Ukrainische Schande: Wie die Ukraine Landsleute aus Wuhan aufnahm


Ich schäme mich sehr. Sogar nach so vielen Lebensjahren und bei einem derartigen Beruf, von dem man meinen würde, dass er schon längst alle Illusionen zerstreut und eine beständige Immunität gegenüber unterschiedlichen Erscheinungsformen von nicht gerade den besten menschlichen Qualitäten erzeugt hätte. Aber in den letzten Tagen quälte mich eine glühende Scham – sowohl für meinen Staat als auch für meine Landsleute. Wie die Ukraine ihre Bürger aus Wuhan ausflog und empfing, ist für mich persönlich eine nationale Schande.

Ich wunderte mich überhaupt nicht über die üblichen Manifestationen der Hilflosigkeit und des Unvermögens der Behörden, ihre Unfähigkeit, schnell eine saubere Entscheidung zu fällen und eine unverzügliche Evakuierung ihrer Bürger aus der von der Epidemie betroffenen chinesischen Region durchzuführen, wie es andere Staaten schon lange getan haben. Das nächste Versagen der Kommunikation mit der Gesellschaft, das Fehlen klarer Berichte über spezifische Maßnahmen in Bezug auf die Prävention und Bekämpfung einer möglichen Epidemie des chinesischen Coronavirus in der Ukraine überraschte mich ebenfalls nicht.

Ich war entsetzt darüber, wie die Regierung im Allgemeinen und insbesondere das Gesundheitsministerium die Evakuierung und Vorbereitung der Aufnahme von Ukrainern aus Wuhan in die Quarantäne organisierte und bis zum Ende nicht wusste, wo und wie untergebracht werden sollten. Es tat mir unglaublich leid für diese Leute, die in einer Notsituation in einem fremden Land festsaßen, auf den Koffern sitzend und von Tag zu Tag nur Versprechungen hörend, dass gleich auch ein Flugzeug für sie angeflogen kommt und sie in die Heimat bringen wird. Das Verhalten der jungen Ukrainerin Anastassija Sintschenko, die sich weigerte, ohne ihren Freund nach Hause zu fliegen, obwohl dieser Freund „nur“ ein Hund war, rührte mich zu Tränen. [Sie sitzt bis heute trotz persönlichem Versprechens von Präsident Selenskyj in Wuhan fest. A.d.R.]

Daher war ich wahrlich erstaunt darüber, wie sich meine Mitbürger in verschiedenen Regionen des Landes – sowohl im Westen als auch im Osten und gleich nebenan, in der Nähe von Kyjiw – darauf vorbereiteten, ihre in Not geratenen Landsleute zu empfangen. Wenn man dieses Chaos der Hexenjagd und der Höhleninstinkte betrachtet, möchte man einfach das ganze Land anschreien: „Leute, ihr seid doch Men-sch-en!“

Wilde Kundgebungen zu organisieren, Straßensperren, in den Nächten Wache zu halten, Gräben zu graben, um Menschen nicht hineinzulassen, die bereits so sehr gelitten haben? Und noch dazu nicht zu ihnen nach Hause, nicht in ihr eigenes Haus, sondern in eine Einrichtung, die von der Nationalgrade und der Polizei bewacht wird. Und nicht zur Behandlung, sondern nur zur Quarantäne. Keine Pest-, Cholera- oder Leprakranken, sondern Menschen, die ein paar medizinische Grenzen überschritten haben, welche nicht die geringsten Anzeichen irgendeiner Infektionskrankheit gezeigt haben.[Nach den zwei Wochen unter Beobachtung wurde bei keinem der Gruppe Krankheitssymptome festgestellt und alle konnten problemlos nach Hause. A.d.R.] Schämen Sie sich nicht, dass Transportpanzer diese Leute vor der verrückt gewordenen Menge schützen müssen?

Werden Sie Reifen stapeln? Ernsthaft? Jetzt, wo wir uns an die tragischsten Tage des Majdan erinnern, wo wir die Nebesna sotnja [A. d. Ü. – „die Himmlische Hundertschaft“ ist eine kollektive Bezeichnung für die getöteten Demonstranten, die im Zuge des Euromajdan (Revolution der Würde) starben] ehren? Nun sagen Sie, wie können so unterschiedliche Menschen in einer Gesellschaft geboren werden? Diejenigen, die vor sechs Jahren mit Holzschildern unter die Kugeln der Scharfschützen kamen, mit einer realen Gefahr konfrontiert waren und das Recht auf Freiheit und Würde für die ganze Nation verteidigten; und diejenigen, die heute in ganzen Dörfern, ohne Gedanken zum Thema Humanismus oder allgemeine menschliche Werte aufkommen zu lassen, Straßen blockieren und fordern, Stammesangehörige (!sic), die aus China zurückkehren, in die Tschernobyl-Zone oder auf die Schlangeninsel [unbewohnte Insel im Schwarzen Meer, A.d.R.] umzusiedeln?

Wo ist jene Nation, die ich vor sechs Jahren so bewundert habe? So riskierten damals viele von uns tatsächlich das Leben und die Freiheit und verbrachten Tage und Nächte auf den Plätzen des Landes, brachten die Verwundeten weg und versteckten sie bei sich zu Hause, gaben den nicht ortsansässigen Demonstranten ein Obdach, indem sie fremde Menschen in das eigene Haus ließen, brachten Lebensmittel, Medikamente, Brennstoff und sogar Zutaten für „Molotow-Cocktails“ auf den Majdan. Doch heute müssen die unschuldigen Landleute, die aus Wuhan zurückgekehrt sind, notgedrungen von der Nationalgarde und Spezialeinheiten bewacht werden, damit nicht (wie das bereits im Internet befürchtet wurde) das Sanatorium, in dem sie untergebracht wurden, niedergebrannt wird.

Dies ist eine sehr beschämende Geschichte. Sowohl für die Staatsgewalt, die beim Schutz ihrer Bürger hilflos ist, als auch für uns, die Journalisten, von denen viele in dem Bestreben, das Thema zu „hypen“, in der Gesellschaft die Hysterie rund um das Coronavirus aufgebauscht haben. Und auch für das Volk, dessen zahlreiche Vertreter nicht nur das Fehlen kritischen Denkens, sondern auch des Humanismus und der Nächstenliebe deutlich demonstriert haben.

20.02.2020 // Tetjana Sylina

Quelle: Dserkalo tyschnja

Übersetzerin:   Agnes Poitschek  — Wörter: 792

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