Die ukrainische radikale Rechte, die europäische Integration und die neofaschistische Gefahr - Vergleichende Betrachtungen zum parteipolitischen Ultranationalismus in der Ukraine
Im vergangenen Jahr begann die dritte postsowjetische Massenaktion zivilen Ungehorsams in der Ukraine – der Euromaidan. Dieser setzte die Bewegung „Ukraine ohne Kutschma!“ von 2000-2001 sowie die so genannte Orange Revolution von 2004 fort. Seinen Anfang nahm der Euromaidan mit Protesten einiger weniger Tausend Intellektuellen und Studenten im Stadtzentrum Kyjiws Ende November 2013. Anlass war die Entscheidung der Janukowytsch-Administration, die für diesen Zeitpunkt geplante Unterzeichnung eines weitreichenden Assoziierungsabkommens mit der EU auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Die ursprünglich kleine Demonstration wandelte sich im Weiteren zu einer Massenbewegung, welche Millionen Ukrainer landesweit erfasste. Als die Regierung versuchte, die Proteste blutig niederzuschlagen, schlug der Aufruhr in Gewalt um, welche Dutzende Tote und Tausende, zum Teil schwer Verletzte forderte. Während der darauffolgenden drei Monate wandelten sich die Demonstrationen und Zusammenstöße auf dem Kyjiwer „Majdan Nesaleshnosti“ (Platz der Unabhängigkeit) und in anderen Städten der Ukraine zu einer umfassenden gesellschaftlichen und politischen Revolution.
Von Anton Schechowzow, London und Andreas Umland, Kyjiw
Politische Polarisation und extreme Rechte
Im Verlauf des Wachstums und der Radikalisierung der Euromaidan-Proteste traten zwei rechtsextreme Bewegungen immer stärker in Erscheinung. Die bekanntere von ihnen ist die Partei Allukrainische Union „Freiheit“ (Swoboda), welche lockere Verbindungen zu einigen außerparlamentarischen Randgruppen wie der C14 bzw. S14 („Sitsch 14“) und der sog. „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA) unterhält. Der Titel der letztgenannten Minigruppe ist eine offensichtliche Anspielung auf die Bezeichnung der gleichnamigen teils befreiungsnationalistischen, teils faschistischen ukrainischen Partisanenbewegung, an deren antisowjetischer Rebellion der 1940er bis 1950er Jahre hunderttausende Westukrainer auf die eine oder andere Art teilnahmen.
Während des Euromaidans hatten die Swoboda-Partei und ihre Verbündeten ihren Hauptstützpunkt im besetzten Gebäude der Kyjiwer Stadtverwaltung. Obwohl die Freiheits-Union ultranationalistisch ist und sich als kompromisslos patriotische Bewegung darstellt, nahm sie als Organisation offiziell nicht an den gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei teil. Stattdessen war Swoboda-Chef Oleh Tjahnybok, der schon an der Granit-Revolution von 1990 und Orangen Revolution von 2004 beteiligt gewesen war, 2013-2014 einer der versiertesten und häufigsten Sprecher auf dem Unabhängigkeitsplatz. Die Swoboda-Partei war offizieller Teil der Oppositionskoalition gemeinsam mit der Vaterlands-Partei von Arsenij Jazenjuk und Ukrainischen Allianz für Demokratische Reformen (UDAR) von Witalij Klytschko. Mitglieder von Swoboda nahmen allerdings an den gewaltsamen Auseinandersetzungen teil. Die Partei beklagt nun lautstark etliche Opfer, darunter auch einige Tote.
Die zweite auf dem Euromaidan präsente rechtsextreme Bewegung war eine zunächst marginale und weitgehend unbekannte, jedoch inzwischen berüchtigte Organisation, die sich selbst „Rechter Sektor“ nennt. Noch im Januar 2014 hat der Rechte Sektor nach Eigenangaben nur etwa 300 Mitglieder; ein Repräsentant der Organisation gab in persönlicher Kommunikation mit Schechowzow damals diese Zahl an. Inzwischen beansprucht die Gruppierung für sich jedoch, einige tausend Mitglieder zu haben und den Kern des gewaltsamen Flügels der Widerstandsbewegung gegen die Regierung im November 2013 – Februar 2014 gebildet zu haben. Während der Proteste war der anfänglich wenig bedeutsamen außerparlamentarischen Gruppe erlaubt worden, ihr Hauptquartier im fünften Stock des Gewerkschaftshauses direkt am Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz einzurichten.
