Die Ukraine und Russland – Eine unsymmetrische Partnerschaft
Der Besuch des neuen, ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch in Moskau stand – wie im Übrigen auch jener in Brüssel – ganz im Zeichen überhöhter diplomatischer Erwartungen und Versprechungen. Aber insgesamt war die Reise nach Moskau für den ukrainischen Präsidenten von größerer Bedeutung und er besuchte wohl nur aus Termingründen zuerst Brüssel. Die Moskauer Visite trug nicht nur offiziellen Charakter, sie hatte auch durchaus ihre persönlichen Aspekte für einen Politiker, der nach dem Fiasko der Wahlen von 2004 und fünf orangen Jahren seine Position wiederherstellen konnte. Ungeachtet der gegenseitigen Wertschätzung und der übertrieben „richtigen“ Worte auf beiden Seiten brachte die Visite doch frischen Wind in die Beziehungen. Die Gespräche verliefen ohne Sprachbarrieren in einer Atmosphäre feiner diplomatischer Andeutungen und gegenseitigen Abtastens, nicht aber gegenseitiger Umarmungen, welche sich Janukowitsch möglicherweise insgeheim erhofft hatte. Moskau suchte Signale für eine Wende in der ukrainischen Außenpolitik und schätzte ab, inwieweit man diese für die eigenen Interessen verwerten könnte. Janukowitsch seinerseits bemühte sich, zu verstehen, welchen Preis die möglichen Konzessionen haben könnten.
Viktor Janukowitsch legte den Akzent der russisch-ukrainischen Beziehungen auf eine selektive Revision: Seine bevorzugten Themen waren die Überprüfung der Gasverträge, der Erhalt von Vorzügen beim Verkauf ukrainischer Rohstoffe, Waren und Dienstleistungen auf dem russischen Markt im Tausch für eine Überprüfung der ukrainischen Politik in humanitären Fragen und für Zugestände bei den Fristen zum Abzug der russischen Schwarzmeerflotte, frei nach der kontrollierten Devise „Gas gegen Entideologisierung“. Moskau hingegen deutete auf eine fundamentale Revision der gegenseitigen Beziehungen hin. Putins stahlhartes „Treten sie in die Zollunion ein“ kann man so interpretieren, dass Russland heute wieder aktiv re-integrative Projekte im postsowjetischen Raum betreibt und die Beziehungen zur Ukraine schon nur noch im Rahmen des gemeinsamen, regionalen Superprojekts sieht. Von der ukrainischen Führung erwartet der Kreml keine reflektierte Antwort auf die sich ständig wiederholenden Bemerkungen der russischen Seite, sondern eine Systementscheidung in Bezug auf eine Teilnahme am Projekt der russischen Re-Imperialisierung.
Die RF ist heute nicht mehr das heiter-demokratische, jelzinsche Russland mit sentimentalen Beziehungen zur jüngeren Schwester, sondern eine böse, energische, auf die Durchsetzung seiner Interessen konzentrierte, übernationale Großmacht, die eine Dominierung des angrenzenden, regionalen Raums anstrebt. Allerdings ist die RF nicht stark genug, um eine Supermacht zu sein, aber auch nicht so schwach, dass sie nur ein Nationalstaat westlichen Typs sein könnte. Die Ukraine ist nicht stark genug, um Anspruch auf den Status einer regionalen Führungsmacht erheben zu können und nicht so homogen und unabhängig vom russischen, strategischen Raum, dass sie ein normaler, osteuropäischer Staat sein könnte. Ausgehend von diesen Schlüsselantinomien in der Staatsbildung zweier postsowjetischer Schlüsselländer kann man die gegenseitigen Beziehungen als solche zwischen einem Möchtegernimperium und einem vornationalen Staat charakterisieren.
Eine pragmatische Ordnung der Beziehungen zur Ukraine ist uninteressant, da sie für Russland selbst schon nicht mehr aktuell ist. Für die Ukraine bedeutet das, dass es für die diplomatische Syntax unumgänglich ist, einen neuen, motivierten Kontext der Beziehungen zu finden und alle Nuancen versteckter, geopolitischer Grammatik abzublocken.
