Die Ukraine zwischen „Russischer Welt“ und Westen
Von Dr. Kyryl Savin und Fabian Staben
Die Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen, einst „slawische Brudervölker“, stehen immer mehr im Schatten eines „kalten Konflikts“. In letzter Zeit sieht es allerdings mehr und mehr danach aus, als ob dieser Konflikt unter Umständen auch zu offenen militärischen Auseinandersetzungen führen könnte. Der Kreml baut gegenüber der Ukraine eine Drohkulisse auf und bietet ihr zwei Optionen: entweder eine offene militärische Aggression seitens Russlands mit faktischer Annexion einiger Gebiete wie zum Beispiel der Krim – oder die faktische „freiwillige“ Aufgabe der Unabhängigkeit und eine Entwicklung hin zum gehorsamen Vasallen Russlands.
Russische Revanche
Gleich nach der Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 haben die Vorbereitungen Russlands für eine Revanche begonnen. Die Orangene Revolution war eine der größten außenpolitischen Niederlagen Russlands seit dem Ende der Sowjetunion. Sie war umso schmerzhafter, als die Ukraine in den Köpfen vieler Russen ein integraler Bestandteil des russischen Imperiums war, ist und immer sein muss. Seitdem verfolgt die russische Führung den Plan zur Revanche nicht ohne Erfolg, sowohl in der Ukraine, als auch im Westen. Der Kreml fördert massiv pro-russische Nichtregierungs-Organisationen (NROs) und ukrainische Einzelpolitiker wie Gratsch, Symonenko, Kortschynsky, Witrenko, Tsekow, Bojko, Markow, Konowaljuk, Wolga, Medwedtschuk, Bogoslowska und andere, zudem Medien und politische Parteien. Der russische Präsident Medwedew mischt sich direkt in die ukrainische Innenpolitik ein und diskreditiert seinen persönlichen Feind Präsident Juschtschenko. Auf der internationalen Bühne wird die Ukraine als völkerrechtliches Subjekt so immer wieder in Frage gestellt.
Während die Ukraine 2004 beim Tusla-Konflikt wenigstens symbolisch vom Westen unterstützt wurde, und die russischen Expansionspläne gestoppt werden konnten, hat Russland 2008 die Bestätigung bekommen, dass es im postsowjetischen Raum nach Belieben handeln kann. Russland hat es geschafft, den Beitritt der Ukraine und Georgiens zur NATO diplomatisch zu verhindern. Im selben Jahr führte die russische Armee einen siegreichen Krieg gegen Georgien und musste dabei keine spürbaren Sanktionen des Westens fürchten. Heute kann die Ukraine noch weniger auf westliche Unterstützung zählen – Polen, einst der leidenschaftlichste Anwalt der Ukraine innerhalb der EU, scheint unter seiner neuen Regierung nicht mehr wirklich bereit, sich für die Ukraine einzusetzen und hat sich für pragmatische Wirtschaftsbeziehungen mit Russland entschieden.
Hilflose Ukraine?
Am 26. August 2009 erklärte die NATO offiziell, dass sie der Ukraine im Falle eines Konflikts keine militärische Unterstützung anbieten wird. Die Ukraine ist damit für lange Zeit aus dem europäischen und euro-atlantischen Sicherheitsraum ausgeschlossen. Noch konservativer ist die Position einiger EU-Länder wie Deutschland und Frankreich in dieser Frage. Die einzige Hoffnung für die Ukraine, dem „russischen Bären“ nicht völlig allein gegenüberzustehen, sind immer noch die USA. Doch der Neuanfang der Beziehungen zu Russland unter Präsident Obama und die allgemeine Skepsis gegenüber der Ukraine in Washington bedeutet, dass sich auch die US-Unterstützung für die Ukraine sehr im Rahmen hält.
