Die Ukraine in den Augen von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill
Nur wenige Tage sind vergangen seit der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung von Papst Franziskus und des Moskauer Patriarchen Kyrill in Havanna (Kuba), aber schon ist klar, welche Interpretationen des Textes in den orthodoxen und katholischen Kirchengemeinden sich durchsetzen werden. Jedenfalls erlauben die sich zeigenden Auslassungen über die „ukrainischen Punkte“ der Erklärung, Rückschlüsse über die Perspektiven der Erklärung von Havanna zu ziehen.
„Uniatismus“ oder „Union“?
In dem unterzeichneten Dokument wird die Ukraine in zwei von 30 Punkten erwähnt, in Nr. 26 und Nr. 27. Es ist völlig offensichtlich, dass noch zwei weitere Punkte, Nr. 24 und 25 direkte Bezüge zur Ukraine haben. In ihnen geht es um Probleme des Proselytismus und die Wechselbeziehungen zwischen Orthodoxen und Griechisch-Katholiken. Obgleich über diese beiden Fragen in der Erklärung nichts Neues gesagt ist, so hilft gleichwohl der Text dieser Punkte dabei zu verstehen, wie die Arbeit an der Vorbereitung dieses Dokuments vonstatten ging.
Ich denke am aufschlussreichsten ist in dieser Hinsicht Punkt 25. Er ist den Territorien gewidmet, „wo Spannung herrscht zwischen Griechisch-Katholischen und Orthodoxen. Die Ukraine erscheint mit diesem Namen „Territorium“. Es ist klar, dass dieser Punkt Ergebnis eines Kompromisses war. Die zweite Formulierung, die den Uniatismus verurteilt, ist ein offensichtliches Zugeständnis an die Moskauer Patriarchie. Der dritte Satz dagegen, der für die Katholiken des östlichen Ritus das Recht auf freie Existenz und pastorale Tätigkeit zugesteht, ist bereits ein deutliches Zugeständnis Moskaus an den Vatikan.
Es ist klar, dass in diesen beiden Sätzen jedes Wort mit großer Sorgfalt gewählt wurde. Als Ergebnis kam ein Text heraus, den jede Seite auf ihre Weise interpretieren kann. Urteilen Sie selbst. Der Text verurteilt offen den „Uniatismus“, betont dabei aber, dass es sich um eine Erscheinung handelt, die in der Vergangenheit („im vorigen Jahrhundert“) stattgefunden hat. Versteht man das wörtlich, dann ergibt sich, dass man „Uniatismus“ von der „Vereinigung/Union“ als solcher unterscheiden muss. Dabei erscheint die erstere als eine Verzerrung der zweiten. Genau diese Verzerrung ist in der Erklärung verurteilt. Ich denke, es war für den Papst nicht schwierig, eine solche Version des Textes zu unterschreiben. Die gesamte Vereinigung als Erscheinung wird hier nicht verurteilt. Verurteilt wird der unergründliche „Uniatismus“. Im gleichen Moment haben orthodoxe Polemiker jetzt schon angefangen, diese Formulierung als Verurteilung der „Vereinigung/Union“ als solchen zu interpretieren. Der umstrittene Blogger Kyrill Frolow, der dem Moskauer Patriarchat nahe steht, hat bereits erklärt, mit der Unterzeichnung der Erklärung in Havanna habe der Papst „sich von der Union losgesagt“ und von der Kreatur der „historiosophischen Häresie des Ukrainertums“. Nach Ansicht Frolows „müssen wegen der unterschriebenen Erklärung konkrete Schritte des Papstes Franziskus zur Aufhebung der Union folgen“.
Es ist verständlich, dass katholischerseits nun Kommentare dazu folgen, dass der Moskauer Patriarch mit seiner Unterzeichnung der Erklärung die Legitimität der Existenz der Union anerkannt habe (vgl. das in Punkt 25 Gesagte, dass die katholischen Gemeinden östlichen Ritus „das Recht haben, zu existieren und alles Notwendige für die Befriedigung der geistlichen Bedürfnisse ihrer Gläubigen zu unternehmen, nach Frieden mit den Nachbarn zu streben“.)