Die konzeptionelle Sackgasse der Multivektoralität
Praktisch alle Staaten, die aus der platonischen Baugrube des sowjetischen Imperiums hervorgingen, suchen weiterhin ihre geopolitische Identität und definieren unentwegt die Konturen ihrer eigenen, politischen Ordnung und ihre Rolle auf dem europäischen Kontinent. Seit ihrer Unabhängigkeit ist der Ukraine keine eindeutige, geopolitische Identität vergönnt gewesen. Zu Zeiten Kutschmas war die Multivektoralität für die taktische Position günstig. Die Ukraine befand sich wie auch Russland in einer labilen Übergangssituation und die stabile EU war so etwas wie ein unerreichbares Vorbild. Heute ist die Rückkehr in einen identitäts-, vektor- und strategielosen Zustand mit ernsthaften Risiken verbunden. Wenn die Ukraine nach der eindeutigen, pro-europäischen Vektorbestimmung unter Juschtschenko zur Multivektoralität zurückkehrt, dann bedeutet dies, dass der Staat bis heute kein selbständiges, souveränes Projekt ist, sondern es nur Reaktionen auf die Umstände und ein situationsbedingtes Schwanken zwischen Russland und Europa gibt.
Die Ukraine ist aus Ermangelung einer eigenen, nationalen Identität zwischen zwei zivilisatorischen Modellen gefangen. Auf der einen Seite das europäische, auf rechtlichen und demokratisch-liberalen Grundsätzen basierte Modell. Auf der anderen Seite das russische, welches unter der Devise von Großmachtansprüchen und humanitär-kulturellen Gemeinsamkeiten steht. Eben in der Einstellung zu diesen beiden Identitäten baut sich das Verhältnis zwischen „unseren“ und „anderen“ auf und das Land bleibt an der Linie der geopolitischen Entscheidung gespalten. Die labile, schwammige, hybride Identität (dabei in erster Linie die politische und nicht die kulturelle) hat dazu geführt, dass die Ukraine in der Sackgasse der Wahl stecken geblieben ist und deshalb mit der „Flucht vor der Wahl“ beginnt, sich den diplomatischen Mantel der Neutralität überwerfend. Ein Land, das den Akzent darauf setzt, neutral und blockfrei zu sein, bekommt eine negative, außenpolitische Identität und eine negative Außenpolitik im Allgemeinen. Man kann Juschtschenko für seinen pro-europäischen und pro- NATO Kurs kritisieren, der in Russland aggressives Unwohlsein hervorrief und zu der sich Europa vorsichtig verhielt, weil es mit Russland nicht in Streit geraten wollte, aber das war keine Außenpolitik des „außer…“ sondern des „pro…“, kein Schwanken sondern ein Kurs.
Der Besuch Janukowitschs in Moskau hat gezeigt, dass, ungeachtet des vom Kreml erhofften Wechsels an der ukrainischen Macht, die Asymmetrie der Beziehungen erhalten bleibt und kaum überwunden werden kann. Aber der Grund dafür liegt nicht in der Person des Präsidenten, sondern im Fehlen einer aktiven Strategie der Ukraine gegenüber der EU und Russland. Und diese Asymmetrie wird umso prägnanter, je stärker und lichter Russland sich selbst sieht und darstellt, genau wissend, dass es von der postsowjetischen Welt auch die Ukraine will. Der Vektor Russland ist heute auf die Ukraine gerichtet, aber der Ukraine mit ihrer erneuerten Multivektoralität und Blockfreiheit bleibt nur übrig, „Neutralität“ zu imitieren und damit ihr reales Vasallentum zu überdecken. Kiew ist gezwungen, zu taktischen Positionsmanövern auf Basis der schmelzenden Trophäen sowjetischer Industrieproduktion zu greifen und die Strukturen der wirtschaftlichen Möglichkeiten nach der Krise im Ganzen zu überdenken.