Bei seiner Gründung im späten November 2013 war der Rechte Sektor zunächst eine lose Dachorganisation verschiedener außerparlamentarische Mini-Organisationen, so der Grüppchen „Dreizack namens Stepan Bandera“, „Patriot der Ukraine“ und „Weißer Hammer“. Diese teils ultrakonservativen, teils neonazistischen nationalistischen Extremistenzirkel hatten sich in den ersten Tagen des Euromaidan zusammengetan, um das Janukowytsch-Regime mit Gewalt zu bekämpfen. Später bildete sich die Koalition in eine politische Partei um, die inzwischen den Einzug ins ukrainische Parlament anstrebt. Der Rechte Sektor kann bisher allerdings nur weniger als diejenigen fünf Prozent Wählerunterstützung auf sich vereinigen, die eine Partei benötigt, um bei Wahlen die Hürde zum Einzug in die Werchowna Rada (Oberster Rat) zu überwinden. Der Führer des Rechten Sektors Dmytro Jarosch erreichte bei den Präsidentschaftswahlen am 25.5.2014 deutlich weniger als ein Prozent der Stimmen.
Die extreme Rechte und europäische Integration der Ukraine
Die einst – typisch für rechtsradikale Parteien – euroskeptische Swoboda hat während der vergangenen Jahre schrittweise immer klarer Position für eine EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ukraine bezogen. Dagegen haben die unterschiedlichen Teilorganisationen des Rechten Sektors verschiedenartige und im Allgemeinen skeptischere Sichtweisen auf die EU. Ungeachtet dieser teils signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalistischen Gruppierungen bzgl. ihrer Sicht auf die europäische Integration waren die meisten mit Swoboda und dem Rechten Sektor in Verbindung stehenden bzw. diesen ähnelnde Parteien, Fraktionen, Gruppen und Grüppchen alle mehr oder minder stark an den Pro-EU-Protesten beteiligt – teils eher bei den gewaltfreien, teils eher bei gewalttätigen Aktionen. Sie schafften es gar, das internationale Image des Euromaidans in erheblichem Maße mitzubestimmen.
Letzteres geschah trotzdem in den vergangenen Monaten verschiedene Meinungsumfragen wiederholt eine summarische öffentliche Unterstützung für Swoboda-Partei und den Rechten Sektor um die fünf Prozent feststellten – manchmal mehr, manchmal weniger. Auch bildeten die Mitglieder des Rechten Sektors sowie andere ultranationalistische Aktivisten nur einen kleinen Teil der Selbstverteidigungskräfte des Euromaidan, also der dutzenden, so genannten „Hundertschaften“ der Protestbewegung, die gemeinsam Janukowytschs Polizeikräften physischen Widerstand leisteten. Dennoch wurden und werden die radikalen Rechten in der massiven internationalen Medienkampagne gegen Kyjiws neue Regierung häufig in den Vordergrund gerückt. Russlands Regierungsbeamte, führende Diplomaten, Pseudojournalisten und westliche Lobbyisten äußern sich fortwährend hyperbolisch zur Rolle der ukrainischen extremen Rechte bei den Protesten. Das offenbare Ziel der Übertreibungen und Panikmache ist, die europäische Revolution in der Ukraine als ein – zumindest teilweise – „faschistisches“ Unternehmen zu diskreditieren und damit die russische Annexion der Krim sowie verdeckte Invasion im Donbass als „antifaschistische“ Maßnahme zum Schutz angeblich bedrohter Russischsprecher zu rechtfertigen.