Obwohl diese Interpretationen gegenseitig ausschließen, so findet doch jede von ihnen eine Grundlage im Text. Dies bedeutet, dass das Paradigma des orthodox-katholischen Streits um die Vereinigung nach Unterzeichnung der Kuba-Erklärung sich nicht ändert.
Ich erinnere Sie daran, dass das aktuelle Paradigma dieser Streitigkeiten in der Wende der 80er-90er Jahre Gestalt annahm, als in der Ukraine die Wiederbelebung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche im Gange war. Bereits 1990 gab in Freising, Deutschland die Internationale gemeinsame Kommission für theologischen Dialog eine Erklärung ab, in der wir einen Text antreffen, der praktisch identisch ist mit Punkt 25 der Havanna-Erklärung. Bereits damals wurde das „Uniertentum“ verurteilt als eine „Möglichkeit der Suche nach Einheit“. Zugleich wurde anerkannt, dass die östlichen katholischen Kirchen das „Recht auf Existenz und zum Dienst für die Befriedigung der geistlichen Bedürfnisse ihrer Gläubigen“ haben.
Im Jahr 1993 wurden die Ausführungen der in Freising verabschiedeten Erklärung wörtlich aufgenommen in die weithin bekannte Balamand-Erklärung (der Name stammt von der libanesischen Stadt Balamand, wo sie [im griechisch-orthodoxen Johannes-Damascenus-Seminar] unterzeichnet wurde), die nicht nur eine Kritik des „Uniertentums“ enthält, sondern auch einen Plan für die künftige Zusammenarbeit zwischen Orthodoxen und Griechisch-Katholiken auf dem Weg der Versöhnung.
Auf das Balamand-Dokument berufen sich seit den letzten zwei Jahrzehnten aktiv sowohl Orthodoxe wie auch Katholiken. Hierbei zitiert immer jeder die Punkte des Dokuments, die für sich selbst als vorteilhaft betrachtet werden, um diejenigen zu vergessen, die unangenehm aussehen. Als Ergebnis hat sich bei Orthodoxen die feste Überzeugung etabliert, dass in Balamand die Union eindeutig verurteilt wurde; zur gleichen Zeit argumentieren Katholiken, dass das Dokument von Balamand eine Anerkennung seitens der Orthodoxen ist, dass der Dialog mit den Griechisch-Katholiken unerlässlich geführt werden muss. Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass ein ähnliches Schicksal den Punkt 25 der Havanna-Erklärung erwartet. Jeder wird in ihn seine eigenen Gedanken hineinlegen.
Es stellt sich heraus, dass im Verlauf der zwei Jahre, die der Vatikan und Moskau intensiv am Text der Erklärung gearbeitet haben, der in Kuba unterzeichnet wurde, seine Autoren nichts besseres sich ausdenken konnten als fast wörtliche Zitate aus den mehr als zwanzig Jahre zuvor verabschiedeten Dokumenten. Dies ist faktisch ein stillschweigendes Eingeständnis dessen, dass sich seit einem Vierteljahrhundert die Situation der Beziehungen zwischen Griechisch-Katholiken und Orthodoxen sich praktisch nicht verändert hat. Dies bedeutet, dass auch in Zukunft keine signifikante Veränderung zu erwarten ist.
Die Überwindung der Spaltung
Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit auf Punkt 27. Er handelt von den Abspaltungen in der ukrainischen Orthodoxie. Hier stimmt der Papst zu, dass die Spaltung „auf der Grundlage der bestehenden kanonischen Normen“ überwunden werden (für das Moskauer Patriarchat ist dies eine seit langem erklärte grundsätzliche Position) und sichergestellt werden muss, dass „die katholischen Gemeinden des Landes“ zur Überwindung der Spaltung beitragen werden. Hinter diesem lakonischen Punkt steht eine bereits etwas in Vergessenheit geratene Geschichte.