Niemand denkt heute mehr an das Budapester Memorandum, welches 1994 im Rahmen der KSZE von den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland und China unterzeichnet wurde und die territoriale Integrität der Ukraine garantierte. Im Falle eines offenen Konfliktes mit der Ukraine muss Russland mit keinen ernsthaften Sanktionen rechnen. Und verbale Solidarität, wie während des Krieges mit Georgien 2008, wird Russland nicht schrecken. Am 24. August 2009 feierte die Ukraine den 18. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit – aber die territoriale, politische und staatliche Eigenständigkeit der Ukraine steht heute wieder auf dem Spiel.
Ukraine militärisch nicht vorbereitet
Aus russischer Sicht ist, neben der außenpolitischen Schwäche, auch die innenpolitische Situation in der Ukraine günstig. Im Lande herrscht schon seit einigen Jahren Chaos. Präsident, Parlament und Regierung haben die Situation nicht mehr vollständig unter Kontrolle. Die Menschen sind unzufrieden und frustriert, der Staat handlungsunfähig. Letzte Umfragen zeigen, dass selbst im Süden des Landes nur wenig mehr als ein Drittel der Bevölkerung die Unabhängigkeit positiv bewertet; im Osten der Ukraine ist es weniger als die Hälfte. Diese Zahlen sind bitter für Präsident Juschtschenko und für alle politischen Parteien. Im Falle einer russischen Aggression wäre wohl mit geringem Widerstand im Osten und Süden der Ukraine zu rechnen.
Die ukrainische Gesellschaft und selbst die Militärführung sind zutiefst pazifistisch. Diese friedfertige Mentalität spiegelt sich in der offiziellen Haltung der Regierung wieder, die behauptet, die Ukraine habe keine äußeren Feinde, und ihre geopolitische Lage sei günstig. Ein Krieg sei nicht zu erwarten, da die Ukraine bald zu dem einen oder anderen Militärblock gehören werde – wodurch dann alle Sicherheitsprobleme gelöst seien. Russland hingegen baut in seiner offiziellen Propaganda schon seit einigen Jahren die Ukraine als Feindbild auf.
Ein weiterer Faktor ist der Zustand der ukrainischen Streitkräfte. Die ukrainische Armee ist momentan nicht ernsthaft kampffähig. Es gibt laut Experten nur einige kleine Militäreinheiten, die modernisiert wurden und in der Lage seien, das Land zu verteidigen. Doch selbst diese sind schlecht bewaffnet, unmotiviert und zu klein, um spürbaren Widerstand leisten zu können. Selbst wenn die Ukraine heute die Mittel aufbringen könnte, massiv in ihre Streitkräfte zu investieren, wäre die Armee in den nächsten drei bis vier Jahren nicht annähernd auf das Niveau moderner europäischer und amerikanischer Streitkräften zu bringen.
Russlands Drohkulisse
Welche Strategie verfolgt Russland heute gegenüber der Ukraine? Glücklicherweise sind die Analysten in Kreml offenbar der Meinung, ein Angriff auf die Ukraine und eine Besatzung von Teilen des Landes sei die schlechteste, die letztmögliche Option. Viel günstiger sei es für Russland, aus der Ukraine einen gehorsamen Satellitenstaat zu machen, der dann nach dem Konzept der „Russischen Welt“ wirtschaftlich, politisch, sprachlich und kulturell voll integriert werden könne.
Russland baut aktuell eine Drohkulisse gegenüber der Ukraine auf. Die Möglichkeit eines militärischen Angriffs wird ins Spiel gebracht, um die ukrainische Politik zu verunsichern und sie zu zwingen, die russischen Spielregeln notgedrungen zu akzeptieren. Vor drei Wochen wurde in Russland das Verteidigungsgesetz geändert: Nun kann der Präsident alleine über den Einsatz russischer Truppen im Ausland entscheiden. Es ist nicht neu, dass Präsident Medwedew (de facto gemeinsam mit Premier Putin) über fast alles im Lande alleine entscheiden darf. Interessant sind aber die Anlässe, die für derartige russische Militäransätze genannt werden – nämlich unter anderem die „Verteidigung“ russischer Bürgerinnen und Bürger im Ausland, ein Argument, das bereits im Südossetienkrieg benutzt wurde. Für die politische Elite in der Ukraine ist dies eine klare Botschaft.