Die aktive – wenn auch alles in allem nur beschränkt bedeutsame – Beteiligung der beiden ukrainischen rechtsextremen Bewegungen an den demokratischen Pro-EU-Protesten in der Ukraine ist ein Paradox. Nicht nur widerspricht diese Parteinahme an und für sich dem Weltbild der Ultranationalisten: die offiziellen Werte und Prinzipien der EU sind zumindest implizit, wenn nicht gar explizit antinationalistisch. Die ambivalente, moderate bzw. positive Haltung der ukrainischen extremen Rechten zur EU und NATO weicht deutlich von der typischen Position vergleichbarer Organisationen innerhalb der EU ab (von der radikalen Rechten Russlands ganz zu schweigen). Die meisten europäischen rechtsextremen Parteien sind klar antiamerikanisch sowie mehr oder weniger EU-feindlich. Während des letzten Jahrzehnts ist nur eine große europäische rechtsextreme Partei verhältnismäßig pro-EU gewesen – die griechische Laikos Orthodoxos Synagermos (Orthodoxer Volksalarm), welche 2007-2012 im griechischen Parlament vertreten war und eine Reihe von Prinzipien der EU scharf kritisierte, jedoch Griechenlands EU-Mitgliedschaft ausdrücklich mittrug.
Der antiimperiale Impetus des ukrainischen Nationalismus
Die offensichtlichste Erklärung für die aktive Teilnahme der extremen Rechten am Euromaidan ist deren vornehmliches Ziel einer Befreiung der Ukraine aus der Einflusssphäre Moskaus – die Hauptforderung des gesamten ukrainischen Nationalismus bzw. Patriotismus, ob nun gemäßigt oder radikal. Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU wird von der Mehrzahl der ukrainischen Nationalisten – aber auch von vielen anderen Beobachtern in Kyjiw, Brüssel, Washington und Moskau – als Nullsummenspiel zwischen dem Westen und Russland verstanden: Je stärker sich die Ukraine in die EU integriert, desto weniger wird sie Teil eines neoimperialen Areals des Kremls sein. Vor allem aus diesem Grund wird die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU – wenn wahrscheinlich auch, so muss vermutet werden, mit Widerwillen – vom Großteil der ukrainischen extremen Rechten unterstützt. Die Annäherung der Ukraine an Brüssel impliziert eine klare Abwendung von Russland und die Emanzipation der Ukraine von jahrhundertelanger Moskauer Bevormundung und Unterdrückung. Die EU-Integration ist entscheidende Voraussetzung für eine unabhängige Entwicklung der ukrainischen Nation – in welche Richtung diese im Weiteren auch immer gehen mag.
Der antiimperialistische, befreiungsnationalistische Impuls etlicher ukrainischer rechtsextremer Gruppen unterscheidet diese nur wenig von ähnlichen Positionen der meisten anderen ukrainischen Parteien, welche noch deutlicher und ungeteilter pro-EU sind als Swoboda & Co. Es sind Sozialkonservatismus, Traditionalismus, kultureller bzw. biologischer Rassismus, explizite Homophobie, populistischer und integraler Nationalismus, selektive Geschichtsbilder, Apologetik des historischen Faschismus usw., die – wie in Doktrinen anderer europäischer rechtsradikaler Parteien – die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der extremen Rechten im politischen Spektrum der Ukraine bilden. Nichtsdestoweniger war die befreiungsnationalistische Perspektive der ukrainischen radikalen Nationalisten ein sichtbarer und nicht unbedeutender Aspekt der Euromaidan-Proteste, bildete diese Sichtweise doch jenen Kit, der die breite politische Koalition von radikal Links bis extrem Rechts auf dem Unabhängigkeitsplatz zusammenhielt. In diesem Sinne proeuropäische Positionen fanden sich insbesondere in der offiziellen Rhetorik der Swoboda-Partei von Tjahnybok. Sie waren in geringerem Maße auch für einige Teile des Rechten Sektors wie Jaroschs „Trysub“ (Dreizack) und die UNA-UNSO (Ukrainischen Nationale Versammlung – Ukrainische Nationale Selbstverteidigung) charakteristisch.
