„Unsere“ oder „Fremde“: Warum man die Krim nicht verallgemeinern sollte
Wissen Sie, worin das Hauptproblem der Krim besteht? Darin, dass die Ukraine bis heute sich nicht darauf geeinigt hat, wer auf der Halbinsel lebt: „unsere“ oder „nicht unsere“.
Man kann darüber streiten, wie viele Krimbewohner gezwungen waren die Halbinsel zu verlassen und ins Mutterland auszureisen. Die Schätzungen gehen auseinander – der eine spricht von zwanzigtausend, der andere von hunderttausend. Doch in jedem Fall gibt es, im Vergleich zu den Flüchtlingen aus dem Donbass, im Mutterland weitaus weniger Krimbewohner: das Verhältnis beträgt ungefähr eins zu zwanzig.
Daran ist nichts überraschendes – aus Donezk und Lugansk sind die Menschen weggefahren, um sich vor dem Krieg zu retten. Doch die Halbinsel, auf der keine Kampfhandlungen geführt wurden, wurde in erster Linie nicht aus gewöhnlichen, sondern aus politischen Motiven verlassen. Viele von denen, die die neuen Flaggen nicht akzeptierten, blieben auf der Krim, beispielsweise aus familiären Gründen.
Doch in jedem Fall ist die Zahl der umgezogenen Krimbewohner nicht vergleichbar mit der Zahl der Verbliebenen. Und die Ukraine kann sich heute nicht darauf festlegen, wie sie sich zu denen bezieht, die weiter auf der Halbinsel leben bleiben.
Von der Sache her ist das der Stein des Anstoßes. Aus der Antwort auf diese Frage wird eine ganze logische Kette geboren. Wenn auf der annektierten Krim „nicht unsere“ leben, dann sind sie „selbst schuld“, „hätten nicht zum Referendum geben sollen“, „ihr wolltet Russland – jetzt habt ihr es“. Wenn auf der Krim „Fremde“ leben, dann braucht man nicht mit ihnen mitzufühlen. Es macht keinen Sinn zu versuchen sie zu reintegrieren und es gibt keinen Grund ihren Problemen Aufmerksamkeit zu schenken.
Wenn Sie sich selbst überprüfen wollen, denken Sie darüber nach, dass die Schulabsolventen der Krim Hilfe bei der Immatrikulation an ukrainischen Hochschulen brauchen. Oder darüber, dass die russische Lebensrealität hinter der ukrainischen in Komfortfragen zurücksteht. Wenn Sie irgendetwas höhnisches schreiben wollen, dann sind Sie durch den Test gefallen.
Durchgefallen, denn die Krim kann nur in dem Fall zurückgeholt werden, wenn Sie sie als die „ihre“ betrachten. Wenn die Einwohner der Halbinsel für Sie Geiseln der russischen Aggression sind.
Wenn es keinerlei „Rückkehr in den Heimathafen“ gab, sondern eine Annexion.
Wenn Sie begreifen, dass ohne den Einsatz russischer Truppen ein lokales „Fest des Ungehorsams“ auf der Halbinsel nicht einmal vorstellbar gewesen wäre.
Eben aufgrund dessen macht es keinen Sinn das „Referendum“ zu diskutieren. Keinen Sinn darüber zu mutmaßen, wie viele Leute an diesem teilnahmen. Einfach deswegen, weil Moskau es mit einem einzigen Ziel durchführte: die Illusion zu schaffen, dass eben die Krimbewohner die Architektoren der Operation des Flaggenwechsels waren. Dass eben sie die Entscheidung über ihre eigene Zukunft trafen. Und dass die Einwohner der Halbinsel im März die russischen Flaggen anstelle der ukrainischen wählten. Und wenn Sie das „Referendum“ diskutieren, dann spielen Sie, auch wenn Sie es nicht wünschen, nach den Regeln Moskaus.
Eben jener, die den Einwohnern der Krim keinerlei Wahl ließ, denn sogar auf den Wahlzetteln war nur vorgesehen zwischen der faktischen „Unabhängigkeit der Krim“ und ihrem Übergang in den Bestand der Russischen Föderation zu wählen.