Die verschiedenen Positionen Russlands und der Ukraine zeugen davon, dass die goldenen Zeiten der Multivektoralität vorbei sind. Der Ukraine wird es schwer fallen, ihre Vektoren auszurichten, denn sie befindet sich eben selbst im Fokus zweier Vektoren – des europäischen und des russischen. Die Vektoren richten sich auf die Ukraine und nicht von ihr weg. Noch vor fünf Jahren stand das Land vor der Möglichkeit einer Wahl, heute aber steht es vor der Unumgänglichkeit einer solchen. Die geopolitische Neutralität wird umso problematischer, sofern sowohl Moskau als auch Brüssel der Ukraine mit unterschiedlicher Intensität ihre Projektplatten servieren. Auf der einen Seite wird Russland, das die Ukraine über die Zollunion – und möglicherweise weiter über EEP (Einheitlicher Wirtschaftsraum – Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland) und OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) – in sein Projekt ziehen will, zum Kreditnehmer der außenpolitischen Autorität der Ukraine. Auf der anderen Seite ist die EU an einer Einbeziehung der Ukraine in EU-NATO interessiert, um sie nicht in die Umarmung Russlands zu treiben.
Russland: Hegemonischer Wiedervereinigungsdrang
Bis zum heutigen Tag gibt es in Russland eine klare Ansicht über die eigenen, geopolitischen Pläne, besonders in Bezug auf die Nachbarländer. Unter diesen Plänen versteht man die Programmierung der nationalen Interessen in das System des staatlichen, außenpolitischen Kurses, der konkrete Orientierungspunkte in der geopolitischen Partnerschaft gibt.
Worin liegt das Wesen des neuen, geopolitischen Projekts der RF? Die Strategie Russlands ist auf die Formierung einer „eigenen“ Region gerichtet, die nicht nur eine Vermittlungsbrücke zwischen EU und China, sondern ein vollwertiges Machtzentrum auf dem ehemaligen Gebiet der Sowjetunion wird. Die GUS wird mit den neuen Herausforderungen und Aufgaben schon nicht mehr fertig und man hatte sie von Anfang an mit anderen Zielen ausgefüllt. Im Laufe der neunziger Jahre war die GUS die Ehescheidungsagentur beim Zerfall der Sowjetunion, in den 2000ern dann eine Art Präsidentenklub.
Unter den derzeitigen Umständen der regionalen Multipolarität ist die Schaffung einer neuen, die russisch-eurasische Region formierenden, Institution für Russland unumgänglich. Das Wesen des Regionalismus besteht darin, dass er eine Konfiguration der internationalen Beziehungen ist, in Rahmen derer die wesentliche Zusammenarbeit zwischen verschiedenen, regionalen Gruppierungen verläuft, anstatt zwischen einzelnen Staaten. Beziehungen mit regionalen Staaten im Rahmen von Unionssystemen und Unionslogik funktionieren, aber die Zusammenarbeit mit außerregionalen Staaten basiert auf direkten, bilateralen Verbindungen und der pragmatischen Bewältigung des gemeinsamen Interessenaustauschs. Es ist offensichtlich, dass sich Russland auf die Rolle des Hegemons in einem regionalen Bund bewirbt, und dafür braucht es eine unionsfreundliche Ukraine. Ohne die Ukraine bleibt diese Region ein Torso, also kein bedeutendes Projekt.
Die vereinende, regionale Idee wird für Russland der slawische, kulturelle und rechtgläubige Code. Der Moskauer Patriarch Kirill hat sich schon aktiv in die Arbeit an einem rechtgläubigen Kanon auf Basis der übernationalen, rechtgläubigen Identität eingeschaltet. Und von hier aus ist es dann schon nicht mehr weit zur Realisierung der unmanifestierten, aber zielgerichteten Einsetzung einer russischen Führungsschicht: „Die Ukraine ist ein Staat – aber keine Nation!“ und es ist schon klar warum. Nation – das ist doch vor allem Abgrenzung. Die Nation trennt sich von politisch-institutionellen und rechtlichen Praktiken (Demokratie – Autoritarismus, eine gerechte Justiz – die Diktatur des Gesetzes, usw.). In diesem Sinne ist die Ukraine noch nicht vom russischen, politischen Körper abgetrennt, bleibt eingebettet in die große, postsowjetische, russische Politik, die mithilfe anderer Codes und Ideen organisiert wird als die in Europa. Der russische Code ist zu Beginn des neuen Jahrtausends – Großmacht und souveräne Demokratie, gleichzeitig ist der ukrainische Code der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts – Nation und Integration, so dass eine Formierung einer europäischen Staatlichkeit in der Ukraine eben die Integration in die euro-atlantischen Bündnisse beinhaltet. In Zusammenhang damit wirkt der Kurs der neuen Regierung auf einen starken Staat und eine Denationalisierung der humanitären Sphäre revisionistisch.
