Wenn das kein Machtmissbrauch ist, was dann?
Der ukrainische Premierminister hat zu verstehen gegeben, dass er besser als das Parlament und die Gesellschaft weiß, welche Gesetze einzuhalten und welche zu ignorieren sind. Weshalb maßt er sich das Recht an, solche Entscheidungen zu treffen?
Wenn die Regierung schon beschlossen hat, an den Rentnern zu sparen, so sollte sie das Gleiche doch wenigstens nicht auch an den Redenschreibern tun. Schließlich ist es nützlicher für Einen selbst und weniger beschämend für das Land, wenn man in ausgesuchten Gemeinplätzen spricht und das Herz nicht auf der Zunge trägt. Denn aus dem Herzen strömen den Regierenden erstaunlich entsetzliche Dinge.
So hat Premierminister Nikolaj Asarow unlängst eine hochinteressante Erklärung zu den erfolgreichen Klagen der „Tschernobylliquidatoren“ abgegeben, denen der Staat Renten in größerem Umfang auszahlen soll: „Ein beträchtlicher Teil der uns durch die Gerichtentscheidung auferlegten Verpflichtungen ist noch nicht erfüllt worden. Und offen gesagt verfügt der Staat auch nicht über ausreichend Ressourcen, um diesen nachzukommen.“
Dann setzte Asarow noch einen drauf und fügte hinzu: „Den politischen Provokateuren wie auch den ‚Tschernobylliquidatoren’ selbst ist absolut klar, dass der Staat keine Möglichkeit hat, all die Gesetze einzuhalten, die ausschließlich aus populistischen Erwägungen verabschiedet wurden und niemals eingehalten worden sind.“
Verstand er überhaupt, was er das sagte?
Ja, er wollte sagen, dass die Volksvertreter in einer abscheulichen Jagd nach Wählerstimmen eine Menge vollkommen unangemessener Rechtsnormen erlassen haben. Er meinte, dass unser Staat zwar sozial ist, aber kein Paradies auf Erden, und die „Tschernobylveteranen“ deshalb verstehen, dass ihnen der Staatshaushalt kein sorgenfreies Leben gewährleisten kann.
Heraus kam dann jedoch, dass der Premierminister ohne den Anflug eines Zweifels und ohne vor Scham rot zu werden zugab: Zum Ersten weigert sich der Staat, seinen Verpflichtungen gemäß zu zahlen; zum Zweiten pfeift die Exekutive auf Entscheidungen der Legislative und Judikative.
Weshalb gibt der Premierminister angesichts der Proteste der „Tschernobylveteranen“ solche Erklärungen ab? Obwohl die politische Führung der Ukraine Julia Timoschenko nicht leiden mag, sollte sie sich trotzdem ins Gedächtnis rufen, dass vor gar nicht allzu langer Zeit, nämlich im Jahr 2009, eben diese Timoschenko ein gutes Beispiel davon abgab, wie Protest zu entschärfen ist.
Was tat Timoschenko, als die Autofahrer im Winter 2008-2009 gegen die neuen Beiträge zur Kfz-Steuer zu protestieren begannen? Timoschenko beschloss, eine Kommission zur Lösung des Problems ins Leben zu rufen.
Ich vermute, niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob das Problem tatsächlich gelöst wurde, jedoch gelang es damals den Zorn zu besänftigen, indem die Kommission mit Vertretern der protestierenden Kraftfahrer und mit Regierungsbeamten bestückt wurde.
Und es würde mich nicht wundern, wenn hinterher noch eine weitere Kommission berufen worden wäre, um die Ergebnisse der Arbeit dieser ersten zu analysieren.
Darauf beruht letzten Endes eine der effektivsten Strategien der Bürokratie gegen sozialen Unmut – der Versuch ihn mithilfe des Behördenapparats „weichzukochen“.
Man hat es mit den Protesten der „Tschernobylliquidatoren“ zu tun bekommen? Nun, man hätte als Antwort darauf irgendeine universelle Kommission berufen können. Und den „Tschernobylveteranen“ hätte es schlicht an Zeit und Enthusiasmus gemangelt, um den Zaun um das Parlamentsgebäude niederzureißen.
Die Methoden der – nennen wir sie einmal so – „bürokratischen Politik“ gefallen nicht? Nun, man hätte sich mit den Methoden der Informationspolitik beschäftigen und wenigstens abstimmen sollen, wie sprachlich auf die Proteste der „Tschernobylveteranen“ zu reagieren sei.
Nikolaj Asarow hätte doch seine Offenherzigkeit für einen passenderen Zeitpunkt aufbewahren und etwas in der Art von Jelzins „Ich lege mich quer auf die Schienen, wenn die Preise steigen“, antworten sollen.