Im Jahre 2012 schickte der Primas der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, Seine Seligkeit Swjatoslaw Schewtschuk, an Patriarch Filaret (Denyssenko) einen Brief, in dem er erklärte, dass er auf der Grundlage des katholischen Kirchenrechts keine Hindernisse für die Anerkennung der Gültigkeit des Sakraments der Taufe sehe, die im Kiewer Patriarchat durchgeführt werde. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (in Einheit mit dem Moskauer Patriarchat) betrachtete diese Erklärung als einen unfreundlichen Akt. Zu Beginn des Jahres 2013 erklärte Metropolit Wladimir (Sabodan) von Kiew und der gesamten Ukraine, „die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche habe Prinzipien verletzt, die im Verlauf des orthodox-katholischen wie auch im interchristlichen Dialog insgesamt entwickelt worden seien. Im Rahmen dieses Dialoges haben sich die Parteien verpflichtet, keine offiziellen Kontakte mit denjenigen kirchlichen Gruppen zu suchen, die keine kanonische Anerkennung haben.“ In diesem Kontext liest sich Punkt 27 der Havanna-Erklärung als Reaktion des Vatikans auf Vorfälle von 2012-2013. Faktisch gab Papst Franziskus die Garantie, dass „katholische Gemeinden“ (d.h. vor allem die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche) keine weiteren Kontakte mit dem Kiewer Patriarchat unterhalten werde.
Doch für alle, die nur etwas mit den Besonderheiten der zwischenkirchlichen Beziehungen in der Ukraine vertraut sind, ist klar, dass der Vatikan die praktische Umsetzung dieses Punktes kaum gewährleisten kann. Auf jeden Fall ist es unwahrscheinlich, dass die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche irgendwie die Art ihrer Beziehungen zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats nach der Unterzeichnung der Havanna-Erklärung ändern wird. Das heißt, dieser Punkt wird kaum zu irgendwelchen bemerkenswerten Veränderungen im Leben der Kirche in der Ukraine führen.
Die Ukraine: Objekt oder Subjekt?
Die „ukrainischen Punkte“ der Erklärung von Havanna fügen sich völlig in die Tradition, die schon mehr als ein Jahrhundert existiert. Wieder einmal sehen wir, wie die großen Spieler, die sich als Subjekte der globalen Prozesse betrachten, versuchen, das Schicksal der ukrainischen Kirchen zu entscheiden. Im Text der Erklärung wird die Ukraine nur als eine Zone („Territorium“) sich kreuzender Interessen und als Objekt einer Vielzahl von religiösen Einflüssen präsentiert. Infolgedessen wird die Lösung der „ukrainischen Kirchenfrage“ hier gesehen als eine Frucht komplizierter Kompromisse zwischen Rom und Moskau.
Diese Sicht auf die Ukraine ist nicht neu. Als zum Beispiel vor kurzem in den Jahren 2002-20004 die Synode der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Bischöfe an Papst Johannes Paul II. appellierte, der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche den Status eines Patriarchats zu gewähren, brachte dies intensive Beratungen zwischen dem Vatikan und Moskau mit sich. Im Frühjahr 2004 flog der Leiter des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, eigens nach Moskau. Im Anschluss an die Gespräche dort mit Patriarch Alexij II. und dem damaligen Metropoliten Kyrill wurde deutlich, dass das Projekt des griechisch-katholischen Patriarchats in der Ukraine wenn nicht begraben so doch zumindest für eine lange Zeit eingefroren ist. Die Tatsache, dass die Aussichten für die Entwicklung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche nicht in Kiew, nicht in Lwiw, sondern in Moskau diskutiert werden, hat sofort eine starke Empörung unter den Reihen der Griechisch-Katholiken hervorgerufen, worüber offen in einer Sondermeldung auf ein Schreiben des Synods der Griechisch-Katholischen Bischöfe diskutiert wurde. Und jetzt erklingen verständlicherweise erneut Stimmen der Resignation.