Die Taktik Moskaus auf der derzeitigen Etappe ist es, die Ukraine in seinen Handelsorbit und in eine Zollunion zu ziehen, worauf der Vorschlag eines Beitritts zu EEP und OVKS folgen wird. Als Ersatz könnte die RF der Ukraine eine Juniormitgliedschaft in G8 oder G20 vorschlagen, worauf Moskau während der Visite des ukrainischen Präsidenten unzweideutig hingewiesen hat. Man bietet der Ukraine eine Diplomatie des Prestiges an, eine Außenpolitik der PR, die dabei auch auf eine innenpolitische Legitimation ausgerichtet ist. Im Geiste dieser Diplomatie des Prestiges hat Janukowitsch schon vorgeschlagen, einen Vertrag zwischen der RF und den USA über SALT-I in Kiew unterzeichen zu lassen. Aber führen etwa die organisatorische Logik und die Aufgaben der Außenpolitik zu einer solchen Art von Potjomkinschen Dörfern? Außenpolitik ist für ein Land wie die Ukraine vor allem eine Ressource der Europäisierung, die Durchsetzung des europäischen Nationalstaats und der europäischen Lebensweise, was durch eine Integration in den euroatlantischen Klub der demokratischen Nationen garantiert wird.
Auf diese Weise sind die Positionen der neuen, ukrainischen Macht in Bezug auf NATO und Sprache heute schon nicht mehr so wichtig. Etwas anderes ist interessant – alle möglichen Widersprüche könnten sich von selbst auflösen, wenn die Ukraine einer Teilnahme am reintegrativen Unionsprojekt Russlands zustimmt. In diesem Falle käme es vorwiegend der Ukraine zu, sich den neuen Umständen unterzuordnen und große Zugeständnisse zu machen. Russland wird nur die Umstände für den Orbitflug der Staaten gewährleisten, die im Umfang des russischen Regionalgroßreichs liegen. Als eine eigene Art von Kompensation könnten die russischen Garantien für eine Einführung der ukrainischen Elite in die Weltelite als Juniorpartner der russischen Seite dienen. Umso mehr als die ukrainische Elite ihre Westintegration auf individuellen Gebiet schon längst beschlossen hat.
Die Ukraine und Russland – Brücken und Gerüste
Die ersten Visiten und Mitteilungen des neuen Präsidenten und seiner Mannschaft illustrieren den Wunsch, die Retromaschine der Multivektoralität anzuwerfen und, wie Janukowitsch es formuliert, zur Brücke zwischen Osten und Westen zu werden. Die von den ukrainischen Machthabern vorgeschlagenen Alternativen beinhalten die Aufgabe der Frage eines NATO-Beitritts und eine gleichberechtigte Zusammenarbeit im Dreieck Westen – Russland – Ukraine. Die Politik der Multivektoralität wird als Politik der gleichen Entfernungen zu den Weltzentren interpretiert.
Den Diskurs über Multivektoralität aufrechterhaltend, glauben die neuen Machthaber, dass die Ukraine ein eigenständiger Pol sein kann. Aber als Mittelstaat (nach der Terminologie S. Huntingtons) wird die unausweichlich von den Gravitationszentren anderer Pole abhängen. Wenn unter diesen Umständen auch Multivektoralität möglich ist, so wird sie doch immer asymmetrisch sein. Entweder eine Asymmetrie zugunsten Russlands – Eintritt in Zollunion, EEP unter Erhalt einer verminderten Partnerschaft zur EU, oder eine Asymmetrie zugunsten Europas – Eintritt in die Freihandelszone und Erhalt einer assoziierten Mitgliedschaft unter Erhalt einer verminderten Partnerschaft zu Russland. Mit anderen Worten besteht die Frage, was die Ukraine tun soll – europäisieren oder putinisieren, sich einbringen in die globale, europäische Wertewelt oder im allgemein humanitären, russischen Raum verbleiben.
Die Annahme einer multivektoralen Strategie, das Bekennen zur Neutralität und zur Blockfreiheit bedeutet nebenbei ein archaisches Verständnis von Geopolitik in den Termini des neunzehnten Jahrhunderts, als Staaten die Aufgaben der territorialen Konsolidierung angingen. Die Ukraine steht vor einer solchen Aufgabe der Konsolidierung, allerdings arbeitet die Außenpolitik heute nicht mehr auf dem Level der Territorien, sondern auf jenem der Zoll-, Wirtschafts- oder Währungsräume.