Es ist doch unvernünftig, zur Entschärfung von Protest lediglich einen mit Beton verstärkten Zaun zu benutzen, wenn man gleichzeitig über einen gigantischen bürokratischen Apparat verfügt.
Unvernünftig ist es auch, immer von neuem gegen schonungslose Kritik anzukämpfen und sich nicht um die Formulierung einer staatlichen Informationspolitik zu kümmern.
Oder wenigstens darum, hohen Verantwortlichen beizubringen, nur das zu erklären, was zu erklären ist, und nicht das, was gerade in ihnen brodelt und förmlich darum bettelt herauszuplatzen.
Stellen Sie sich deshalb einmal einen durchschnittlichen Bürger der Ukraine vor, der nicht Bescheid weiß, was z.B. ein Akzept oder eine Offerte ist. Der Bürger hört nur: „Offen gesagt, verfügt der Staat auch nicht über ausreichend Ressourcen…“
„Ist das schon der Staatsbankrott?!“, könnte ein solcher Bürger denken.
Die Leute machen sich normalerweise keine Gedanken darüber, dass eine sog. „innere Verpflichtung“ des Staates nicht dasselbe ist, wie die Pflicht, gesetzlich verankerte Renten pünktlich auszuzahlen.
Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Weil in den letzten Jahren fast aus jedem Winkel des Landes die Stimme irgendeines „Experten“ zu vernehmen war, der erklärte, wann der Bankrott der Ukraine zu erwarten sei (und wann nicht), ist vollkommen klar, dass in der Wahrnehmung vieler Bürger das Wort „Staatbankrott“ und die Rede vom Fehlen staatlicher Ressourcen zu ein und demselben geworden sind.
Und versuchen Sie zu erklären, dass kein Staatsbankrott bevorsteht, nur weil der Premierminister persönlich erklärt, dass gesetzlich verankerte Renten nicht ausgezahlt werden.
Noch gefährlicher für Asarow persönlich, für die politische Führung und für die Gesellschaft als Ganzes ist der zweite Teil der „Enthüllungen“ des Premierministers: „Der Staat hat keine Möglichkeit, all die Gesetze einzuhalten, die ausschließlich aus populistischen Erwägungen verabschiedet wurden.“
Da möchte man fragen: Haben denn unsere Bürger die Möglichkeit, all die Gesetze einzuhalten, die ausschließlich aus räuberischen Erwägungen verabschiedet wurden? Zum Beispiel die Steuergesetze…
Was die Gesellschaft als Ganzes angeht, so ist diese Erklärung des Premierministers einer der größten Hinderungsgründe für die Anerkennung der Ukraine als ernstzunehmender Partner durch Vertreter der EU. Nikolaj Asarow schenkte „der Stadt und der Welt“ ein lupenreines Beispiel für Autoritarismus: Ich, der Premierminister, werde darüber befinden, welche Gesetze und welche Gerichtsentscheidungen zu befolgen sind.
Und wie nun, liebe Regierenden, wollt ihr den europäischen Partnern – nicht den Polen, aber z.B. den Dänen – ins Gesicht schauen und ihnen erzählen, dass wir hier bei uns fast schon einen Rechtsstaat haben – dass nur noch einige wenige Reformen nötig sind – wenn der Premierminister, die Verkörperung der Exekutive, sich selbst buchstäblich über die Gewaltenteilung stellt?
Selbstverständlich gefallen die ukrainischen Gesetze vielen in der Ukraine nicht. Selbstverständlich wäre es nicht schlecht, viele ukrainische Gesetze abzuschaffen oder so schnell wie möglich zu verbessern. Trotzdem ist es nicht am Premierminister – auch nicht, wenn dies im Konsens mit der Regierung geschieht – darüber zu befinden, welches Gesetz unter welchen Bedingungen zu befolgen ist und welches Gesetz unter welchen Bedingungen vernachlässigt werden kann.
Ja…und was, wenn nicht das, ist Machtmissbrauch?
Ein Gesetz ist nicht zufriedenstellend? Die Regierung hat das Recht der Gesetzesinitiative – also nutzt es.
Ihr könnt es euch nicht erlauben, ein Gesetz nachzubessern? In diesem Fall muss man zu bürokratischen Methoden greifen und eine entsprechende Informationspolitik entwickeln.
Es reicht nicht, einen Zaun um das Parlament zu errichten oder den Journalisten einen Haufen Blödsinn zu erzählen. Der sozialen Herausforderung muss mit einem bestimmten System von Maßnahmen begegnet werden, mit einer angemessenen Rhetorik, die den Protest kanalisiert.
Und dafür haben die hohen Verantwortlichen zweifellos genügend Ressourcen zur Verfügung.
Woran liegt es, dass man diese Ressourcen nicht nutzt? Woran mangelt es, dass der Machtmissbrauch nicht endlich aufhört?
18.11.2011 // Dmitrij Litwin
Quelle: Lewyj Bereg