Was stört den Aufbau eines Silicon Valley in der Ukraine?
Ukrainische Start-ups sind schon lange weltweit erfolgreich, aber das einheimische Wirtschaftsklima bremst die Entwicklung der Branche. Die Ekonomitscheskaja Prawda klärte, was in dem innovativsten Sektor des Landes vor sich geht.
Ukrainische Start-ups haben für das Image der Ukraine mehr getan als hunderte Politiker. Die Produkte talentierter Ukrainer nutzen die Bewohner der ganzen Welt, und die jungen Unternehmer können die neuen Leader des Landes werden.
Einzig das unvorhersehbare Verhalten der Regierung, die niedrige Inlandsnachfrage nach Innovationen und das nie da gewesene Niveau des Populismus stören die Entwicklung des Start-up-Ökosystems und Verhindern die Verwandlung der Ukraine in ein osteuropäisches Silicon Valley.
Ein Reporter der Ekonomitscheskaja Prawda klärte, was in der innovativsten Branche des Landes vor sich geht.
Niedrige Inlandsnachfrage nach Innovation
Erfolgreiche ukrainische Start-ups, die sich auf den Inlandsmarkt orientieren, kann man an zwei Händen abzählen. Die meisten von ihnen arbeiten im Segment des elektronischen Handelns: Zakaz.ua, „Kabantschik“, Crafta.
„Die Keime der Innovation sind unter den Bedingungen der ständigen ökonomischen, politischen und militärischen Krise umgekommen. Außer e-commerce entwickeln sich keine innovativen inländischen Produkte.“ Meint der geschäftsführende Partner der Growth UP Group Denis Dowgopolyj.
Das niedrige BIP, nach dem sich die Ukraine auf dem 121. Platz in der Welt, zwischen Bhutan und Guatemala, befindet, zieht eine niedrige Inlandsnachfrage nach sich. In der Folge testen die Start-ups ihre Geschäftsmodelle in der Ukraine und gehen dann auf die westlichen Märkte, im Land im besten Fall ihre Entwicklungs-Büros belassend.
Genau so ging der Gründer des Suchdienstes für Nachhilfelehrer Preply Kirill Bigaj vor.
Die ersten Verkäufe machte das Start-up in Kiew, doch heute bringen die Schüler und Nachhilfelehrer aus der Ukraine Preply nur 13 Prozent der Einnahmen und der Großteil der Nutzer befindet sich in den USA und Europa.
Unter diesem Kommando arbeitet Preply von einem Kiewer Büro aus. Bigaj erklärt dies mit den niedrigen Preisen und dem guten Lebensstandard in der Hauptstadt.
„Das Ausmaß und die Ressourcenorientierung der Wirtschaft bieten nicht die Möglichkeit, die Inlandsnachfrage nach Innovation zu stimulieren“, meint Dowgopolyj. Einen Ausweg aus der Situation sehen die Gesprächspartner der Ekonomitscheskaja Prawda in der Ausmerzung von Korruption und Bürokratie im Land.
„Die Ukraine verwandelt sich schnell in einen technologischen Hub, sobald sie in die europäische „Führungs-Troika“ im Ranking Leichtigkeit der Geschäftsführung gelangt“, ist sich der leitende Partner des Fonds AVentures Capital Andrej Kolodjuk sicher.
Fehlende Unternehmer-Ikonen
In der Ukraine gibt es eine Fülle an talentierten Menschen, Gründer von IT- Unternehmen, die zehn oder sogar hundert Millionen Dollar kosten, die Anspruch auf das Image eines neuen ukrainischen Traums erheben könnten.
Unter ihnen sind Wladimir Mnogoletnij aus der Mediaholding Genesis mit 100 Millionen Zuhörern auf der ganzen Welt, Aleksej Schewtschenko und Maksim Litwin, die Gründer des weltbesten Services zur Überprüfung englischer Grammatik Grammarly, Dmitrij Sergejew, Herausgeber der populären Fotobank DepositPhotos und der Odessaer Aleksandr Bornjakow, Eigentümer des Video-Reklame-Netzes Verta-Media.
Alle diese Leute sind in IT-Kreisen weithin bekannt. Ihre Geschichten können Millionen Mitbürger zur Geschäftsgründung inspirieren, vor allem in den Massenmedien und der Facebook-Gemeinde, in der lieber das Interview mit Iwan Dorn (ukrainischer Pop-Star, der den Konflikt mit Russland als Bruderzwist bezeichnete, A.d.R.) diskutiert wird, und bei den künftigen Teilnehmern des „Eurovision Song Contest“.
„Die Verfolgung derer, die nicht arbeiten wollen wie alle anderen (sie sind ja Spekulanten und Schwarzhändler), und sogar die Bildung verzerrter sozialer Ziele wie „eine gute Arbeit finden“ oder „erfolgreich heiraten“, zerrütteten das Fundament der Zukunft des Unternehmer-Ökosystems“, sagt der geschäftsführende Partner der Chernovetskyi Investment Group, Andrej Kriwortschuk.
