Die unehrliche Stimme der Geschichte


Ich weiß: ich sollte mich freuen – aufrichtig, ausgiebig und hörbar. Doch ich kann nicht, ich mag nicht. Der ukrainische Gesetzgeber hat einen Beschluss gefasst, der totalitäre Symbolik verbietet. Ich, ein ehemaliger Insasse sowjetischer Straflager, freue mich nicht. Denn ich kenne die ganze schreckliche Wahrheit über mein Land seit langem. Zudem hätten nicht gerade diese Gauner und Populisten zur Stimme der Geschichte werden sollen. Leider sind gerade sie heute Gesetzgeber – lasterhafte und unehrliche. Nicht alle, aber viele.


Sowohl der Faschismus als auch der Kommunismus waren für mich schon immer offensichtliche Übel. So erzogen mich meine Eltern – auf den Tod verschreckte Mitglieder der KPdSU, die das Kriegsende als Angehörige der Roten Armee im besiegten Berlin erlebt haben. Mein Großvater, der Vater meines Vaters, hat sein Leben in der Schlucht von Babij Jar verloren.

In einem anderen sowjetischen Leben, habe ich meine Strafe dann mit denen verbüßt, die im Krieg an Erschießungen beteiligt waren und Gaskammern bedient haben. Ja, genau: neben Swetlitschnyj, Stus, Kowaljow und Martschenko haben nämlich jene, die Hitler gedient haben, ihre nicht wieder gut zu machende Schuld gesühnt – auch wenn man sich daran nicht gerne erinnert. Diese Leute haben nicht von ihrer Nazi-Vergangenheit erzählt, keine nationalsozialistischen Feiertage gefeiert… Sie haben erneut gedient. Im Unterschied zu uns – den Sowjetgegnern – wurden sie von der Lageradministration gütig behandelt, sie kannten den Geruch der Arestzellen nicht, sie versorgten sich großzügig im Geschäft des Lagers. Alle wurden sie von den KGB-Offizieren und den Herren Fähnrichen und Aufsehern als sozial nahestehend eingestuft, da sie angeblich felsenfest auf dem Weg der Verbesserung standen.

Ein gewisser Verurteilter Schowkunenko, der auf jede Art und Weise von der Lagerverwaltung VS 389/35 unterstützte wurde, war unser Wachhund, Brigadier und unersetzlicher „Vorsitzender des Kollektivrats“. Er und ein Duzend ihm ähnliche Angehörige der NS-Strafkommandos nahmen ihre Mahlzeiten gesondert von uns ein und erschienen erst dann zum Essen, wenn wir die Lager-Mensa schon wieder verlassen hatten.

Dort, in den Lagern, zeigte sich mir das wahrhaftige Antlitz der sowjetischen Macht. Der stämmige Dreckskerl Woloschin, der von einem sowjetischen Gericht für bestialische Morde an Häftlingen in Buchenwald bestraft worden war, wurde als „Pionier des Alltags und der Arbeit“ gehegt und gepflegt. Dieser vor Hass kochende Schuft wurde in dem von „Schriftstellern“ des KGB herausgegebenen Buch „Fremde Stimmen im Äther“ sogar zur positiven Figur, die angeblich vielerlei Verleumdungen seitens Iwan Swetlitschnyjs und mir, aufgedeckt hat.

Ein Dagestaner und ein armenischer Kurde, die in der „Kaukasischen Legion“ der SS gedient und ihre Straffunktionen tüchtig ausgeführt hatten, waren auch mit uns. Doch auch sie lebten im Straflager anders: satt und zuversichtlich. Mit ihnen haben unsere ruhmreichen Organe, kühl im Kopf und heiß im Herz, nicht gekämpft. Gekämpft haben sie mit uns, die wir es wagten, die Erfolge der sowjetischen Führung und die Rechtschaffenheit ihrer Absichten, anzuzweifeln. Mit Wladimir Bukowskij, Igor Kalinez, Wladimir Marmus, Scharunas Schukauskas und Mati Kijrend.

In meinem Land ist totalitäre Symbolik verboten. Schade, dass das früher nicht so war. Wäre das früher geschehen, wäre der stets mit dem Strom schwimmende Pjotr Simonenko, der im Grund ein Kapitalist ist, nicht gezwungen gewesen, die ihm fremde Rolle des Kämpfers für die Klassengerechtigkeit zu spielen. Der laute Oleg Tjagnibok hingegen hätte die Bezeichnung der Parteisymbole nicht geändert.

Leider sind sowohl die kommunistische Ideologie Stalin’scher Prägung als auch die nationalsozialistische Nostalgie Adolf Hitlers in der ukrainischen Gesellschaft erhalten geblieben. Und nicht nur im leicht retuschierten Anstrich der Sozial-Nationalen Partei. Etwas zu verbieten ist sinnlos, wenn es keine Schutzimpfung gegen die Vergangenheit gibt. Millionen deutscher Jungen und Mädchen im Schulalter besuchen über ein obligatorisches staatliches Programm die schrecklichen Museen der Nazi-Todeslager und immunisieren ihr europäisches Bewusstsein gegen die Viren einfacher politischer Entscheidungen.

Bei uns in der Ukraine ist alles anders.

Keiner unserer Präsidenten hat ein obligatorisches Besuchsprogramm für die Jugend eingeführt an Orte wie den Folterkeller des NKWD-MGB, den Kiewer Bykownja-Friedhof, den Friedhof der in Babij Jar Ermordeten (es gab nicht nur jüdische Opfer) und Dutzende, ja Hunderte ähnlich schrecklicher Orte und Gebäude in der ganzen Ost- und Westukraine.

25 verlorene Jahre – und die einzige Ausbeute für das Land sind Dutzende plötzlich reich gewordene Dollar-Milliardäre.

Und noch mehr aus der Vergangenheit – aus meiner und ihrer Vergangenheit: In den politischen Lagern Mordowiens und des Urals gab es offene Nazi-Propaganda. Sie war nicht auf alte Hilfspolizisten und ehemalige SS-Angehörige zurückzuführen, sondern auf junge Leute mit vor allem russischer Herkunft und keinesfalls dissidentischem Intellekt. Aus unterschiedlichen halb-politischen Motiven (versuchter Grenzübertritt, Vorbereitung sinnloser, fehlerhafter Flugblätter etc.) verhaftet, standen sie alle felsenfest auf dem berüchtigten Weg der Besserung, wurden mit zusätzlichen Lebensmitteln im Umfang von zehn sowjetischen Rubeln im Monat belohnt und zudem mit allen möglichen Medikamenten versorgt, die in diesen Umständen erhältlich waren – darunter auch solche mit berauschender, narkotisierender Wirkung. Das Ziel dieser Nazi-Propaganda war ein offensichtliches und konkretes: den Massen an moralisch unbeständigen Insassen heißen Hass gegen die ukrainischen Nationalisten und die Juden einzuflößen, die sich mit den Nationalisten angefreundet hatten und die angeblich für jeden Protest und Tag im Hungerstreik Massen an Dollar auf ihre Bankkonten in der Schweiz überwiesen bekamen.

Ich erinnere mich an vieles. Ich erinnere mich auch an meine verstorbenen Freunde. Deshalb kann ich diese Populisten und Demagogen, die sich wie Parasiten an der Vergangenheit nähren, nicht aushalten. Denn eins ist sicher: wenn sich die Regierung ändert, werden auch viele von ihnen eine andere Symbolik tragen – dieselbe im neuen Gewand.

14. April 2015 // Semjon Glusman – Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Dienstes für Strafvollzug der Ukraine

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Helena Maier  — Wörter: 917

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