Ist es wirklich so wichtig, in welcher Sprache wir sagen, dass die Ukraine am A... ist?


Ich werde diesen Artikel gleichzeitig in zwei Sprachen verfassen.1 Auf diese Weise versuche ich, die Sprachensituation in der Ukraine mehr oder weniger korrekt wiederzugeben. Diese Situation ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht einfach, und ich erlaube mir, einige aus meiner Sicht wichtige kennzeichnende Aspekte anzuführen:

Diese Liste ist zweifellos nicht vollständig, und der geneigte Leser kann sie durch eigene Beobachtungen und Überlegungen ergänzen. Ausklammern möchte ich an dieser Stelle allein die Frage, ob die beschriebene Situation für das Land ein Fluch oder ein Segen ist. Sie ist ein Faktum genau wie das Wetter: Der Platzregen draußen vor dem Fenster mag gefallen oder nicht, doch unsere Einstellung vermag die Situation nicht zu ändern. Letztlich würde ich vorschlagen, die detaillierte Beschreibung der Sprachensituation sowie die Ausarbeitung von Schlussfolgerungen und Empfehlungen Sprachwissenschaftlern, Sozialpsychologen und Pädagogen zu überlassen – d. h. Menschen, die diese Fragen, im Unterschied zu Herrn Kolesnitschenko (Partei der Regionen, einer der Urheber des diskutierten Sprachengesetzes) oder Frau Farion (Politikerin von Swoboda), professionell und mit wissenschaftlicher Ehrlichkeit behandeln.

An dieser Stelle schlage ich vor, über etwas anderes zu reden: Wie können wir vermeiden, dass der völlig natürliche Wunsch der Bürger, in ihrer Muttersprache miteinander zu verkehren, ausgebildet zu werden und Kultur zu konsumieren, für politische Manipulationen missbraucht wird und infolgedessen die Spaltung der ukrainischen Gesellschaft weiter vorantreibt? Schließlich enden in unserem Land so gut wie alle Diskussionen über die Sprachenfrage dank übereifriger „Bewahrer“ und bezahlter Provokateure auf beiden Seiten entweder in wildem Durcheinanderreden oder in unflätigen Beleidigungen. Die miesen Politiker sammeln Punkte, während wir – Bürger eines Landes – einander zu hassen beginnen. Mehr als einmal musste ich mit ansehen, wie, sobald das Thema die Sprachenfrage streift, im Übrigen kluge und gebildete Menschen im Handumdrehen zu „Kolesnitschenkos“ oder „Farions“ werden, d. h. zu kreischenden, aggressiven Wesen, die keine andere Meinung als die eigene gelten lassen. Das ist wirklich erschreckend.

Einen Ausweg gibt es immer. Erstens muss die Sprachenpolitik, wie bereits erwähnt, in die Hände von Sprachwissenschaftlern gelegt werden. Sie sind es, die ein Konzept für eine Sprachenpolitik entwickeln und der Öffentlichkeit vorstellen müssten, das eine harmonische Entwicklung der ukrainischen Sprache und der Sprachen der nationalen Minderheiten gewährleisten kann. Bis zum Erscheinen eines solchen Konzeptes benötigen wir ein Moratorium auf Änderungen an der Gesetzgebung, die die Sprachenfrage betreffen. Zweitens müssen wir uns alle in der Kunst üben, Provokateure zu ignorieren und Diskussionen in einen konstruktiven Dialog zu verwandeln. Ich persönlich bin zwar gegen die Einführung einer zweiten Amtssprache, aber es ist mir äußerst unangenehm, wenn die Verteidigung der ukrainischen Sprache in Schmähungen der russischen Sprache und ihrer Sprecher ausartet. Der rechte Flügel unserer Gesellschaft muss endlich verstehen: Russischsprachige Ukrainer sind keine traditionslosen Verräter an Volk und Vaterland – unter ihnen finden sich nicht weniger aufrechte ukrainische Patrioten als unter den ukrainischsprachigen Ukrainern. Und für die besonders Sturen wiederhole ich: Dmytro Donzow und Wjatscheslaw Lypynskyj wuchsen weder in ukrainischen Familien noch in einem ukrainischen Sprachumfeld auf.

Andererseits muss der russischsprachige Teil unserer Gesellschaft auch als gegeben akzeptieren, dass das unzweifelhafte Recht auf Bildung und Informationen in der jeweiligen Muttersprache die Bürger der Ukraine dennoch nicht von der Verpflichtung befreit, die Amtssprache des Landes zu kennen und zu achten. Ich bitte die Wiederholung zu verzeihen, doch es geht nicht an, dass die russische Sprache durch Schmähung der ukrainischen Sprache verteidigt wird.

Ich verstehe, dass es ein wenig naiv ist, von einem Moratorium oder einer aufrichtigen und besonnenen Diskussion zu reden, während die Partei der Regionen sich dazu entschlossen hat, ihren Wahlkampf auf der Erfüllung ihres einzigen und alleinigen Wahlversprechens – der Einführung einer zweiten Amtssprache – aufzubauen, die Opposition ebenfalls mit der Sprachenfrage punkten möchte und Regierung wie Opposition sich gegenseitig mit kämpferischen Werbespots für die kommenden Wahlen überbieten. Doch wir haben keine andere Wahl. Denn das alles kann ein böses Ende nehmen: Eine geteilte Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne gemeinsame Werte und ohne Konsens in Fragen, die die Zukunft wie auch die Vergangenheit betreffen, ist nicht lebensfähig. Sie kann zwar existieren, jedoch nicht als Gesellschaft, sondern eher wie ein urzeitlicher Stamm. Und auch die Existenz eines Staates an sich ist bei Abwesenheit einer modernen Gesellschaft nicht möglich. Jedenfalls, falls wir das europäische Modell eines Staates anstreben und nicht das afrikanische, bei dem zufällig auf einem Gebiet koexistierende befeindete Stämme einander regelmäßig die Kehlen aufschlitzen.

5. Juni 2012 // Oleg Basar

Quelle: Lewyj Bereg

1 Der Artikel ist im weiteren Verlauf teils auf Russisch, teils auf Ukrainisch verfasst und wechselt die Sprache von Satz zu Satz, bisweilen auch mitten im Satz. Dies ist in der Übersetzung leider nicht adäquat wiederzugeben.

Übersetzer:    — Wörter: 899

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