Ukrainischer Protest


Die Gegner der Bankowaja (Sitz des Präsidenten) brauchten Es unbedingt und haben Es monatelang vergeblich gesucht, aber Es fand sich von selbst.

„Es“ – ist das Volk.

Die Ukraine wird noch lange nach den Gründen für den „unternehmerischen“ Maidan suchen, obwohl die Hauptursache auf der Hand liegt. Die Bürger, welche hinter den Grenzen des brodelnden, virtuellen Raums leben, kann nur eins mobilisieren – die natürlichen, wirtschaftlichen Interessen. Das mag gut oder schlecht sein, aber es ist so. Das liegt in der menschlichen Natur.

Die oppositionellen Theoretiker, welche in höheren, ideologischen Sphären schweben, haben sich daran gewöhnt, den sozialökonomischen Bereich als etwas Unveränderliches und Zweitrangiges zu betrachten. Kann man etwa die Sorge um den eigenen Geldbeutel mit dem heroischen Kampf für Demokratie, Nation oder die slawische Einheit vergleichen?

Aber das Leben selbst zeigt uns eine wirkliche Wechselwirkung der Wertigkeiten. Wer Augen hat, wird das auch sehen! Auf der einen Seite die allgemeine „Anti-Tabatschnik Kampagne“, die kraftlosen Aktionen gegen den Charkower Pakt, das totgeborene „Komitee zur Verteidigung der Ukraine“ (NKSU). Auf der anderen der grandiose Sturm, provoziert vom Steuergesetz.

Ein ähnliches Bild ließ sich auch in gar nicht ferner Vergangenheit beobachten.

Der Triumph der ukrainischen Nationaldemokraten zu Anfang der neunziger Jahre wurde vom Kollaps der sowjetischen Wirtschaft und den Träumen von einem besseren Leben verursacht. Der Erfolg der orangenen Opposition 2004 ist untrennbar mit der Kritik am Oligarchenregime Kutschmas und dem Versprechen, die Ukraine in ein wohlhabendes, europäisches Land zu verwandeln, verbunden.

Wenn man die Helden der UPA, die Ukrainisierung des Kinoprogramms oder den Genozid des Golodomor aufs Schild gehoben hätte, hätte sich Viktor Andrejewitsch nicht auf eine solch breite Unterstützung im Volk stützen können, und der Maidan wäre im Kindbett gestorben.

Unter unseren Gegebenheiten hätte Dmitrij Donzow nur auf den Schultern von Karl Marx oder Adam Smith Chancen, sich in den Vordergrund zu schieben. Die Apologeten der nationalen Idee sind gezwungen, sich auf fremde ökonomische Interessen zu stützen, und heute hat diese Praktik absurde Formen angenommen.

Im Laufe der letzten acht Monate hat man versucht, das Volk zum Kampf gegen das antiukrainische Regime zu bewegen.

Vergebens!

Aber sobald die Volksvertreter, dem Ruf des Geldes folgend, auf den Maidan traten, erklärte man sie auf der Stelle zu bekennenden Söhnen der Nation, brachte ihnen die Parole „Ruhm der Ukraine!“ bei, rief zum Kampf gegen die Okkupationsmacht, das Moskauer Patriarchat und die Gesetzesentwürfe zur Sprache auf…

Die wütenden Passionierten versuchen, die wirtschaftliche Basis dem abstrakten, ideologischen Paradigma unterzuordnen. Sollte diese Tendenz in naher Zukunft überwunden werden, könnten in der Ukraine einflussreiche Gewerkschaften, echte Sozialdemokraten und Liberale, neue politische Kräfte, welche die Interessen einer konkreten sozialen Gruppe vertreten, entstehen.

Und wenn nicht?

Die Meuterei der empörten Unternehmer ist nur der Anfang. Im Frühling wird sich ein fruchtbarer Boden für soziale Proteste herausbilden.

Mit der Systemkrise kollidierend, zieht das Team um Janukowitsch eifrig die Schrauben an und schnallt den Gürtel des Volkes enger. Das betrifft alle – Rentner, Beamte, Lohnarbeiter.

Gewöhnlich spielt eine solche Politik den linken Kräften in die Hände. Allerdings gibt es in der Ukraine ganz einfach keine klassischen Linken. Die KPU ist die Partei der Russophilen und verteidigt die konservativen Werte des Südostens.

Die fortschrittliche Intelligenz, welche die öffentliche Meinung formt, erschauert vor linken Losungen und roten Bannern wie eine viktorianische Dame vor pornographischen Postkarten. In unserem Land ist die nationale Idee zum Synonym für Progressivität geworden.

Und deshalb profitieren vom Engerschnallen des Gürtels die Kräfte, welche nationale und soziale Demagogie organisch in Einklang bringen. So gibt es in der Ukraine ein Projekt der dynamisch wachsenden „Swoboda/Freiheit“, das sich vor nicht allzu langer Zeit noch sozial-nationale Partei nannte.

Nun einige Worte zum Sozialnationalismus, der ja Nationalsozialismus ist – durch den Austausch der Summanden ändert sich nicht das Ergebnis.