Ideologischer Krieg
Gleichzeitig verstärkt die russische Führung in der letzten Zeit ihre ideologische Arbeit. Der Ukraine wurde, als Alternative zur EU-Integration, das Konzept der „Russischen Welt“ vorgeschlagen. Für diese Idee des Kremls wird nun intensiv Propaganda gemacht. Dabei setzt man massiv auch die russisch-orthodoxe Kirche ein, denn selbst pro-westlich orientierte, religiöse ukrainische Bürger hören Patriarch Kirill aufmerksam zu.
Außerdem nutzt Moskau ein weiteres Gedankenkonstrukt, um die Ukraine ideologisch zu erobern. Russische Politiker und andere einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens unterscheiden in ihren Reden immer wieder zwischen dem „ukrainischen Volk“ und „der Ukraine als Staat“ (womit die politische Elite des Landes gemeint ist). Dieser These zufolge zwang die ukrainische politische Führung den Bürgerinnen und Bürgern des Landes die Unabhängigkeit auf, um sich selbst zu bereichern. Die Idee der Unabhängigkeit sei dem ukrainischen Volk fremd, es habe schon immer zusammen mit dem russischen „Brudervolk“ in einem Staat habe leben wollen. Russische Politiker versuchen, dieses ideologische Konstrukt zu legitimieren, indem sie sich auf das ukrainische Volk, laut der ukrainischen Verfassung Souverän und einzige Quelle der Macht, beziehen. Die Devise lautet: „Wir kümmern uns um das ukrainische Volk und versuchen, es vor seiner unverantwortlichen politischen Elite zu schützen“.
Was wird aus der Schwarzmeerflotte?
Ein Ultimatum an die Ukraine wurde bereits von Dmitrij Medwedew in seinem berühmten offenen Brief an Präsident Juschtschenko klar ausgesprochen: Entweder bekommt die Ukraine bei den Präsidentschaftswahlen 2010 einen pro-russischen Präsidenten, oder die Ukraine muss mit „harten Maßnahmen“ Russlands rechnen. Unter „harten Maßnahmen“ versteht man in Moskau keinen offenen Krieg gegen die Ukraine, wohl aber lokale militärische Grenzkonflikte (insbesondere auf der Krim) und eine Destabilisierung durch die „Fünfte Kolonne“ Russlands im Lande. Die Fünfte Kolonne wird gebildet von einem pro-russischen Netzwerk aus Politikern, Abgeordneten bis hin zu ganzen Parteien oder Parteiflügeln, NROs und Think-tanks. Sie sind auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene in der Ukraine aktiv und werden teils offen, teils verdeckt von Russland finanziert und ideell und organisatorisch unterstützt.
Wenn Russland das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2010 nicht gefällt, wird die „russische Gefahr“ für die Ukraine zunehmen. Der Streit über die weitere Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol (Krim) wird in den nächsten Jahren weiter Zündstoff bieten. Bereits jetzt gibt es verbale Auseinandersetzungen, und vereinzelt haben ukrainischen Behörden versucht, Russlands Aktivitäten auf ukrainischem Territorium zu begrenzen. Ein russischer Politiker nannte Sewastopol eine „russische Stadt“, und die ukrainische Polizei ließ russische Militäranlagen an Leuchttürmen außerhalb des Stadtgebiets demontierten, die für die Navigation der russischen Schiffe benötigt werden. Höhepunkt dieser Konflikte wird voraussichtlich die ukrainische Präsidentschaftswahl im Jahr 2015 werden, denn der Vertrag über die Stationierung der Schwarzmeerflotte auf der Krim wird 2017 auslaufen.
Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung
Fabian Staben ist Praktikant bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew