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Der Streit um Anteilnahme

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sowjetische Tu-154M, Bild: Timur Chanowsowjetische Tu-154M, Bild: Timur Chanow
Die Reaktionen auf den Absturz der russischen Tu-154 zeigen, wie sehr sich die Ukraine und Russland voneinander entfernt haben. Aber Moskau hat das nicht begriffen.

Der Krieg kennt keine Zwischentöne. Er stellt dich vor eine einzige prüfende Frage: Wessen Sieg und wessen Niederlage wünschst du dir? Wer da versucht, Kompromisse zu finden, stößt unweigerlich auf Dante Alighieri. Er versprach die heißesten Orte in der Hölle denjenigen, die in Zeiten moralischer Krisen versuchen, keine Partei zu ergreifen.

Das Problem ist, dass der hybride Krieg sich unterschiedlich im Bewusstsein von Russen und Ukrainern widerspiegelt. Für die Ukrainer ist er mit konkreten Gefühlen verbunden. Mit sechs Mobilisierungswellen. Mit Beerdigungen von Soldaten von der Front. Mit täglichen Leidensberichten in allen wichtigen nationalen Medien. Russen leben weiterhin in einer Welt, in der es keinen Krieg gibt. Sie können allen Ernstes nicht begreifen, warum ihr Nachbarland ihnen jegliche Anteilnahme verweigert.

Krieg und Frieden

In 23 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben wir uns daran gewöhnt, dass sich Russland und die Ukraine bis zur Ununterscheidbarkeit ähnlich sind. Identitäten sind verschwommen, Überzeugungen unter Vorbehalt. Eine totale Mimikry in allem und überall.

Für die Ukraine endete das alles vor drei Jahren in dem Moment, als Russland die Krim annektiert hat und in den Donbass einmarschiert ist. Kiew hatte keine andere Wahl. Der Atem des Krieges ist allgegenwärtig durch die täglichen Berichte von der Front und zwei Millionen Binnenvertriebener. Durch die Einberufungen von Soldaten und die Freiwilligenbewegung im ganzen Land. Er zeigt sich sogar in den regelmäßig aktualisierten Wegweisern zum nächsten Luftschutzbunker. Diese Pfeile erinnern alle daran, dass der Förderungsrat der Russischen Föderation Wladimir Putin erlaubt hat, die Armee im Ausland einzusetzen.

In Russland ist dieser Krieg hingegen virtuell geblieben. Über die im Donbass gefallenen Fallschirmjäger hat lediglich der Journalist Lew Schlossberg geschrieben. Es gab keinerlei offizielle Veranstaltungen, keinerlei öffentliche Rechenschaft. Bestenfalls war der Krieg im Fernsehen zu sehen, doch selbst dort wurde er als etwas dargestellt, mit dem Russland nichts zu tun hat. Den im Donbass Gefallenen werden keine Straßen zur Ehre benannt, für sie werden keine Denkmäler errichtet. Laut den offiziellen Dokumenten sterben die russischen Soldaten und Offiziere auf Truppenübungsplätzen und bei Manövern.

Die Operation in der Ukraine ist nicht im russischen Alltag angekommen, der Blick des gewöhnlichen Bürgers bleibt nicht an den Kreuzen auf den Gräbern hängen. Es ist, als existiere die Operation nicht. Und weil das so ist, kann sie auch keine Rolle in der innenpolitischen Debatte spielen. Sogar jetzt, nach all den Ereignissen der letzten Jahre, lebt Russland weiter in der Postmoderne und der Wortführer der Epoche bleibt Wiktor Pelewin (russischer zeitgenössischer Schriftsteller, A.d.R.). Im Krieg wäre Konstantin Simonow (sowjetischer Kriegsberichterstatter und Schriftsteller über den Zweiten Weltkrieg, A.d.R.) die viel näherliegende Wahl.

