Therapie mit animalischen Geistern
Der bekannte europäische Pädagoge Andry veröffentlichte ein Buch „Orthopädie, oder die Kunst, körperliche Missbildungen bei Kindern zu verhindern und auszubessern“1. Darin fordert er dazu auf, auf alle Arten von Prothesen, Korsetts und ähnlichen entlastenden Apparaturen zu verzichten und stattdessen auf animalische Geister zurückzugreifen, die, während sie ins Innere fließen, dieselbe genesende Wirkung auf das Kind hätten. Den unvollkommenen, deformierten Körper stellte sich Andry als eine Menge aus Dellen vor, die die animalischen Geister von innen herausdrücken könnten.
Sie sagen, das ist Mist? Das ist das Produkt einer kranken Einbildung? Nein, überhaupt nicht. Herr Andry ist nicht unser Zeitgenosse. Das damals bekannte Traktat veröffentlichte er 1741. Er war jedoch weder ein Arzt noch eine Person mit entsprechender Ausbildung. So ein Pädagoge, der auch noch aus dem Jahr 1741 stammt, macht verzeihliche Fehler. Damals war das Prinzip der evidenzbasierten Medizin nicht bekannt. Verzeihen wir Herrn Andry also seinen Fehler.
Doch heute befinden wir uns im 21. Jahrhundert, im Jahr 2013. Derjenige, um den es hier geht, ist ein Arzt, der eine zeitgenössische Ausbildung genossen hat und Professor ist (mit dem Gernegroß Sljusartschuk also keineswegs zu vergleichen). Er bietet ratlosen Eltern unverdrossen „heilende“ Delphine an, die als Erzieher und Lehrer deren autistischen Kinder behandeln sollen. Dieses Angebot wird einem keineswegs in einer dunklen Straßenecke gemacht. Auch nicht im Büro eines Wunderheilers. Sondern im Allerheiligsten: in einer medizinischen Einrichtung. Nun stimmen Sie mit mir doch bestimmt darin überein, dass es da eine gewisse Verbindung zu Herrn Andry gibt, dem französischen Professor und Pädagogen.
Den Namen unseres Zeitgenossen werde ich bewusst nicht nennen. Schon allein deswegen nicht, um nicht andere Scharlatane, Erfinder-Professoren, einfache Dozenten, Ärzte, Verbesserer-Pädagogen und all die anderen lebenden und nicht lebenden Therapeuten zu beleidigen.
Wie traurig und gemein. Die ukrainische Regierung versucht mit allen Mitteln zu Europa zu gehören. Und so wird jetzt auch eine Reform des Gesundheitswesens in Angriff genommen.
Aber bei uns herrscht wilder Kapitalismus. Der wildeste, einen wilderen gibt es nicht. In so einem Kapitalismus kann man alles – stehlen, schänden, töten, die Medizin-Studenten nach dem Prinzip „zahl und geh“ vorbereiten (kleine Anmerkung für alle Uneingeweihten: dieses Prinzip hat mit evidenzbasierter Medizin überhaupt nichts zu tun). Auch das Heilen mit Delfinen und Katzen ist erlaubt. Ja, auch mit Katzen. In einer unserer größeren Städte gibt es einen ukrainischen Psychotherapeuten (kein Arzt, sondern ein ausgebildeter Pädagoge), der seine notleidenden Patienten mit Felinotherapie-Sitzungen bespaßt, das heißt mit einer Katzentherapie. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er während seiner Jugend mit Andry`s Traktat Bekanntschaft gemacht hat.
Der bekannte Moskauer Psychologieprofessor W.P. Sintschenko (ein wirklicher Kenner seines Faches) hatte mal gesagt: „Ich erinnere mich an eine Diskussion über die Psychologie der Emotionen. Einer der Anwesenden äußerte seine Zweifel daran, ob es eine eigene sowjetische Psychologie der Emotionen gibt. Zweifellos gibt es jedoch eine Psychologie sowjetischer Emotionen.“ Einer von den russischen Intellektuellen und Sowjet-Regime-Hassern, witzelte bitter: „Die UdSSR – das ist die Heimat der Elefanten!“ Vielleicht hatte er recht. Sein Sarkasmus ließe sich folgendermaßen ergänzen: „Die UdSSR – das ist die Heimat heilender Delfine. Und wir, die Ukrainer, sind ihre Erben.“
23. September 2013 // Semjon Glusman
Quelle: Lb.ua
1 Andry, Nicolas (1741). L’orthopédie ou l’art de prévenir et
de corriger dans les enfants, les difformités du corps.