Wozu gibt es Historiker in der Ukraine? Über "Kosaken", welche die "russische Welt" schützen und über den Verräter „Jarema“



Wenn die Bevölkerung der Ukraine sich das „95 Kwartal“ (beliebte humoristische Fernsehsendung) anschaut oder die Neujahrssendungen auf „Inter“ (führender Fernsehsender), kann man sagen, dass es sich hierbei um das einfache Volk handelt, aber was kann man schon aus ihnen herausholen, man muss mit den Leuten arbeiten. Wenn der Präsident von der „Trennung vom Russischen Imperium“ spricht, kann man das auf die Berater und die Redenschreiber schieben – kommt vor. Wenn Politologen „zielsicher“ über das „Washingtoner Gebietskomitee“ scherzen – nicht schlimm, das ist alte Schule, sowjetische Schlagworte. Wenn Patrioten mit ernsten Gesichtern dazu auffordern, sich vor dem „unmoralischen Westen“ in acht zu nehmen – stellt es auch kein Problem dar, es sind ja schließlich Patrioten. Die Liberalen freuen sich, dass die politischen Rivalitäten eine Gesellschaft in der Ukraine erschufen, die sich von der russischen unterscheidet und alle stimmen dem fröhlich zu. Na, dann haben sie eben die Ursachen mit den Folgen verwechselt, auch das passiert mal. Es kommt auch mal vor, dass ein erfahrener Analyst der internationalen Politik die Ukraine mit Polen vergleicht, die Polen sagt er, „kehrten nach Hause, nach Europa zurück“, und wir müssen noch lernen, um Europäer zu werden.

Egal, wohin ich mit meinem müden Auge schaue, wie es einst ein Klassiker sagte, überall sind die „russische Welt“ und Belege der kleinrussischen Mentalität. Während der Union dominierte der Russophilismus. Die Russen befanden sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit weil sie gerecht, gutmütig, stark, progressiv waren, weil sie Hitler besiegten, ins Weltall flogen und alle benachbarten Völker aus dem uralten Joch befreiten. Heute sind die Russen böse, degradiert, aggressiv, hinterhältig, sie halfen Hitler, können nicht mal einen kommerziellen Satelliten starten und sie sind bestrebt, die benachbarten Völker zu versklaven. Einen Fortschritt gibt es, denn auch aus praktischer Sicht ist politische Russophobie besser als Russophilismus. Ein großes Problem bleibt die ukrainische Russlandzentriertheit. Das heißt, dass wir auch weiterhin unseren Blick nicht von den „Türmen des alten Kremls“ abwenden können. Und wir versuchen nicht einmal zu verstehen, warum die Formel „die Ukraine ist nicht Russland“ nicht funktioniert.

Der Bevölkerung, den Präsidentenberatern, Politikwissenschaftlern und anderen Internationalen könnten unter anderem die Historiker helfen. Im Rahmen ihrer Kompetenzen. Theoretisch. Aber man wendet sich erst dann an die Historiker, wenn dem Nachbarn eine „Abfuhr erteilt“ oder wenn „Patrioten“ von „Verrätern“ getrennt werden sollen. Also dann, wenn „es spät ist, Iwan, du musst zur Schule“. Und wenn die Antworten der Historiker nicht zufriedenstellend sind, finden sich immer Figuren mit Diplomen eines Historikers, die alles richtig erklären. Dass es keine Elite gab, dass die Biomasse sich zu selten Gedanken um höhere Materien macht und zu sehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt ist. Was man für den einzigen Durchbruch braucht, der auf reinen Idealen basiert.

Der Übergang der Massengeschichtswissenschaft von den Schienen des Marxismus-Leninismus zum „Blut und Boden“-Prinzip hat in der Ukraine überraschend leicht stattgefunden, weil beide Herangehensweisen mit derart wichtigen Kategorien operieren, dass sie es nicht zum einfachen Sterblichen schaffen. Anstelle der Klassenausbeutung wurde die nationale Unterdrückung eingeführt, und der Kampf gegen die Unterjochung ist immer zeitgemäß. Es ist erstaunlich, dass die Menschen damals Zeit für die Fortpflanzung fanden. Und es ist kaum zu glauben, dass es damals irgendwelche Ideale, Werte, Glauben gab, dass die sozialen Modelle noch funktionierten, genauso wie Gesetzgebung und Wirtschaft. Auch wenn mal diese ganzen im Kontext der globalen Revolution unwichtigen Prozesse mit der Phrase „alles, worüber die Bolschewiki sprachen“ beschreiben konnte, so reicht es heute über die „die ewigen Bestrebungen des ukrainischen Volkes“ zu schreiben. Das Problem liegt darin, dass einige Akzente der ukrainischen Geschichte verändert wurden, und ihre Inhalte dagegen (Akteure, Ereignisse, Ursache-Wirkungs-Beziehungen) blieben sowjetisch und russisch zentriert.

Genau so geschah es mit dem allen vertrauten Bild der ukrainischen Kosaken. Im Zentrum von Lwiw steht ein Denkmal für Iwan Pidkowa. Früher war dort folgende Aufschrift zu lesen: „Iwan Pidkowa – ein Held im gemeinsamen Kampf der russischen, ukrainischen und moldauischen Völker gegen die türkischen Unterdrücker. Von der polnischen Szlachta (Adel) in Lwiw am 16. Juni 1578 hingerichtet.“ In der Zeit der Unabhängigkeit der Ukraine wurde das Wort „russischen“ mit einem Dekor bedeckt und hier endete das Umdenken der Geschichte am Beispiel eines Denkmals. So ein Detail, wie die „polnische Szlachta“, fällt den einheimischen Patrioten nicht ins Auge. Das heißt, die Kosaken kämpften gegen die polnische Szlachta und Türken an der Seite von Ukrainern und Moldauern. Logisch – und vor allem einfach und verständlich.

Jarema Wyschnewezkyj ist für das ukrainische Volk ein Feind, weil er den orthodoxen Glauben verriet und gegen Bohdan Chmelnyzkyj kämpfte. Kyrylo Rosumowskyj hingegen ist eine prominente militärische und politische Figur, weil sein älterer Bruder aufgrund dessen, dass er auf dem Hofe favorisiert wurde, sich mit der Zarin auf die „Wiederherstellung“ des Hetmanats einigte. Er verriet seinen Glauben nicht und heiratete das Fräulein Kateryna Naryschkina.

Die ukrainische Szlachta/Adligen in der Rzeczpospolita waren Verräter und die Kosakenältesten im Dienste des Russischen Imperiums waren insgeheim Patrioten. Ein schwieriges Schicksal ist es, Moskau zu erbauen und gramvoll in seine Wyschywanka zu weinen oder sich als „possierlicher Chochol“ (Chochol zumeist abwertende Bezeichnung für Ukrainer durch Russen, A.d.R.) zu verdingen. Im Westen gibt es diese Option nicht, dort kommt es sofort zu Entnationalisierung, Katholisierung und anderen russisch/sowjetische Steroptypen, die längst schon zu ukrainischen wurden. Alle richtigen Kosaken kämpften ausschließlich für den orthodoxen Glauben, und gesegnet seien die Registerkosaken, die dabei die vorherigen Vereinbarungen mit den Unterdrückern brachen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in der heutigen Ukraine nicht nur ukrainische Patrioten Kosaken genannt werden, sondern auch die verkleideten Cosplayer aus der Bewachung der Lawra in Potschajiw (Gebiet Ternopil).

Die traurige Realität ist die, dass Russland gegenüber loyale Kosaken, vom Typ des gogol´schen Taras Bulba, eine von wenigen im Russischen Reich erlaubten lokalen Figuren waren. Das Imperium fiel, die Union brach auseinander, und der kleinrussische Geist schafft es nicht mal durchzulüften. Weil die „ukrainischen Patrioten“ partout nicht glauben können, dass die Kosaken gewöhnliche Söldner im Dienste des Königs oder der Magnaten der Rcszespolita sein könnten. Dass die Magnaten nicht hätten Polen sein müssen. Dass die Kosakenaufstände durch wirtschaftliche Motive verursacht worden sein könnten und nicht durch das ewige Streben nach Unabhängigkeit. Dass man nicht alles auf der Welt aus der Sicht eines „nationalen Befreiungskampfes“ beschreiben kann, überarbeitet aus dem sowjetischen Lehrbuch entnommen, das irgendwann für die Russifizierung der „Republiken“ herausgegeben wurde.

Vielleicht kommt es eines Tages sogar dazu, dass „Wissenschaftler“ die Polen des östlichen Galiziens des 19. Jahrhunderts von den Kolonisten der Zwischenkriegszeit unterscheiden werden („Masury“, wie es im Volksmund heißt), die Juden von den „Kommi-Juden“ und die „Kosaken-Enkel“ von den „Nachkommen der Trypillja-Kultur“.

Das mag wie eine entfernte und unnötige Theorie erscheinen, in Wirklichkeit jedoch hat es großen Einfluss auf die gegenwärtige Situation. So hat man zum Beispiel erst kürzlich in Saporischschja Waffen und russische „Souvenirs“ in der Organisation „Radomyr“ entdeckt – einer militärischen Struktur, die mit dem Moskauer Patriarchat verbunden wird. Das Gehirn des Menschen ist so programmiert, dass für die Organisation einer Gruppe, die mehr als 40-50 Personen beträgt, eine Ideologie gebraucht wird, irgendwelche abstrakten gemeinsamen Ideen. Persönliche Kontakte und Motive können eine so große Anzahl an Personen nicht halten, dafür braucht man diese „Souvenirs“. Aber in Saporischschja gab es einen tragischen Vorfall (ein kleiner Junge wurde durch einen Selbstmörder getötet und Priester des Moskauer Patriarchats weigerten sich ihn auszusegnen, nachdem er erfuhr, dass der Junge in der „falschen“ Kirche getauft worden war, A.d.R.) und für die „orthodoxen“ Schlägertypen interessierte sich der Geheimdienst.

Dafür agiert eine große Zahl von „Kosaken“-Organisationen legal, die niemanden interessieren. Warum sollte man sie stören, es sind doch Kosaken, also Patrioten? Alles sieht einfach nur ideal aus: ukrainisches Register-Kosakentum, das Register-Sonderregiment für Spezialeinsätze „Galizien“. Man könnte sich nur für die Jungs freuen, welche die zukünftigen Beschützer der Ukraine vorbereiten. Wenn da nicht eine elementare Suche bei Google den Kosakenoberst als Mitglied des Zentrums „Kreml-Strategie“ und als Assistent eines Parlamentsabgeordneten der Partei der Regionen identifiziert hätte. Das heißt, es ist eine fertige „Grundsteinlegung“ für die Russen, die niemanden interessiert. Nicht nur der Geheimdienst, sondern überhaupt niemanden, weil es ja Kosaken sind.

Und wie soll sich hier das einfache Volk, der Präsidentenberater oder der Experte für internationale Beziehungen festlegen, wer für wen fremdstämmig ist, wo die Kirchenspaltung verläuft und wer sich mit wem zusammenschließen sollte?

18. Januar 2018 // Nasar Kis

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Yuliya Komarynets  — Wörter: 1380

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