Diesen Umstand kann man freilich auch auf optimistische Weise interpretieren. Wir haben bereits nicht nur einmal gesehen, wie Versuche gescheitert sind, die Ukraine in globale Projekte ohne Rücksicht auf ihre eigene Meinung zu integrieren.
Eine Erklärung als ein Genre, bedeutet natürlich nicht eine direkte praktische Umsetzung. Sie bezeugt nur die Positionen der unterzeichnenden Seiten. Jedoch kann ein Dokument dieser Ebene kein praktisches Ergebnis haben. Jedoch können von der in Kuba veröffentlichten Erklärung kaum spürbare Folgen für das Leben der Kirchen in der Ukraine erwartet werden.
Bereits seit langem wurde die These darüber zur Banalität, dass die Ukraine ihre Probleme (darunter auch die kirchlichen) selbst lösen solle. Doch heute müssen wir erneut den offensichtlichen Gedanken wiederholen, dass die „ukrainische Kirchenfrage“ solange eine „Frage“ bleiben wird, wie wir darauf nicht selbst unsere Antwort finden werden.
16. Februar 2016 // Wladimir Burega
Quelle: Lewyj Bereg
Anmerkungen des Übersetzers
Der Autor ist seit 2010 der für wissenschaftliche Theologie zuständige Prorektor der Kiewer Geistlichen Akademie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die unter dem Moskauer Patriarchat steht – damit ist er Kollege von Professor Oleh Turij von der Ukrainischen Katholischen Universität – und außerdem als Chef des Informationsbüros der Metropolie Nachfolger des stärker polemischen Journalisten Wassilij Anissimow. Er gehört wie etwa Vater Kyrill Howorun oder Vater Heorhhij Kowalenko zu dem engeren Kreis um den letzten Vorsteher der Kirche, Metropolit Wolodymyr (Sabodan).
Zur Person des Autor und seinen zahlreichen Publikationen vgl. den ukrainischen Wikipedia-Artikel.
Die kirchenhistorische Literatur zum Thema „Rom und Moskau“ ist umfangreich, wie ältere Monografien von westlichen Kirchenhistorikern wie Eduard Winter, Antoine Wenger und Wim Rood (auch russisch), Sammelbände sowie die russischen zumeist kontroverstheologischen polemischen Traktate für die eigene orthodoxe Leserschaft zeigen.
Zurzeit finden in der Ukraine Diskussionen über das Lemberger Pseudo-Sobor von 1946, auf dem autoritär-subversiv von russischen Staats-„Theologen“ manipuliert von oben her die Auflösung der „Ehe“ der Griechisch-Katholiken erklärt wurde.
Innerhalb der ukrainischen Orthodoxie sind es die eben erwähnten Theologen aus dem Kreis der jüngst gegründeten Freien orthodoxen Universität, die sowohl zur Havanna-Erklärung als auch zur Bewertung der vor 70 Jahren erfolgten Kirchenauflösung und Kollaboration von Teilen der orthodoxen Kirche mit dem Staat Stellung beziehen.
Innerhalb der modernekritischen Kreise der Ukrainischen Orthodoxen Kirche unter dem Moskauer Patriarchat (Kirchenleitung und Gemeinden) sind diese im Austausch mit Theologen der unterschiedlichen Kirchen zwischen Kiew und San Francisco gewachsenen Positionen noch nicht mehrheitsfähig, was wieder nur ein Hinweis auf das Phänomen ist, was religions- oder kircheninterner Pluralismus heißt.
Analysen des Treffens und Textes in finden sich und werden folgen unter anderem in:
- Nachrichten aus den östlichen Kirchen (NÖK) Nr. 06/2016 ff.
- Religion & Gesellschaft in Ost und West
- OST-WEST. Europäische Perspektiven“ (OWEP)
- Herder-Korrespondenz
- Ökumenische Rundschau
- Irénikon
- Religion, State and Society
- La Nuova Europa