Der proeuroäische Impetus war weniger auffällig bzw. abwesend in den ideologischen Äußerungen solcher kleinen und kaum bekannten profaschistischen Splittergruppen wie der C14 (bzw. S14, der paramilitärische Flügel der Swoboda-Partei) oder den früheren und gegenwärtigen Rechter-Sektor-Organisationen „Patriot Ukrainy“/Sozial-nazionalna assambleja (Patriot der Ukraine/Sozial-Nationale Versammlung) und „Bilyj molot“ (Weißer Hammer). Allgemein sind die offen neonazistischen Teile der ukrainischen extremen Rechten, wie die eben genannten, eher gegen die EU. Allerdings bilden sie nur relativ marginale Sektionen innerhalb ihrer breiten Dachbewegungen, also im Vergleich mit der Swoboda-Partei bzw. anderen Teilen des Rechten Sektors. Sie sind in der ukrainischen Öffentlichkeit – ganz zu schweigen von der Beobachtergemeinde außerhalb der Ukraine – weitgehend unbekannt.
Die relative Schwäche des ukrainischen Neonazismus
Der periphere Charakter des Neonationalsozialismus innerhalb der ukrainischen rechtsextremen Bewegung als Ganzer erklärt zum Teil auch das relativ geringe Maß rassistischer Gewalt in der Ukraine, vor allem während der letzten Jahre. Dieser Trend läuft der unter einigen linken Publizisten und Politikern in der EU populären Ansicht von der Ukraine als traditioneller Hort gewalttätigen Ultranationalismus’ zuwider. Das weit verbreitete Vorurteil führte unter anderem zu einer westeuropäischen Medienhysterie im Vorfeld der Fußballeuropameisterschaften 2012. Vor allem in der britischen Boulevardpresse, aber auch in deutschen linken Presseorganen erschienen alarmistische Warnungen vor möglicher neonazistischer Gewalt gegen farbige Fußballfans, die die Spiele in Charkiw, Donezk, Lwiw und Kyjiw besuchen würden. Jedoch gab es während des gesamten Turniers nicht einen einzigen bedeutsamen Vorfall rassistischer Gewalt in der Ukraine. Stattdessen ereigneten sich fast alle Vorfälle solcher Art im EU- und NATO-Mitgliedsstaat Polen. Eine Entschuldigung der westlichen Presseorgane für ihre grundlose Diffamierung und wahrscheinliche Abschreckung etlicher potenzieller Besucher der Ukraine ist bis heute ausgeblieben.
Laut einer Statistik der Xenophobie-Beobachtergruppe des Euro-Asiatischen Jüdischen Kongress über Hassverbrechen wurden in der Ukraine in den Jahren 2012-2013 etwa 40 Personen Opfer rassistischer Übergriffe. Ein Mord aufgrund ethnischen Hasses ist in der Ukraine das letzte Mal im Jahre 2010 registriert worden. Im Vergleich dazu werden laut dem Londoner Institute of Race Relations z.B. im Vereinigten Königreich jährlich im Durchschnitt etwa vier Personen aus fremdenfeindlichen Gründen oder aufgrund von Homophobie umgebracht (Großbritannien hat etwa ein Viertel mehr Einwohner als die Ukraine: 63 vs. 46 Millionen). Auch in anderen west- und osteuropäischen Ländern gleicht die Statistik über Hassverbrechen eher dem britischen als ukrainischen Muster. Die mit Abstand größte Anzahl gewalttätiger Hassverbrechen in Europa wird sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen seit etlichen Jahren von neonazistischen Skinheads und anderen Rassisten in Russland verübt. Anzufügen ist, dass bei diesen Statistiken keine möglichen Gewaltverbrechen von Rechtsextremisten in Kampfgebieten, wie dem Nordkaukasus oder der Ostukraine berücksichtigt sind, also nur Straftaten unter „friedlichen“ Bedingungen registriert werden.
Der späte Aufstieg des parteipolitischen Ultranationalismus in der Ukraine
Während der ersten zwanzig Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit zeichnete sich die extreme Rechte der Ukraine durch ihre überraschende, seit dem Untergang der Sowjetunion 1991 konstante elektorale und parlamentarische Bedeutungslosigkeit auf nationaler Ebene aus. Erst bei den ukrainischen Parlamentswahlen von 2012 erreichte die Swoboda-Partei bei der Abstimmung nach Verhältniswahlrecht 10,44 Prozent. Da sie bei der Abstimmung nach Mehrheitswahlrecht weniger erfolgreich war, zog die Swoboda-Partei mit einer Fraktion von nur 37 Abgeordneten in das aus 450 Abgeordneten bestehende ukrainische Parlament, die Werchowna Rada (Oberster Rat), ein.
Die lange parteipolitische Bedeutungslosigkeit der Ultranationalisten war in zweifacher Hinsicht paradox. Zum einen war sie im Vergleich zu den beachtlichen Wahlerfolgen der extremen Rechten in einigen ostmitteleuropäischen Nachbarländern der Ukraine, z. B. in der Slowakei, Polen und Ungarn, wie auch in Russland sowie Westeuropa 1991-2012 verwunderlich. Zum anderen überraschte die lang anhaltende Schwäche der ukrainischen Rechtsradikalen im Lichte der enormen ökonomischen Verwerfungen in der postsowjetischen Ukraine, welche Mitte der 1990er Jahre zu einer der tiefsten sozialen Krisen in der Geschichte Europas führten.
Wie kam es vor diesem Hintergrund zum Überraschungsergebnis der Swoboda-Partei von mehr als zehn Prozent im Jahre 2012? Der Einzug der Swoboda-Partei ins Parlament war nur zum Teil Ausdruck einer Rechtswendung in der ukrainischen Gesellschaft. Es handelte sich vielmehr um eine Gegenreaktion auf die – von vielen Ukrainern so empfundene – manifest unpatriotische, antiukrainische und prorussische Politik des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch sowie dessen Partei der Regionen und deren kleiner Koalitionspartner, der sowjetnostalgischen Kommunistischen Partei der Ukraine.
Das Swoboda-Resultat von 2012 war auch eine Reaktion auf die mangelnde Disziplin der beiden wichtigsten demokratischen Fraktionen in der Werchowna Rada jener Zeit. 2010-2011 hatten viele orangen Abgeordnete ihre Mandatsfreiheit missbraucht, verrieten de facto ihre Wähler und machten die Machtakkumulation Janukowitschs durch skandalöse Mandatswechsel möglich. Eine ganze Reihe der im Jahre 2007 gewählten Abgeordneten, die über Listen von Wiktor Juschtschenkos Allianz „Nascha Ukrajina – Narodna Samooborona“ (Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung) und Julija Tymoschenkos Partei „Batkiwschtschyna“ (Vaterland) ins Parlament gekommen waren, lief zur neuen Regierungskoalition der Partei der Regionen und Kommunisten unter Ministerpräsident Mykola Asarow über.
Man kann daher vermuten, dass im Jahre 2012 ein Teil der Swoboda-Wähler diese Partei nicht wegen ihres ethnozentrischen und homophoben Programms unterstützten, sondern weil sie in der Freiheits-Union die entschiedenste und disziplinierteste Opponentin zu Janukowytsch & Co. sahen. Weniger die rechtsextreme Grundhaltung der Freiheitlichen, sondern ihr besonderer rhetorischer Radikalismus als solcher und ihr relativ klares politisches Image motivierte scheinbar viele patriotische und oftmals demokratische, darunter sogar antinationalistische ukrainische Wähler dazu, ihr Häkchen bei der Swoboda-Partei zu machen. Der Ultranationalismus der Freiheitlichen ist von diesen Wählern offenbar eher in einem befreiungsnationalistischen als in einem rassistischen oder fremdenfeindlichen Sinne (fehl)interpretiert worden.
Zumindest in Bezug auf Parteidisziplin hat die Swoboda-Partei ihre nicht-nationalistische Wählerschaft auch nicht enttäuscht: Noch nie hat ein Swoboda-Parlamentsabgeordneter die Seiten gewechselt – im Unterschied zu einer großen Zahl anderer Mitglieder des ukrainischen Parlaments während der letzten Jahre. Ähnliche Imagefaktoren – demonstrative Prinzipienfestigkeit, Kampf- und Opferbereitschaft, Entschiedenheit usw. im Kampf gegen Janukowitsch bzw. die ostukrainischen Separatisten – waren und sind offenbar auch wesentliche Gründe für die wachsende Unterstützung des Rechten Sektors der letzten Monate gewesen.
Wie wichtig wird der ukrainische parteipolitische Ultranationalismus sein?
Die Gründe für den Aufstieg der Swoboda-Partei und des Rechten Sektors in den Jahren 2012-2014 könnten im Umkehrschluss auch zu einem Problem für die Rechtsextremisten in der Zukunft werden. Die bislang starke Polarisierung in der ukrainischen Innenpolitik, von der sie die letzten vier Jahre profitiert hatten, scheint nun vorüber: der Euromaidan hat gewonnen, und Janukowytsch und etliche seiner Mitstreiter sind aus dem Land geflohen. Für viele Wähler mögen damit die einstigen Gründe für die Unterstützung disziplinierter Radikaler wie die Swoboda-Partei hinfällig werden.
Zum anderen gab und gibt es eine Diskrepanz zwischen der radikalen Wahlkampfrhetorik der Swoboda-Partei einerseits und ihren wirklichen Aktionen andererseits. Sowohl im Parlament, als auch auf der Straße während des Euromaidans war die Swoboda-Partei entgegen ihrem propagierten Selbstbild ein in der Realität letztlich relativ zahmer politischer Akteur. Obwohl sie viele Skandale lostrat und sich aktiv an Händeleien im Parlament beteiligte, war sie weder in der Gesetzgebungsarbeit noch auf bei den Massenprotesten fähig oder willens, so konsequent und entschieden zu handeln, wie sie es einst versprochen hatte. Entsprechende Desillusionierung bei ihren einstigen Wählern mag ebenfalls ein Grund für den allmählichen Verlust an Unterstützung während der letzten zwei Jahre gewesen sein. Ob die jetzige Beteiligung der Freiheitlichen mit zunächst vier und inzwischen drei Ministern sowie dem Generalstaatsanwalt an der im März 2014 gebildeten Übergangsregierung der Partei zum Vorteil bei Wahlen gereichen wird, ist noch unklar.
Die künftigen Imageprobleme der Rechtsradikalen wurden durch die schwachen Ergebnisse der Kandidaten Tjahnybok, 1,17 Prozent, und Jarosch, 0,69 Prozent, bei den Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai 2014 illustriert. Diese Resultate lagen sogar noch unter den bescheidenen Prognosen vor den Wahlen, was eher untypisch ist, da Rechtsradikale häufig mehr Unterstützung in Wahlen als bei Umfragen erhalten. In einer Wählerbefragung des renommierten Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie Mitte März 2014 hatten noch 2,5 Prozent der potenziellen Wähler für Tjahnybok und 0,9 Prozent für den Anführer des Rechten Sektors, Jarosch, gestimmt.
Anzumerken ist darüber hinaus, dass durch die teilweise Verhinderung der Stimmabgabe in den Regionen Krim, Donezk und Luhansk das Endergebnis der Präsidentschaftswahlen zugunsten der ethnonationalistischen Kandidaten verschoben wurde. Deren Unterstützung liegt diesen russophonen Regionen deutlich unter dem jetzigen Landesdurchschnitt. Hätte es die Möglichkeit einer problemlosen Abstimmung auf der Krim und im Donbass gegeben, wäre das prozentuale Gesamtresultat für die beiden rechtsradikalen Parteiführer noch geringer, als die ohnehin peinlichen jetzigen Ergebnisse ausgefallen.
Freilich käme die Swoboda-Partei bei vorgezogenen Parlamentswahlen laut Umfragen wahrscheinlich auf über fünf Prozent der Stimmen, was ggf. ihren Wiedereinzug ins Parlament mit eigener Fraktion bedeuten würde. Aber auch das wäre etwa nur noch knapp oder gut die Hälfte des Zuspruchs, den die Partei 2012 bei den Wahlen zur Werchowna Rada erreichte. Das jetzt verbliebene Unterstützungspotenzial besteht offenbar hauptsächlich aus den ultranationalistischen Swoboda-Kernwählern sowie aus gemäßigt nationalistischen Wählern in Galizien, wo die Freiheits-Union inzwischen als Mainstream-Partei wahrgenommen wird.
