Der Verwesungsgeruch der ukrainischen Politik


Das Schweigen ist die Zuflucht der Enttäuschten und Überzeugten. Diese Worte schrieb Galileo Galilei nach seinem Prozess im Jahre 1633, als er gezwungen wurde, seine wissenschaftliche Arbeit für falsch zu erklären. Er wollte nicht hingerichtet werden, deswegen schwieg er nach 1633. Er sagte auch nie mehr seinen berühmten Satz: „Und sie dreht sich doch!“.

Unsere Zukunft ist gegenwärtig geworden. Nach nur 20 Jahren haben wir es gelernt, zu sprechen. Die Taubstummen haben angefangen zu stottern. Wir haben gelernt, das Internet zu verwenden, der Alptraum aller gegenwärtiger Despoten und Tyrannen. Und wir werden immer unzufriedener mit unserem Land. Wir sind unzufrieden damit, wie wir leben. Obwohl wir eigentlich ganz passabel leben. Wir leben viel besser, als wir arbeiten. Aber wir sind immer unzufrieden. Unzufrieden mit dem Bürgermeister, dem Parlament und mit dem Präsidenten. Obwohl wir diese wählen. Oder auch nicht wählen, indem wir unsere Freizeit mit Bier, Fußball, Fernsehen und Nachbarn verbringen.

Mit uns selbst sind wir aber immer zufrieden. Nur mit uns selbst. Es gibt aber Missverständnisse, die notwendig und unvermeidbar sind. Wir wissen das und wir halten die frechen Kerle, die wir ins Parlament wählen, für ein Missverständnis. Das ist kein Fehler (weil wir ja keine Fehler machen), sondern ein Missverständnis. Warum passiert so etwas? Weil wir vor ihnen, diesen Kerlen, Angst haben. Aber was noch schlimmer ist, wir beneiden sie. Wir selbst wären gerne so harte, freche und sehr reiche Kerle. Wir hassen sie sehr, aber wir urteilen nie über das System, das sie aufgebaut haben. Wir haben nur einen Wunsch: In die höheren und satteren Stockwerke dieses Systems umzuziehen.

Ich bin ein ehemaliger sowjetischer Strafgefangener und habe es gelernt, zu warten. Ich habe es gelernt auszuhalten. Stunden- und tagelang bin ich in meiner Zelle hin und her gegangen, fünf Schritte von einer Wand zur anderen, nachdenkend, mich erinnernd an die geliebten Kiewer Straßen, die damals so weit von mir entfernt waren. Ich kann auch heute warten. Vieles hat sich in meinem Land verändert, es ist besser und freier geworden. Doch der Geruch des Gefängnisses und der totalen Unfreiheit wurde abgelöst durch einen anderen, penetranten und widerlichen Geruch von Eiter, der aus einem kranken Leib dringt. So riechen unsere provinziellen Politiker, die unverfroren lügen und ebenso unverfroren stehlen. So riecht ihr süßes Lächeln auf dem Fernsehbildschirm und auf Plakaten, ihre dreistöckigen Hütten hinter meterhohen Zäunen, ihre teuren Autos und ihre nicht sehr günstigen Leibwächter. Das ist leider der Geruch meines Landes. Und ich als ehemaliger sowjetischer Strafgefangener, der sieben Jahre lang ohne weiteres Suppen und Brei mit toten Würmern gegessen hat, kann diesen Verwesungsgeruch nicht an mir vorbeiziehen lassen. Der Geruch meiner Verwesung, der Verwesung und des Eiters meines Landes.

Irgendwann ganz am Anfang der ukrainischen Unabhängigkeit dachte ich, dass die Gefahr des Fundamentalismus Wirklichkeit werden könnte. Leider waren einige meiner Kameraden im Straflager, die es ins Parlament geschafft haben, von diesem Virus befallen. Zum Glück konnte das kluge und ruhige ukrainische Volk eine Infektion vermeiden. Es gab auch andere Gefahren, die genauso ernst waren – der Versuch einer Lustration nur als Beispiel. Heute weiß ich: Die sich in unsere Körper gefressene Sklaverei dringt aus uns mit diesem widerlichen Geruch. Auf diese Weise befreien wir und von der totalitären Befleckung. Ich sehe dies als Arzt, dass es eine sofortige Heilung von solch tiefgehenden Krankheiten nicht geben kann. Man muss warten.

Für mich ist es aber immer schwieriger, zu warten. Es ist schwer, täglich diese Miasmen von Worten, Gesichtern, Gesten, Häusern und Autos einzuatmen. Mit zunehmendem Alter ist mein Geruchssinn empfindlicher geworden.

24. Juli 2012 // Semjon Glusman, Arzt, Mitglied des Staatlichen Ukrainischen Kollegiums für Medizinische Versorgung von Strafgefangenen

Quelle: Lb.ua

Übersetzerin:   Katharina Jaroschak  — Wörter: 602

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