Diesen klangvollen Terminus muss man durchaus nicht unbedingt mit dem Dritten Reich assoziieren. In der Nachkriegszeit genoss eine ähnliche Ideologie auch in der dritten Welt große Popularität.

Viele glänzende Führer waren Sozialnationalisten – von Gamal Abdel Nasser bis Patrice Lumumba. Sie verbanden erfolgreich die attraktive These „Wegnehmen und Teilen“ mit dem Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit der Bourgeoisien, die sich den nationalen Reichtum angeeignet hatten.

In dieser Rolle konnten die dämonischen Juden, Engländer, Franzosen, Belgier, Spanier, Portugiesen, Holländer oder, sagen wir, Inder in Uganda 1972, auftreten.

Richten Sie selbst: Irgendwelche Asiaten, die von den englischen Kolonialherren ins Land gebracht wurden, kontrollieren den Handel, und die alteingesessenen Ugander verarmen. Ungerecht! Und Präsident Idi Amin trifft die einzig richtige Entscheidung: Die hochnäsigen Inder aus dem Land werfen und ihren Besitz loyalen Patrioten übergeben. Wirklich, die nationale Ökonomie sollte lange leben, aber das ist schon eine andere Geschichte…

Auf Herrn Tjagnibok warten keine Lorbeeren eines ukrainischen Nasser oder Amin: Oleg Jaroslawowitsch hatte keine realistischen Chancen, an die Macht zu kommen. Damit gewinnt er auch die Bankowaja.

Im Laufe der Lokalwahlen bemühten sich die Regionalen, „Swoboda“ als wichtigste und aussichtsreichste Oppositionspartei zu positionieren. Heute nimmt man die Leute Tjagniboks demonstrativ ins Verhör, um die „Freiheitler“ im Nachhinein mit dem „unternehmerischen“ Maidan in Verbindung zu bringen.
Wie geht es weiter? Offensichtlich bemühen sich die Machthaber, sie nach dem Maß des Wachstums der Proteststimmung, in eine sozial-nationale Richtung zu lenken, wodurch die Hälfte der Bevölkerung automatisch von Protesten absehen würde.

Objektive, ökonomische Einwände in die gewöhnlichen Auseinandersetzungen zwischen Banderowzy und Russophilen einzuführen, ist der beste Ausweg für die Bankowaja.

Im Laufe der letzten acht Monate konnte die Führungsmannschaft mit Leichtigkeit die Attacken der Opposition, die sich mit national-patriotischer Rhetorik bewaffnet hatte, abwehren. Und nun hat der spontane, ökonomische Protest die Regionalen überrascht und zu Zugeständnissen gezwungen.

Die Konsequenz ist klar: Die Bankowaja hat Angst vor einem Gegner, der frei von ethno-kulturellen Malen ist. Janukowitsch und Co. brauchen eine selbst gestrickte Opposition unter dem Porträt Banderas und anti-russischer Parolen.

Natürlich kann man die Erfolge Tjagniboks nicht nur mit der indirekten Unterstützung durch die Machthaber erklären. Kutschma und Medwedtschuk passte die UNA-UNSO auch gut, diese politische Struktur blieb aber trotzdem marginal.

Der Boden für den Höhenflug von „Swoboda“ wurde eifrig von der progressiven Intelligenz beackert. Der Versuch der Einführung eines bizarren, national-liberalen Hybrids führte zum faktischen Ende des ukrainischen Liberalismus, dafür hat die gestern noch marginale Partei Tjagniboks ihre gesellschaftliche Legitimation erhalten.

Schon einige Jahre infolge wiederholen unverbesserliche Demokraten und Europäer hartnäckig: „Ein Nationalist kann nicht schlecht sein! Nur Sowjetrevanchisten und Chauvinisten aus dem Kreml kritisieren die nationalistische Ideologie!“ Im Ergebnis hat sich eine Kraft in den Vordergrund geschoben, die der Öffentlichkeit einen Nationalismus ohne faule liberale Zusätze präsentiert.

Schon einige Jahre infolge lobpreist die pflichtbewusste Intelligenz Bandera und Schuchewitsch. Im Ergebnis saßen Politiker im Sattel, die die Rhetorik der OUN wiederholen. Das ist absolut gesetzmäßig. Und die verspätete Kritik an „Swoboda“ vonseiten der aufgeklärten Intellektuellen erinnert an den Kampf Doktor Frankensteins mit seiner Schöpfung.

Und so werden die Sozial-Nationalisten von mächtigen Faktoren begünstigt:

a.) die objektiven ökonomischen Vorbedingungen
b.) der ideologische Diskurs, der von der ukrainischen Intelligenz vorgegeben wird
c.) die Position der Bankowaja, die derartige Oppositionelle vorzieht

Die Aufgabe, vor der die adäquaten Gegner Janukowitschs stehen, wird entsprechend schwerer. Sie sollten nicht nur eine Alternative zum aktuellen Regime präsentieren, sondern auch zur sozial-nationalistischen Opposition, die bereit ist, die Proteststimmungen zu kanalisieren.

9. Dezember 2010 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke  — Wörter: 1194

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