Briefe von der Grenze

Hinter diesen unterschiedlichen Selbstwahrnehmungen stecken die unterschiedlichen Reaktionen auf den Flugzeugabsturz. Russland empört sich, dass die Ukraine keine Anteilnahme für die Opfer des Absturzes der Tu-154 zeigt. Und die Ukraine kann aufrichtig nicht verstehen, warum ihre Reaktion auch nur ansatzweise mit den Erwartungen aus Moskau übereinstimmen sollte. Noch 2013 wären die Reaktionen in den sozialen Netzwerken auf beiden Seiten der Grenze wahrscheinlich fast unterschiedslos ausgefallen. Doch es wäre naiv, im Jahr 2016 mit einer solchen Einmütigkeit zu rechnen.

Und schon schreiben russische Liberale bestürzte Posts, in denen sie die Ukrainer zu Stille und Trauer aufrufen. Zu Anteilnahme und Mitgefühl. Diese Leute sind es gewöhnt, als „Gewissen der Nation“ aufzutreten, doch sie haben nicht beachtet, dass die Nationen auf beiden Seiten der Grenze bereits verschiedene sind. Die Legitimität ihrer belehrenden Worte endet dort, wo die Grenzpfähle beginnen.

Es kann sein, dass dieses Unverständnis unter anderem daran liegt, dass jedes Land sich über einen gemeinsamen Sprachraum definiert. Mit Sprache werden Sinn und Werte vermessen. Dort wo die vertraute Grammatik und Syntax nicht benutzt werden, beginnt das „Fremde“. Wenn Russland sich in den ukrainischen sozialen Netzwerken umschaut, findet es dort vertraute Wörter und fremde Bedeutungen. Diese Dissonanz löst einen Schock aus.

Die Ukraine hat diese Phase schon etwas früher durchgemacht. Als im russischen Fernsehen von „gekreuzigten Jungen“ berichtet und zur „Befreiung“ von Kiew aufgerufen wurde, musste sie sich von den alten Stereotypen losmachen. Als die russische Artillerie von der Region Rostow aus die ukrainische Armee beschossen hat. Als burjatische Panzersoldaten ukrainische Soldaten erschossen haben. Nach diesen letzten drei Jahren macht sich die Ukraine keine Illusionen mehr.

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Und wenn sich Russen darüber empören, dass Ukrainer ihnen keine Anteilnahme entgegenbringen, dann heißt das nur, dass sie nicht einmal ansatzweise begriffen haben, was sich während der letzten drei Jahre abgespielt hat.

Kompromiss

Der Unterschied zwischen russischen Liberalen und russischen Hardliner liegt mitunter nur in den Methoden. Die einen rufen dazu auf, die Ukraine mit Panzern zu erobern, während die anderen auf die Wirtschaft setzen. Doch beide Gruppen nehmen ihr Nachbarland als etwas wahr, das sie verstehen und gut kennen, als etwas so Nahes, dass es in die Kategorie „Unser“ fällt. Von diesem „Unseren“ werden gewohnte Reaktionen erwartet. Schließlich ist es nicht lange her, dass die Ukrainer noch Blumen vor russischen Botschaften und Konsulaten niedergelegt haben, ihr Beileid ausgedrückt und Besserungswünsche verschickt haben.

Doch jetzt stellt sich heraus, dass das Gerede von „Junta“ oder „Banderowzy“ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden ist. Und so sehen wir, dass die Wörter „Ukrainer“ und „Chochly“ (herablassende russische Bezeichnung für Ukrainer, A.d.Ü.) allmählich von „Ukry“ (russische Bezeichnung für ukrainische Militärs, A.d.Ü.) abgelöst werden.

Vielleicht ist das eine weitere Folge des Krieges. Auf der anderen Seite der russisch-ukrainischen Grenze wird es nun immer weniger heißen, dass die Ukrainer „doch die Gleichen sind wie wir, nur etwas anders aussehen“. Nein, jetzt sind sie schon nicht mehr gleich. Jetzt sind sie fremd, feindselig und unverständlich. Und dazu noch unfähig zu Mitgefühl und Anteilnahme.

Ein Land im Frieden liest das Neue Testament; ein Land im Krieg liest das Alte.

27.12.2016 // Pawel Kasarin

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Ãœbersetzer:   Oliver Ditthardt — Wörter: 977

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