Es bahnt sich noch eine neue Herausforderung für die Swoboda-Partei an: ein möglicher Wettbewerb mit dem Rechten Sektor um die ultranationalistische Wählerschaft bei den nächsten Parlamentswahlen. Wenn es bei der gegenwärtigen Fünfprozenthürde in den Verhältniswahlen und Spaltung der Rechtsnationalisten in zwei Bewegungen bleibt, könnte die ukrainische Rechte in eine Problemsituation kommen, die es in anderen europäischen Ländern, so in Deutschland, vorher auch schon gab. Angenommen die extreme Rechte bleibt zweigeteilt und kommt bei den Parlamentswahlen insgesamt auf sieben Prozent. Dann kann es passieren, dass trotzdem nicht eine der beiden Parteien in der Werchowna Rada vertreten sein wird, da die Stimmen mit zum Beispiel 4,5 Prozent für Swoboda und 2,5 Prozent für den Rechten Sektor verteilt sein könnten. Allerdings dürften Rechtsextremen dieser Gefahr gewahr sein und werden vermutlich versuchen, solch ein Debakel zu verhindern.
Bleibt die prorussische Partei der Regionen weiterhin so zersplittert und desorientiert wie derzeit, würde die Swoboda-Partei eine ihrer Quellen für negative Mobilisierung verlieren. Die Swoboda-Führung müsste sich nach anderen Möglichkeiten der Anwerbung nicht-extremer Wähler umsehen, indem sie zum Beispiel einen spürbaren Beitrag zum militärischen Widerstand gegen die fortlaufende verdeckte russische Aggression im Osten der Ukraine leistet. Sollte es der Swoboda-Partei nicht gelingen, solche oder andere neue Gründe zu finden, dass ukrainische Gemäßigte ihr ihre Stimme geben und sollte der Rechte Sektor Tjahnybok Wähler abspenstig machen, könnte die ukrainische Rechte wieder an den außerparlamentarischen Rand des politischen Lebens der Ukraine zurückgedrängt werden. Sollte sich andererseits die extreme Rechte vereinigen und die bürgerkriegsähnlichen Zustände sowie Konfrontation der Ukraine mit Russland anhalten, könnte dies auch zu einem Wiedererstarken oder sogar Aufstieg des ukrainischen Ultranationalismus führen.
27. Mai 2014 // Anton Schechowzow, Andreas Umland
Aus dem Englischen von Thomas Meyer. Zuerst erschienen in den „Ukraine-Analysen“ (Nr. 133, S. 7-11) vom 27. Mai 2014.
Dr. Anton Schechowzow forscht am University College London und ist Herausgeber der Buchreihe „Explorations of the Far Right“ (ibidem-Verlag) sowie Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Radicalism and New Media“ an der Universität Northampton.
Dr. Andreas Umland lehrt an der Kyjiwer Mohyla-Akademie und ist Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ (ibidem-Verlag) sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Europa-Ausschusses des ukrainischen Parlaments.
Literatur:
Viacheslav Likhachev: Right-Wing Extremism in Ukraine. The Phenomenon of Svoboda. Kyiv, 2013.
Alina Polyakova: On the March. The Coming Rise of Ukrainian Ultra-Nationalists. In: Foreign Affairs, 11.5.2014, http://www.foreignaffairs.com/articles/141405/alina-polyakova/on-the-march.
Pravyj radikalizm v segodnjašnej Ukraine. In: Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i kul’tury [Sondersektion], Bd. 10, H. 1 (2013), S. 7-150 http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/inhaltruss19.html.
Andreas Umland, Hrsg.: Post-Soviet Ukrainian Right-Wing Extremism. In: Russian Politics and Law [Sondernummer], Bd. 51, H. 5 (2013), S. 3-95.
Anton Shekhovtsov: The Creeping Resurgence of the Ukrainian Radical Right? The Case of the Freedom Party. In: Europe-Asia Studies, Bd. 63, H. 2 (2011), S. 203-228.
Anton Shekhovtsov: From electoral success to revolutionary failure. The Ukrainian Svoboda party. In: Eurozine, 5.3.2014, http://www.eurozine.com/articles/2014-03-05-shekhovtsov-en.html.