Über Legitimität und Moral
Eine ausgesprochen undankbare Sache ist es, die europäischen und andere westliche Politiker und Diplomaten dafür zu rügen, dass sie die Maidan-Interessen nicht heftig genug verteidigen (wie das sicher der Wunsch der Maidanteilnehmer wäre). Ich persönlich hege keine Zweifel daran, dass ohne ihre Anteilnahme unvergleichlich mehr Blut in der Ukraine vergossen würde und die Repressionsmaschine, wie beim Duvalier-Regime gewütet hätte. Nichtsdestotrotz bestimmt die Haltung der europäischen Diplomaten ein gewisser Umstand, der es nicht zulässt, dass sie die Situation adäquat einschätzen. Mit dem Umstand meine ich das Verständnis des Legitimitätsgrades der Gegenkräfte.
Mit ihrer Einschätzung des Maidans sollte man wahrscheinlich einverstanden sein – es ist in der Tat ein Volksprotest (bzw. Aufstand) gegen die Regierungspolitik. Es ist wahr, dass die Menschen, die auf dem Maidan stehen, von keinem erwählt worden sind. Auch über den Grad ihrer Unterstützung seitens der ukrainischen Bevölkerung kann man nur nach soziologischen Angaben schließen. Wahr ist auch, dass die Einwohner verschiedener Regionen der Ukraine auf dem Maidan ungleichmäßig vertreten sind. Es gibt nämlich Territorien, die aktiv an den Protesten teilnehmen, und es gibt andere, die schweigsam oder eher neutral sind. Offensichtlich ist nur, dass es nur wenige Menschen gibt, die die Regierung unterstützen, was sie wenn, in der Regel, aus Angst oder für Geld tun.
Unsere Differenzen mit den europäischen Politikern beginnen bei der Einschätzung des zweiten Subjekts der Konfrontation. Von ihnen wird es für die legitime Macht in der Ukraine gehalten, und legitim ist sie wohl nicht, obgleich sie über einige äußere Merkmale der Legitimität verfügt.
Die Tatsache ist wie folgt: vor etwa vier Jahren wurde in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt. Lassen wir heute die Wunder der Wählerschaftsaktivitäten in den bevölkerungsreichsten Regionen beiseite. Zu erwähnen wäre nur die Geschichte mit der Verdoppelung der Wählerzahl in den letzten paar Stunden der Wahl in den Wahllokalen. Lassen wir auch die Tatsache aus, dass der Präsident mit halb soviel Vollmachten gewählt wurde, unter der Regierung von Julia Timoschenko und einer Timoschenko-Mehrheit im Parlament, die plötzlich stark abschmolz. Wollen wir hier auch über die Verfassungsänderung per Gerichtsentscheid aus technischen Gründen schweigen. Schweigen wir auch darüber, dass vier Jahre eine lange Zeit sind, besonders in Anbetracht des drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der politischen Massenproteste. Wobei jeder normale Präsident seine Kandidatur im solchen Fall wieder zur Wahl stellen sollte, um sein Regierungsmandat zu bestätigen. Lassen wir all das für die Reinheit der Argumentation beiseite.
Hier erwähnen wir also nur, dass vor einigen Jahren ein legitimer Präsident in der Ukraine gewählt wurde. Heißt es nun, dass es im Land heutzutage eine legitime Macht gibt? Von wegen. Der Präsident ist nur ein Teil der Macht. Legitim macht ihn nicht die (quasi-) lautere Abstimmung, sondern eine legitime Mitwirkung mit den beiden anderen Gewalten. Und gerade hier ist alles noch weniger redlich.
Seit einiger Zeit (genauer: seit dem Verabschieden der „diktatorischen“, heute bereits aufgehobenen Gesetze), ist es seltsam, von einer souverän funktionierenden Legislative zu sprechen. Die Gesetze sind verfassungswidrig, weil sie offensichtlich und sehr stark die durch die Verfassung garantierten Bürgerrechte einschränken. Auch die ganze Abstimmungsprozedur im Parlament war eine schreiende Verfassungsverletzung: die Gesetze wurden in den Parlamentsausschüssen nicht besprochen, die Abgeordneten haben den Text der Gesetzprojekte nicht gesehen, für die Gesetze wurde der Geschäftsordnung und dem Gesetz zuwider per Handzeichen abgestimmt und danach wurden die Stimmen auf die schimpfliche und betrügerische Weise, die man sich nur vorstellen kann, gezählt. Die Gesetze wurden aber trotz allem verabschiedet und sind in Kraft getreten, was eine absolute Unterwerfung der Legislative dem Präsidenten bewies.
Die Situation der anderen Gewalt, der Judikative, ist noch schandhafter. Der Gipfel seiner Servilität ist die bereits erwähnte Abschaffung der sechs Jahre lang gültigen Verfassung, die Abänderung der Wahl zum Kiewer Stadtrat, auch wenn dessen Vollmachten, die nach der Verfassung fünf Jahre gelten, längst abgelaufen sind. Das ukrainische Gerichtssystem hat auch einiges vorzuweisen: dazu gehören etwa fast hundertprozentige Schuldsprechungen, Versammlungsverbot im Stadtzentrum für den Aufbau eines Weihnachtsbaums, die Aberkennung von Abgeordnetenmandaten ein halbes Jahr nach der Wahl und anderes mehr. Sogar Unterbindungsmaßnahmen gegen Teilnehmer der Massenproteste, welche die Staatsmacht exemplarisch bestraft, werden irgendwo in den Tiefen des Präsidialamtes bestimmt. So ist es nicht verwunderlich, dass die Richterin, die es wagte, für vier festgenommene Studenten Hausarrest statt „normaler“ Haft zu verordnen, gleich am Tag darauf ihre Stelle einbüßte (offiziell kündigte sie auf eigenen Wunsch, A.d.R.). In der Ukraine gibt es kaum einen geistig gesunden Menschen, der sich im Ernst eine Situation vorstellen kann, in der ein beliebiges Gericht eine Entscheidung gegen den Willen der politischen Staatsführung treffen würde.
Folglich gibt es heute in der Ukraine keine unabhängige Rechtsprechung, wie auch kein unabhängiges Parlament. Die beiden Gewalten wurden durch die Exekutive usurpiert. So hat die Präsidialmacht unrechtmäßig ihr nicht eigene Vollmachten übernommen, und damit nicht nur diese beiden Gewalten, sondern sich auch selbst der Legitimität beraubt! Und wem auch immer die Präsidialmacht ihre Befehle verordnet, ist es lediglich das Recht der Gewalt.
Anders gesagt gibt es heute im Land zwei Kräfte. Die eine befindet sich im Regierungsviertel, die andere steht auf dem Maidan. Der Legitimitätsgrad beider Kräfte ist gleich. Mit dem Unterschied, dass der Grad der Moral bei den Aufständischen ungleich höher ist. Und nur davon sollte man ausgehen, wenn man den Konflikt in Kiew bewertet.
11. Februar 2014 // Karl Woloch, politischer Beobachter und Blogger
Quelle: Facebookeintrag
Übersetzung: Chrystyna Nasarkewytsch