russland okkupiert wurde, ist weltweit bekannt und anerkannt. Aber, wie die Erfahrung zeigt, ist das ausländische Verständnis der aktuellen Lage in der Ukraine meistens ziemlich oberflächlich.
Seit 2014 dauert innerhalb des Landes die Flucht der Vertriebenen, die wegen der Okkupation der Halbinsel Krim und des Krieges in der Ostukraine gezwungen sind, Schutz und Lebensrettung in von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten zu suchen. Laut offiziellen Angaben betrug im August 2016 die Zahl der Binnenvertriebenen in der Ukraine beinahe 1.800.000 Personen und 0,8 Prozent davon waren Krimtataren (etwa 15.000 vertriebene Personen).
Wie leben Qirimli (Krimtataren auf Krimtatarisch) im neuen Wohnort, nach dem Verlassen des eigenen Hauses, und wie geht es den anderen, die auf der Krim geblieben sind? Diese Fragen versuche ich im folgenden Teil des Artikels zu beantworten.
Das Leben nach der Flucht
Die meisten Krimtataren befinden sich in den südlichen Regionen der Ukraine (weil sie sich näher zur Verwaltungsgrenze zwischen der Halbinsel und dem Festland der Ukraine befinden), sowie in den zentralen und westlichen Regionen der Ukraine (Lwiw, Poltawa, Iwano-Frankiwsk, Winnyzja). Es ist wichtig hervorzuheben, dass neben der Süd- und Westukraine auch Kyjiw eine der Spitzenpositionen innehat. Denn die Hauptstadt bietet zahlreiche Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und auch zur Unterstützung der Vertriebenen vonseiten der krimtatarischen Gemeinschaft, die in Kyjiw auf gutem Niveau vertreten ist.
Anderseits schafft die Westukraine eine geeignetere Umgebung für Lebensunterhalt, Kulturförderung und wirtschaftlichen Aufstieg der Krimtataren.
Da die Krimtataren unter den ersten und aktivsten Gegner der Besetzung der Krim waren, haben sie gute und freundliche Beziehungen mit Aufnahmegemeinden aufgebaut. Aber dennoch stoßen sie auf einige Probleme, und das nicht nur während des Adaptionsvorgangs.
Foto: Stanislaw Jurtschenko, Radio Liberty - http://ru.krymr.com/a/news/27821700.html Diese Probleme liegen oft an den Handlungen der Staatsorgane und bestehen in Folgendem:- Die Schwierigkeit, eine vorübergehende oder dauerhafte Unterkunft zu finden. Dieses Problem wurde durch die hohen Unterkunftskosten verursacht und durch kaum vorhandene staatliche Unterstützung in dieser Angelegenheit verschlimmert.
- Das Fehlen eines klaren Verständnisses für die Bedürfnisse der Krimtataren (z.B. das Fehlen von grundsätzlicher Unterstützung in kulturellen, sozialen und anderen Bereichen).
- Mangel an ausreichendem Schutz und Gewährleistung von Rechten (begrenzter Zugang zu Bankgeschäften und Sozialdienstleistungen, Freizügigkeit, Justizgewährungsanspruch usw).
Es muss dabei angemerkt werden, dass der letzte Punkt nicht nur Krimtataren, die die Flucht überlebt haben, betrifft, sondern alle Binnenvertriebenen von der Krim und teilweise auch aus den Regionen Donezk und Luhansk.
In diesen Bereichen müsste unsere Regierung die Probleme anerkennen und mehr Verantwortung übernehmen, um bessere Lösungen zu finden und effektiv die Rechte und Freiheiten der Binnenvertriebene zu garantieren.
Jenseits der Grenze
Die Heimat und das vorherige Leben haben nicht alle zurückgelassen. Nach wie vor befinden sich auf der besetzten Krim viele Qirimli, die sich keinen alternativen Wohnort vorstellen können. Die Gründe hierfür sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch: Die grausame Zwangsverschickung durch die Sowjetregierung in 1944 wurde für das krimtatarische Volk eine echte Nationaltragödie mit ungeheuren Folgen. Und die Rückkehr auf die Krim in den 80er und 90er Jahren war kompliziert, aber gleichzeitig von ihnen besonders erwünscht. Deswegen lehnen zahlreiche Krimtataren, besonders Vertreter älterer Generationen, das Verlassen des eigenen Hauses und die Möglichkeit eines Umzugs sehr deutlich ab, obwohl die Politik der derzeitigen Okkupationsmacht eine ernsthafte Gefahr darstellt.
"Millet.Vetan.Qirim! - Nation, Heimat, Krim!", Foto: Wiktorija Sawtschuk Mehr als zwei Jahre der Okkupation demonstrieren eine klare Tendenz zur allgemeinen Verminderung von Lebensqualität und sozialwirtschaftlicher Entwicklung. Aber das Wichtigste ist die weitreichende Missachtung und Verletzung der Menschenrechte. Diese drückt sich aus in- Diskriminierung und Verfolgung der Krimtataren und ukrainischer Aktivisten;
- Rechtswidrigen Durchsuchungen, Verhaftungen, anderen Arten des Freiheitsentzugs (ein Beispiel – İlmi Ümerovs unfreiwillige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Simferopol);
- Eingriffen in das Recht auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit (auf der besetzten Krim werden 13 bis 20 Menschen vermisst, mindestens 6 Menschen wurden tot aufgefunden);
- Missachtung der Menschenwürde, der Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, des Brief- und Postgeheimnisses usw.
Die Liste der internationalen Verbrechen, begangen von der russischen Seite auf der Krim, ist leider unerschöpflich. Es kommt aber die Zeit, daraus Konsequenzen zu ziehen und Verantwortung zu tragen.
Wir können natürlich nicht vorhersehen, wann und wie der Konflikt in der Ukraine zu Ende gehen wird und die besetzten Territorien wieder unter die Kontrolle der ukrainischen Regierung gelangen. Jedoch können wir solidarisch und zielstrebig handeln, um Wahrheit und Gerechtigkeit zu erreichen. Ja, das Wort „solidarisch“ steht an erster Stelle und nicht ohne Grund. Schon Richard von Weizsäcker war der Meinung: „Nur eine solidarische Welt kann eine gerechte und friedvolle Welt sein“.
Und er hatte absolut recht.
Wiktorija Sawtschuk, ukrainische Juristin, Aktivistin, Menschenrechtsverteidigerin
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