Ja, auf der Krim gibt es hinreichend jene, die sich über die neue Staatsbürgerschaft der Halbinsel freuen, doch das ist kein Grund alle über einen Kamm zu scheren. Schon allein deswegen, weil auch im Mutterland, weit von der Frontlinie entfernt Ukrainer leben, die von der Rückkehr in die Sowjetunion träumen. Die Rede ist von denen, die heimlich wünschen, dass die Hauptstadt des Landes Moskau und nicht Kiew ist.
Dabei leben diese Menschen in völlig verschiedenen Oblasten des Landes, doch gibt uns das keinen Anlass dafür einzutreten, dass diese Regionen aus dem Staatsbestand gestrichen werden.
Die Krim wurde zum ersten Opfer der russischen Aggression nicht nur deswegen, weil sie die Hauptverkörperung des Phantomschmerzes von Russland war, sondern auch deswegen, weil ihre Eroberung auch logistisch bequem war. Denn dort war die russische Flotte stationiert. Denn die Region grenzte an russische Flugplätze.
Schlussendlich weil die Krim eine Halbinsel ist, die mit dem Mutterland durch eine schmale Landenge verbunden ist – die zu versperren und zu halten um einiges leichter ist, als beispielsweise die lange Landgrenze zwischen der Oblast Sumy und den benachbarten Regionen zu kontrollieren.
Die Ukraine versucht vom sowjetischen Narrativ loszukommen: benennt Straßen um und bringt Denkmäler in Lager. Doch das Prinzip der Kollektivschuld – genauso wie der verantwortungslosen Verallgemeinerung – ist eben von daher, aus der sowjetischen Vergangenheit, aus der das Land zu entfliehen versucht. Schlussendlich war in jedem sowjetischen Antrag ein Punkt über das Leben in den besetzten Gebieten. Die Sowjetunion ist friedlich entschlafen, doch die Gewohnheit zu meinen, dass das einzige richtige Modell des Verhaltens in der Okkupation der Partisanenkampf ist, nicht.
Und schenken Sie den prorussischen Aktivisten von der Halbinsel keine Aufmerksamkeit, die in den sozialen Netzwerken Sie von der Einhelligkeit der Krimbewohner zu überzeugen versuchen. Einfach deswegen, weil diese Leute ihr eigenes Weltbild zu bewahren versuchen, im Rahmen dessen es keine Annexion, sondern eine „freiwillige Wiedervereinigung“ gab. Die Stimmen der proukrainischen Krimbewohner sind heute einfach nicht hörbar, denn sogar die Anonymität des Accounts gibt keine Garantie dafür, dass am Morgen nicht die Ermittler des FSB an ihre Tür klopfen. Anstatt dessen ziehen sie es vor zu lesen und nicht zu schreiben, zu hören und nicht zu reden. Und jedes Mal, wenn Sie einen hämischen Kommentar anlässlich dessen schreiben, wer auf der Halbinsel lebt, dann verbrennen Sie eine weitere Hoffnung dieser Menschen darauf, dass die Heimat sich noch an sie erinnert.
Denn die Formel ist einfach. Es gibt fast zweieinhalb Millionen ukrainischer Staatsbürger, die auf der Krim gezwungen sind, unter russischer Flagge zu leben. Sie alle sind Geiseln der Annexion, die der Kreml vor zwei Jahren veranstaltete.
Jedes öffentliche Nichteinverständnis mit der Realität kann Strafverfahren nach sich ziehen, daher sind sie gezwungen Schweigen zu bewahren, damit das Gesagte nicht gegen sie verwendet wird. Unter ihnen sind Leute, die den Eid gebrochen haben und früher oder später erwartet sie ein Treffen mit der ukrainischen Gerichtsbarkeit. Doch die Krim auf Aksjonow oder Poklonskaja zu reduzieren ist gleichzusetzen, mit der Reduktion der Ukraine auf Ljaschko oder Wilkul.
Und wenn es schon so weit geht, dann können nur die einen Stein werfen, die sich ganz sicher sich, dass ihre Heimatregion unter den Bedingungen einer Okkupation geschlossen als Partisanen in den Wald gehen würde.
Das heißt niemand.
24. Juni 2016 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda