Warum die Reformen unter Poroschenko stocken
Der ukrainische Präsident bleibt dem Oligarchensystem, aus dem er stammt, verhaftet und ist offenbar eigenständig nicht in der Lage, alte klientelistische Praktiken aufzugeben.
In den vergangenen Monaten gibt es in der ukrainischen Presse und den westlichen Fachmedien immer mehr Kritik an der Verlangsamung des ukrainischen Transformationsprozesses und teilweisen Verwässerung bereits begonnener Reformen. Dies ist Resultat der merklich gestiegenen Aktivität verschiedener Beharrungskräfte in allen drei Zweigen staatlicher Macht – der Exekutive, Legislative und Judikative. Es bleibt immer noch die Hoffnung auf den Präsidenten als eine Figur, die in der Lage wäre, die relativ hohe Reformdynamik der ersten beiden Post-Maidan-Jahre 2014-2015 zu erneuern. Insbesondere geht es heute um die Durchsetzung wirksamer Gesetze, Institutionen und Maßnahmen gegen Bestechung, Nepotismus und Oligarchie – also gegen jene Hauptprobleme des ukrainischen Staates, die bislang ungelöst geblieben sind.
Poroschenkos Vergangenheit und heutige Befangenheit
Trotz der Tatsache, dass sich der derzeitige ukrainische Präsident in einigen Bereichen – so etwa in der Außen-, Handels- oder Militärpolitik – als effektiver Staatsmann bewährt hat, scheint es unwahrscheinlich, dass Petro Poroschenko den nun auf Platz 1 der innenpolitischen Tagesordnung stehenden Kampf gegen Korruption anführen wird. Diese Wahl hätte er schon vor drei Jahren treffen können. Viele (mich selbst eingeschlossen) hatten im Jahr 2014 die Hoffnung, dass der neugewählte ukrainische Präsident diesem Weg folgen würde und nicht die Fehler seines Vorgängers und einstigen politischen Ziehvaters Wiktor Juschtschenko wiederholt. Doch angesichts Poroschenkos ambivalenter Biografie vor der Revolution der Würde und einiger Besonderheiten seiner Nominierung für das Präsidentenamt im Frühjahr 2014, waren die Chancen einer solchen Entwicklung immer gering. Vielmehr war und ist Poroschenko immer noch ein Vertreter der ukrainischen Oligarchenklasse, mit ihren spezifischen politischen Verhaltensweisen, versteckten interfraktionellen Absprachen und schädlichen Manipulationen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.
Obwohl er ein weniger dubioser und gieriger Magnat als etwa Rinat Achmetow oder Dymtro Firtasch ist, seine noch reicheren und skrupelloseren Kooligarchen, bleibt Poroschenko bislang Fleisch vom Fleische postsowjetischer patronaler bzw. neopatrimonialer Politik. In Systemen dieses Typs betrachten Volksvertreter und Regierungsbeamte die Ressourcen, Güter, Instrumente und Einkommen des Staates als ihren disponiblen Quasi-Privatbesitz. Sie begünstigen mittels ihrer Ämter sich selbst, Verwandte, Freunde und anderen Klienten. Poroschenko war einer der Mitgründer von Janukowytschs berüchtigter hyperpatronalistischer Partei der Regionen, die enge Beziehungen zur europäischen Sozialdemokratie unterhielt und nach der Revolution der Würde 2014 aufgelöst wurde. Während der heftigen politischen Bataille zwischen den verschiedenen pro-westlichen Kräften der Ukraine nach der Orangen Revolution von 2004, war Poroschenko für eine Weile Präsident Juschtschenkos Mann fürs Grobe bei dessen Versuchen, Julia Tymoschenko vom Premierministeramt fernzuhalten bzw. zu entfernen. Poroschenko diente als Minister sowohl unter Juschtschenko als auch unter Janukowytsch – und war gleichzeitig Geschäftsmann u.a. in der Lebensmittelindustrie und Medienwirtschaft.
Poroschenkos Kandidatur für das Präsidentenamt der Ukraine nach dem Sieg des Euromajdans war anscheinend Ergebnis einer Absprache mit Witalij Klytschko kurz nach Ende des Aufstandes. Letzterer war zumindest damals ein Politiker, der außerhalb des Klientelsystems und der informellen Tausch- sowie anderen Beziehungsmechanismen stand, die den ukrainischen Patronalismus charakterisieren. Laut Meinungsumfragen war der ehemalige Boxchampion Anfang 2014 der bei Weitem populärste ukrainische Präsidentschaftskandidat. Aus ungeklärten Gründen erklärte sich Klytschko jedoch während eines zweifelhaften Treffens mit Poroschenko und Dmytro Firtasch in Wien im März 2014 bereit, nur für den Posten des Oberbürgermeisters von Kyjiw (so die ukrainische Aussprache des russischen Wortes „Kiew“) zu kandidieren. Er räumte damit den Weg für Poroschenko frei, der als Hauptkandidat der prowestlichen ukrainischen Kräfte für das Präsidentenamt kandidierte. In nur zwei Monaten schafften es die Wahlkampfmanager von Poroschenko, ihm bereits im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen vom Mai 2014 einen Sieg mit absoluter Mehrheit zu sichern.
Wie das ukrainische Wahlrecht Patronalismus fördert
Wahrscheinlich hat Poroschenko den entscheidenden Schritt zur Bestimmung der Natur seiner sich daran anschließenden fünfjährigen Präsidentschaft bereits unmittelbar nach seinem Wahltriumph gemacht. Er war zwar bei dem Vorhaben erfolgreich, schnell vorgezogene Parlamentswahlen im Oktober 2014 durchzusetzen und erfüllte damit eine wichtige Forderung der Revolution. Jedoch änderte Poroschenko nicht die ukrainische Wahlgesetzgebung. Daher galt weiterhin das bisherig gemischte System der Parlamentswahlen, wonach die Hälfte der Abgeordneten nach Verhältniswahlrecht über geschlossene Parteilisten und die andere Hälfte nach Mehrheitswahlrecht vor Ort direkt gewählt wird.
Beide Mechanismen hatte sich zuvor als nützlich für die Erhaltung der alten ukrainischen Klanstrukturen und Patronatsbeziehungen erwiesen. Das geschlossene Listensystem ermöglicht es Parteien, künftige Mandate ihrer Parlamentsfraktionen an den Höchstbietenden zu verkaufen. Bei den Direktwahlen wiederum fehlen insbesondere in provinziellen Wahlkreisen außerhalb von Kyjiw und einigen anderen großen Städten wirksame zivilgesellschaftliche Organisationen, Massenmedien, unabhängige Beobachter, eigenständige Unternehmer sowie juristische Expertise. Die homogene gesellschaftliche Landschaft, Machtkonzentration, politische Kontrolle lokaler Fernsehstationen bzw. Zeitungen durch die regionalen Amtsinhaber und die halbanarchische Situation in vielen Provinzen der Ukraine erlauben es finanzkräftigen Lokalmatadoren sowie zentralen Behörden (bzw. deren Schützlingen), Wahlkämpfe und Prozesse zu manipulieren. Das macht es häufig – jedoch nicht immer – schwierig, in den abgelegeneren Regionen einen wirklich fairen, pluralistischen und aussagekräftigen politischen Wettbewerb abzuhalten.
Bisher wurde das von der Zivilgesellschaft ununterbrochen geforderte neue Wahlgesetz mit offenen Parteilisten bei ausschließlichem Verhältniswahlrecht immer noch nicht verabschiedet. Es kann sogar passieren, dass das bereits ausgearbeitete neue Gesetz bis zu den nächsten regulären Parlamentswahlen im Jahr 2019 nicht verabschiedet wird. Darüber hinaus gibt es seit Anfang 2016 einen zunehmend konzertierten Gegenangriff des alten Systems, dessen Ziel es ganz offensichtlich ist, die Arbeit jener ukrainischen Beamten, Aktivisten und Organisationen, die Korruption bekämpfen, zu erschweren, zu kontrollieren und/oder zu verleumden.
Das Imperium schlägt zurück
So wurde beispielsweise Serhij Leschtschenko, einer der berühmtesten ukrainischen Journalisten und Abgeordneten, der in der Vergangenheit diverse politische Bestechungsversuche und Geheimvereinbarungen enthüllte, im Jahr 2016 Ziel einer großangelegten Rufmordkampagne. Die Unabhängigkeit, Reputation und Autorität von Leschtschenko wurde in einer Reihe wahrscheinlich bezahlter Artikel infrage gestellt, nachdem er und seine Freundin (eine erfolgreiche ukrainische DJane) eine Wohnung im Zentrum von Kyjiw gekauft hatten. Neben etlichen anderen weiteren Aktionen zur Abwehr von Antikorruptionsmaßnahmen stachen auch Versuche von regierungsnahen Fraktionen der Werchowna Rada hervor, das Verfahren und die Ergebnisse der Ernennung des Leiters des Aufsichtsrats des wichtigsten neuen staatlichen Anti-Bestechungsorgans – des Nationalen Antikorruptionsbüros – zu beeinflussen.
Besonders beunruhigend ist, dass im April 2017 die Werchowna Rada eine zweifelhafte Änderung des ukrainischen Gesetzes über die elektronische Einkommenserklärung für ukrainische Staatsbedienstete verabschiedete. Nach der Gesetzesnovellierung sollen nun nicht nur ukrainische Minister, Abgeordnete und Bürokraten Informationen über ihre privaten Finanzen veröffentlichen. Das gleiche soll nunmehr auch ein unbestimmter Kreis von ukrainischen Aktivisten tun, die in zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Korruptionsbekämpfung arbeiten. Die ungewöhnliche Regel beruht offenbar auf einer Präsumtion möglicher Schuld von Anti-Korruptions-Aktivisten vor dem Gesetz und unterscheidet diese Bürgerrechtler von allen anderen NROlern, die bislang nicht verpflichtet sind, Informationen über ihre Einkommen, Eigentümer und Ersparnisse zu veröffentlichen. Das neue Gesetz zwingt eine bestimmte Kategorie von ukrainischen Zivilgesellschaftern, die ohnehin bereits unter enormem Gegendruck seitens ihrer Forschungsobjekte arbeiten, ihre persönliche finanzielle Situation zu offenbaren – und das, auch wenn sie über keine ukrainischen Haushaltsmittel verfügen, d.h. keine Steuergelder in Anspruch nehmen.
Dieses neue Gesetz schafft nicht nur praktische Hindernisse für die Arbeit der relevanten Watch-Dog-Organisationen. Er hinterlässt auch den ungesunden Eindruck, dass Anti-Korruptions-Aktivisten in besonderem Maße von der Regierung kontrolliert werden müssen. Dieser Ansatz stellt die Interaktion zwischen der Zivilgesellschaft und staatlichen Behörden in einem demokratischen Staat auf den Kopf.
Freilich ist es möglich und passiert es bereits, dass vermeintliche Anti-Bestechungs-Kampagnen zynisch zur Anschwärzung politischer und geschäftlicher Gegner benutzt werden. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie clevere Oligarchen und „politische Technologen“ pseudozivilgesellschaftliche Organisationen benutzen, um Wirtschaftskonkurrenten oder Parteirivalen im Wahlkampf unter dem Vorwand der „Korruptionsbekämpfung“ anzugreifen. Und natürlich muss solcher Missbrauch, so gut es geht, verhindert werden. Aber die Regierung kann mit dieser Begründung keine finanzielle Kontrolle aller Anti-Korruptions-Initiativen ausüben, nur um möglichen Manipulationen zur Erreichung zweckferner privater oder politischer Ziele vorzubeugen. Der Staat kann sich nicht ohne Weiteres in die Aktivitäten aller Anti-Korruptions-Organisationen einmischen, unabhängig vom Vorhandensein von Anzeichen von Fehlverhalten oder nicht.
Die offensichtliche korruptionsschützende Ausrichtung des adaptierten Gesetzes und heftige westliche Kritik an der bizarren Novelle zwang Poroschenko, einen weiteren Änderungsantrag im Parlament vorzulegen, der diese zweifelhafte Regel abschafft. Doch die Werchowna Rada weigerte sich, diese Änderungen während ihrer letzten Sitzungswoche vor den Ferien im Juli 2017 auf die Tagesordnung zu setzen. Es ist bislang noch nicht klar, ob und wann das Gesetz nach dem Beginn der neuen parlamentarischen Sitzungsperiode im September angepasst wird.
Insoweit die revolutionäre Begeisterung des Euromajdan in letzter Zeit verblasst, versucht das patronalistische ukrainische Regime zunehmend alte Positionen zurückzuerobern. Zumindest machen die erwähnten und ähnliche jüngere Ereignisse diesen Eindruck. Offenbar spüren die ukrainischen Patrone und ihre Klienten zunehmend die Hitze der zahlreichen Reformen, die seit 2014 in verschiedenen Bereichen eingeleitet wurden. Sie fühlen sich immer mehr bedrängt von der an Fahrt gewinnenden Kampagne und den neuen Gesetzen gegen politische Käuflichkeit, informelle Absprachen, politischen Nepotismus, halbgeheime Beziehungsgeflechte und schlichte Bestechung. Insofern kann die immer unverhohlenere Gegenwehr der Vertreter des alten Systems sogar als ein positiver Indikator betrachtet werden. Die manifesten Abwehrreaktionen weisen auf die wachsende oder zumindest potenzielle Wirksamkeit der neuen Antikorruptionsregeln, -stimmung und -institutionen hin.
Westliche Aufmerksamkeit, Interessen und Signale
In diesem eskalierenden Konflikt sollten sich westliche Entwicklungshilfeorganisationen und Botschaften noch stärker als zuvor vergewissern, dass sie auf der richtigen Seite der Barrikade landen. Die gegenwärtigen politischen Spannungen in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union sind einer fokussierten und differenzierten Entscheidungsfindung in Bezug auf deren Ukrainepolitik abträglich. Insbesondere Washington und Brüssel werden derzeit vor zahlreichen konkurrierenden internen und externen Problemen beherrscht – etwa den Kontakten von Trumps Wahlkampfteam nach Russland, Brexit, dem Krieg in Syrien, dem Atomprogramm Nordkoreas oder den nationalistischen Wallungen in Ungarn und Polen, um nur einige Herausforderungen zu nennen. Diese Themen lenken die Aufmerksamkeit der westlichen Regierungen, Organisationen und Öffentlichkeit von den obigen Feinheiten ukrainischer Politik im Besonderen und der generellen Komplexität postsowjetischer Patronatsregime im Allgemeinen ab.
Die Ukraine ist jedoch zu wichtig für die Zukunft Europas. Wenn das größte vollständig europäische Flächenland die heutige Chance für eine tiefe Umwandlung in einen wirklichen Rechtsstaat verpasst, wird dies geopolitische Konsequenzen über Osteuropa hinaus haben. Die derzeitigen Tendenzen einer Erhaltung bzw. Neuerstehung des ukrainischen Patronalismus hat der ukrainische Historiker Jarowslaw Hryzak vor Kurzem als „süße Konterrevolution“ bezeichnet – und damit auf Poroschenkos Schokoladenfirma „Roschen“ angespielt. Die kampfbereite ukrainische Zivilgesellschaft und vorhandenen reformwilligen Parlamentsabgeordneten sowie Regierungsbeamten werden in den kommenden Monaten eine neue Konfrontation mit den Überbleibseln des alten Patronatssystems auszutragen haben und brauchen westliche Hilfe, um die Transformation ihres Landes zum Abschluss zu bringen.
Besondere Aufmerksamkeit des Westens in diesen Angelegenheiten sollte dem Präsidenten der Ukraine gelten. Poroschenkos Verhalten, seine öffentliche Rhetorik und sein politischer Kurs bestimmen in vielerlei Hinsicht, in welche Richtung sich das Land bewegen wird. Obwohl er ein archetypischer Oligarch bleibt, ist Poroschenko ein flexibler und kluger Politiker, der imstande ist, seine politischen Chancen besser zu bewerten, als sein eher primitiver und allzu krimineller Vorgänger Janukowytsch. Poroschenko und seinen Kumpanen muss deutlich gemacht werden, dass der Krieg im Donezbecken und die allgemeine Konfrontation mit Russland nicht als Entschuldigung für die teilweise Erhaltung des postsowjetischen Patronatssystems der Ukraine dienen kann. Westliche Diplomaten, Politiker und Geldgeber sollten kein Geheimnis daraus machen, dass sie die jüngsten Aberrationen der ukrainischen Führung als unhaltbar, ja als strafbar betrachten. Es sollte den ukrainischen Amtsträgern und Oligarchen klargemacht werden, dass diejenigen, die für verschiedene alte oder neue Regelverletzungen verantwortlich sind, letztlich in der einen oder anderen Weise dafür Rechenschaft ablegen müssen – wenn, aufgrund des fortlaufenden Krieges, nicht heute, dann später.
Und last, but not least: Die nationalen Regierungen und internationalen Organisationen des Westens müssen Ordnung in ihren Heimatländern schaffen. Wir müssen endlich eine ernsthaftere Haltung gegenüber jenen westlichen Banken, Firmen, Assoziationen, Parteien sowie anderen privaten und politischen Akteuren einnehmen, die korrupten postsowjetischen Eliten dabei unterstützen, ihre nicht- oder halblegalen und häufig riesigen Einkommen zu bewahren, auszuführen, zu verbergen, zu waschen oder/und anzulegen. Patronalismus, Klientelismus, Clan-Netzwerke und Hinterzimmerdeals sind Phänomene, die auch in westlichen Ländern bekannt sind. Europäische und amerikanische Regierungen, Entwicklungshelfer und NGOs können nicht von der Ukraine und ähnlichen Ländern lautstark einen entschlosseneren Kampf gegen Korruption verlangen und dabei jene westliche Institutionen, Gruppen und Personen mit Samthandschuhen behandeln, die auf die eine oder andere Weise in fragwürdige Geschäfte und anderweitige Beziehungen mit mutmaßlichen Großkriminellen aus dem postsowjetischen Raum involviert sind.
Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen: Ilona Stoyenko