Über die russische Sprache


Die Grenzen des Putin-Reiches hängen nicht mit den ehemaligen Grenzen des russischen oder des sowjetischen Reiches zusammen. In Putins Vorstellung werden die imperialen Schranken durch die Grenzen der Verbreitung der russischen Sprache bestimmt. Die ukrainische Idee, das ukrainische politische Projekt entstand seinerzeit als eine Antwort auf das russische Projekt und mündete irgendwann in die Doktrin „Weg von Moskau!“ — der Verweigerung von allem, was man in der kleinsten Weise mit der Moskau untergeordneten Vergangenheit verbinden könnte, — nicht nur der russischen Sprache, sondern auch des Großteils der Geschichte oder des eigenen historischen Namens „Rus“. Indem wir einen Teil von uns selbst verweigern, geben wir den Kreml-Ideologen eine wunderbare Möglichkeit, auf unserem Feld zu spielen. Im ideologischen Sinne schaltete die Ukraine auf eine harte Deckung um und versucht schon seit ein paar Jahrhunderten sich zu rechtfertigen, zu beweisen, dass „die Ukraine nicht Russland“ ist. Als ein Inlandsprodukt könnte diese Politik in einer Welt ohne aktuellen außenpolitischen Bedrohungen auch bestehen, bei der steigernden Aggressivität der russischen Außenpolitik gleicht sie jedoch einem Selbstmord.

Das Weltbild, in dem die Gleichungen gelten: „Ukrainer = Bandera-Anhänger“, „Ukrainischsprachiger = Nationalist“, sieht auch andere Axiome vor — „Russischsprechender = Ukrainophober“, „Russe = Russländer“, und, was wichtig ist, „Russischsprechender = Sowjetmensch“. Dieses schwarz-weiße Weltbild, diese vulgäre Deutung des Prinzips „unser“/“fremd“ zerreißt die heutige Ukraine in zwei ungefähr gleiche Teile, von denen die eine früher oder später das traurige Schicksal der heutigen Krim erwartet. Umso merkwürdiger, dass sich auch die Vertreter der ukrainischen politischen Elite für so ein Entwicklungsmodell begeistern, die sich selbst zu Trägern einer patriotischen Ideologie erklären. Da treten sie als effiziente Verbündete der imperialistischen Kreml-Bestrebungen auf, und es fällt ihnen leichter, auf einen Teil des ukrainischen Territoriums zu verzichten, als die veralteten Ideale der Ukraine als eines Staates mit Titularnation abzuwerfen.

Zugleich passiert folgendes: Indem die Kreml-Ideologen ein propagandistisches Bild der politischen Konfrontation in der Ukraine als einer Konfrontation zwischen dem Russischen und dem Ukrainischen malen, zeigen sie unwillkürlich alle ihre unbewussten Ängste, alle Schmerzpunkte. Der Maidan der Bandera-Leute, der antirussische Maidan – das ist nicht nur ein propagandistisches Klischee, das ist die Realität, die sie gerne hätten. Genau dieses Modell ist für sie am meisten vorteilhaft, es minimiert die Risiken für Putins Machtsystem, es trägt zur Unterstützung des Putin-Mythos bei. Der ukrainischsprachige Maidan wäre ein ausschließlich innerukrainisches Produkt, das selbst innerhalb der Ukraine eine sehr beschränkte Nachfrage genösse. Aber dass mindestens ein Drittel des Maidans Russisch spricht, ist wirklich eine reale Gefahr und eine bedrohliche Herausforderung für den Kreml. Der russischsprechende Maidan hat eine Chance, nicht nur im Süden und in Osten der Ukraine gehört zu werden, sondern auch ein wirksames Vorbild für die im Moment noch schüchterne innerrussische Opposition zu liefern.

Die russische Sprache ist eine mächtige Propagandawaffe, die gegen den Hauptfeind der Ukraine verwendet werden kann und soll — das Putin-Regime. Die ideologische Konfrontation von der Ebene „Ukrainisch — Russisch“ auf die Ebene „russisch – russländisch“ oder sogar „russisch – sowjetisch“ zu überführen, — das ist die einzige Möglichkeit, den Informationskrieg auf das Feld des Gegners zu verschieben. Und nur so können wir den Teil der Russen ansprechen, für die die neuimperialistische orthodoxe Obskurität oder heuchlerische Eurasien-Ideologie der russischen Machteliten fremd ist. Erst wenn wir die russische intellektuelle Elite zur Suche nach neuen Qualitäten der russischen Staatlichkeit statt erfolgloser historischer Rekonstruktionen der gescheiterten Regime vergangener Jahrhunderte bringen, werden wir etwas erreichen. Erst dann werden wir unseren Gegner dazu zwingen, sich zu verteidigen und vielleicht sogar sich zu verändern. Ein zusätzlicher Gewinn bei so einer revolutionären Wendung in der nationalen Doktrin der Ukraine wird die Herausbildung der ukrainischen politischen Nation im modernen Sinne dieses Wortes sein, wo nicht nur die Titelnation, sondern auch Russen, Tataren, Juden, Gagausen, Roma und sogar die heute nicht anerkannten Transkarpatenruthenen ihren Platz finden. Nicht assimilieren, nicht aufdringen, nicht zwingen, sondern erklären und überzeugen — das werden wir nur mithilfe der russischen Sprache können. Nur so wird der Maidan nach Süden und Osten der Ukraine kommen können, nur so wird er auch nach Moskau kommen.

08. März 2014 // Andrej Plachonin

Quelle: Facebookeintrag

Übersetzung: Olha Sydor

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