Die Ukraine hat zwar nach zwanzig Jahren der Unabhängigkeit ihr Territorium geschaffen, aber keine Wahl bezüglich der Räume, Plattformen und natürlich der Möglichkeiten nationalstaatlicher Organisation getroffen. Ein neutrales Verbleiben zwischen den europäischen und russischen Plattformen ist problematisch. Die Diplomatie ist vielleicht noch multivektoral, aber bei Vorhandensein eines klaren, „plattformorientierten“, staatlichen Kurses ist es unmöglich, zur selben Zeit in zwei Zoll- oder Wirtschaftsräumen zu agieren.
Außerdem erfordert Multivektoralität eine Personalisierung, die persönliche Leitung der Außenpolitik, freie Hand und Manövrierfähigkeit des Präsidenten sowohl auf innenpolitischer als auch auf außenpolitischer Arena. Aber um eine manövrierfähige Außenpolitik durchführen zu können, ist es unabdingbar, Reserven beim Aufbau der Beziehungen sowie zum Osten als auch zum Westen des eigenen Landes zu haben. Janukowitsch hat diese Möglichkeiten nicht, denn er hängt von den Wählererwartungen des Ostens ab und ist deshalb gezwungen, nur auf der russischen Seite zu spielen. Flirts mit dem Westen könnten zu einer Erschütterung seiner labilen Legitimation und zum Verlust der Wählerunterstützung führen.
Wenn die Ukraine kein Ziel und keinen Vektor ihrer Außenpolitik formuliert, wird sie ein technischer Staat bleiben, mit der Perspektive, unnational, ja künstlich und damit von der russischen Identität und Politik abhängig zu werden. Multivektoralität würde für die Ukraine de facto einen Verbleib im Fahrwasser der russischen, geopolitischen Zone bedeuten, insofern der ukrainische Staat bis jetzt noch nicht aus dem geopolitischen und geo-humanitären Raum Russlands ausgetreten ist. Ein klarer westlicher Vektor bei vielseitiger Diplomatie kann der Ukraine aber reale Multivektoralität bescheren. Das ist freilich nie die „vektorlose Multivektoralität“, zu welcher die neue, ukrainische Führung zurückfinden will. Die Außenpolitik sollte nicht nur die Elite in das westliche Leben integrieren, sondern auch den einfachen Bürger. Die Strategie der Suche nach diplomatischem Prestige von und für die Elite schließt eine vielschichtige Integration der Menschen in den europäischen Zivilisationsraum aus.
Wenn davon gesprochen wird, dass die Ukraine ein starker Staat sein soll, bedeutet dies, dass sie ihre eigene Ideologie von Staatlichkeit ausarbeiten soll, ihren Vektor der Außenpolitik, ihre eigene Sicht auf die regionale Rolle, und Multivektoralität kann eine gezielte, pragmatische, festgelegte Verbindung zwischen den verschiedenen Regionen sein.
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Die unabhängige Ukraine gründete ihre Staatlichkeit 1991 als antisowjetisches, antiimperialistisches, demokratisch-nationales, westliches, nicht aber antirussisches Projekt. Man kann nur bedauern, dass das putinsche Russland einen antiwestlichen Kurs gewählt hat. Aber das ist seine Wahl und nicht die Verantwortung der Ukraine. Man kann die vorherigen, ukrainischen Machthaber wegen der Entscheidung für einen westlichen Kurs nicht zum Feind erklären.
Eine Rückkehr des Landes in den Schoß Russlands, der immer hegemonial, transnational und nicht integrativ war, kann zu einem ganz eigenen, schattenreichen, außenpolitischen Umsturz werden. Wenn Janukowitsch, eine Rhetorik der pragmatischen Wende nutzend, beide Füße auf die russische Plattform stellt und mit Europa ein Katz und Maus Spiel um die Integration beginnt, so wird sich die ukrainische Staatlichkeit auf einem revisionistischen, russischen Fundament gründen.
20.03.2010 // Wadim Karassjow, Direktor des Instituts für globale Strategien
Quelle: Serkalo Nedeli