„Ungeachtet der Erfolge einiger Start-ups gibt es in der Ukraine immer noch wenig Unternehmer – woher sollen sie auch kommen? Die Kultur der Geschäftsführung wurde in der Sowjetzeit vernichtet und jetzt schlagen sich Geschäftsleute selbst einen Weg ohne irgendeine Unterstützung vonseiten des Staates“, stimmt der CEO des Investmentunternehmens Digital Future Aleksej Witschenko zu.
Unberechenbare Regierung
Durchsuchungen von IT-Unternehmen durch die Staatsorgane sind schon legendär, aber selbst nach dem Regierungswechsel hat sich die Situation nicht sonderlich gewandelt.
Die Beschlagnahmung von Servern eines der größten Kiewer Provider „Lanet“, das Heraustragen der Anlagen bei „Intertelekom“, die Masken-Show im Unternehmen YouControl, die mit offenen Daten arbeiten, sind einige der größeren Vorkommnisse des letzten halben Jahres. Manchmal werden die Dinge geradezu absurd: im März durchsuchte die Steuerfahndung ein Luzker IT-Unternehmen, weil sie Buchstaben im Firmennamen verwechselte.
Die beschriebene Situation, aber auch der Krieg und die politische Instabilität erhöhen das Risiko im Land. Westliche Investoren bevorzugen Beziehungen zu ukrainischen Start-ups in den Fällen, in denen das Unternehmen juristisch in Europa oder den USA gemeldet ist und dort auch seinen Stammsitz hat.
Nach Meinung Dowgopolyjs hat all dies das Wirtschaftsmodell der Investition in technologische Projekte endgültig aus dem Gleichgewicht gebracht. Daraus resultiert das nächste Problem.
Enger Kreis: zu wenige Investoren und Start-ups
Nach Dowgopolyjs Zählung existieren in der Ukraine 17 Joint Venture Fonds und Business Angels, die zwischen 200.000 und 1 Million Dollar investieren können.
„Unsere Erfahrung aus Europa und Silicon Valley zeigt, dass für eine Investition in den USA 100-200 Projekte angeschaut werden müssen, Treffen mit 20-30 Unternehmen stattfinden und in fünf bis sechs Unternehmen Audits durchgeführt werden müssen. In der Ukraine werden jährlich etwa 1.000 Start-ups gegründet, von denen sich für eine Investition von 200.000 bis 1 Million Dollar nur 20 bis 40 im Jahr bewerben. Für 17 Fonds ist das sehr wenig“, rechnet Denis vor.
Nach Angaben der geschäftsführenden Direktorin der Ukrainischen Assoziation der Venture- und Privatkapitalgeber (UVCA) Olga Afanasjewa sind in der Ukraini etwa dreitausend Start-ups in verschiedenen Stadien aktiv.
Einen Ausweg aus der Situation sieht Dowgopolyj in der Integration in die globale Infrastruktur. „Am Wahrscheinlichsten treffen wir auf Konkurrenz des Kapitals und um Kapital, aber das treibt die Branche nur an“, sagt der Unternehmer.
Nicht bei allen reicht die Geduld, um auf bessere Zeiten zu warten. Nach verschiedenen Bewertungen verließen 2016 fünf- bis neuntausend IT-Spezialisten die Ukraine.
„Wenn man den Beitrag dieser Leute zum Bruttosozialprodukt der blühenden Weltwirtschaft berücksichtigt, so kann man konstatieren, dass die Ukraine mit den IT-Spezialisten Milliarden Dollar entgangene Einkünfte im Jahr verliert“, sagt Kriwortschuk.
Populismus als Mittel des Selbstschutzes
Viele der von von der Ekonomitscheskaja Prawda befragten Investoren beklagen ein hohes Maß an Populismus in den Aussagen der „Marktexperten“.
Kriwortschuk hat in fünf Jahren ein gutes Dutzend Ökosysteme besucht, inklusive des Silicon Valley, Israel, Indien, China, Thailand, Vietnam, der Türkei und Singapur. „Aus diesen Reisen habe ich eine schmerzhafte Erkenntnis gezogen: ich habe das Ausmaß des Unsinns erkannt, unter dessen Bedingungen die ukrainische IT-Welt funktioniert“, merkt er an.
„Mancher gibt sich als hoch bezahlter Experte aus, den man eingeladen hat, die Ukraine aufzuwerten. Dabei ist er nur in die Ukraine gekommen, weil sie das letzte Land ist, aus dem man ihn noch nicht gejagt hat. Ein anderer handelt aktiv mit Personen und fördert Initiativen, vergisst aber, das abzuschließen, was er sich vorgenommen hat. Wieder ein anderer verspricht ein hervorragender Mentor für das Unternehmen zu werden, verschwindet aber an dem Tag, an dem er seinen Anteil bekommt“, schreibt Kriwortschuk, ohne Namen zu nennen.
Ungeachtet aller Schwierigkeiten gibt es auch positive Momente. „Ukrainische Start-ups nehmen nicht nur teil, sondern gewinnen auch Wettbewerbe von Weltrang in den USA. Über die Ukraine spricht man in der Welt häufig nur im Zusammenhang mit dem Krieg und der Wirtschaftskrise, aber wir lösen diese Stereotype auf“, resümiert Kolodjuk.
19.April 2017 // Timur Worona
Quelle: Ekonomitscheskaja Prawda