50 Rottöne


„Rote Linien“. Dank des vergangenen Parisgipfel ist diese Redewendung bei jedem und allen im Ohr.

Die Ukraine streitet über das Verbotene, Unannehmbare und Unzulässige. Über das, was unter die Haut geht und in der Lage ist, das Land zu sprengen. Darüber, was Präsident Selenski [Wolodymyr Selenskyj] zu seinem eigenen Wohl vermeiden sollte.

Interessenten die nächste rote Linie zu umreißen und diese durch die öffentliche Meinung zu heiligen gibt es immer mehr. Doch war und wird der aktive Teil der ukrainischen Gesellschaft niemals monolithisch sein.

Jeder von uns hat eine Empfindungsschwelle, seine schmerzhaften Punkte und die eigenen Grenzen des Zulässigen.

Für die einen ist eine Reintegration des Donbass mit Sonderstatus unzulässig. Für die anderen eine Reintegration des Donbass überhaupt, denn die ganze Region wird als antiukrainisches „Krebsgeschwür“ betrachtet.

Für die einen sind ökonomisch nicht einträgliche Geschäfte mit der Russischen Föderation unzulässig. Für die anderen eine Zusammenarbeit mit dem nördlichen Nachbarn überhaupt.

Für die einen ist sogar eine kleine Korrektur in der humanitären Politik gleichbedeutend mit nationalem Verrat. Für die anderen nicht.

Die einen halten jegliche Anschuldigungen des Innenministeriums an die Adresse von Freiwilligen und Volontären für Gotteslästerung. Andere nicht. [Gemeint sind die fünf des Mordes am Journalisten Pawel Scheremet Verdächtigten. A.d.Ü. ]

In der Ukraine haben sich eine Vielzahl individueller roter Linien ineinander verwickelt. Und ihre Stärke hängt nicht von der Entschiedenheit, sondern von der situativen Übereinstimmung ab.

Davon, wie viele persönliche Grenzen der eine oder der andere Schritt übertritt und wie viele Schmerzgrenzen unterschiedlicher Empfindlichkeitsgrade er überschreitet.

In der Vorstellung vieler nicht gleichgültiger Ukrainer hat Wladimir Selenski bereits eine verbotene rote Linie überschritten. Nicht beim Normandie-Treffen und nicht während der Zustimmung zur „Steinmeier-Formel“.

Der populäre Showmen überschritt sie am 21. April, als er die Präsidentschaftswahlen gewann. Indem er den Platz einnahm, welchen er der Meinung einer gewissen Gesellschaftsschicht nach Apriori nicht hätte einnehmen können. Er ließ die Leute dumm aussehen, die stolz auf ihre intellektuelle Überlegenheit waren. Das Bild der Welt zerstörend, an das diese Leute gewöhnt waren.

Das Aufgezählte ist mehr als hinreichend dafür, um auf den Garanten mit unverminderter Abscheu herabzublicken und „Weg mit Selja!“ zu skandieren. [Selja als Kurzform für Selenskyj. A.d.Ü.]

Sich in den Augen dieser Bürger zu rehabilitieren vermag der Präsident niemals: Ihre rote Linie ist unwiderruflich überschritten worden. Auf den Maidan gegen Selenski sind sie bereit aus jedem Anlass und ohne Anlass zu gehen.

Doch diese ungehemmte Abneigung stellt keine reale Bedrohung für die politische Zukunft von Se[lenski] dar. Solange, wie sie auf die Grenzen der relativen acht Prozent beschränkt bleibt, und keinen Widerhall in den Gedanken und Gefühlen der Außenstehenden findet. [Gemeint ist der Prozentsatz den die Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko bei den Parlamentswahlen erhalten hatte. A.d.Ü.]

Obgleich die jetzige Regierung von jeder Straßenaktion nervös wird, teilen sich die Protestaktionen in zwei nicht gleichwertige Kategorien.

Ein inklusiver Protest ist in der Lage komplett unähnliche Leute mit verschiedenen Einstellungen zu einen. Liberale und Nationalisten, Pragmatiker und Romantiker, Radikale und Gemäßigte, raffinierte Intellektuelle und städtische Irre.

Je mehr Buntheit und Vielstimmigkeit es gibt, um so einfacher ist es, das Gleichheitszeichen zwischen den entrüsteten Eiferern und der Gesellschaft zu stellen. Bewiesen wurde es bei den einheimischen Maidanen 2004 und 2013 / 2014.

Dagegen bleibt ein exklusiver Protest ein Teil von Gleichgesinnten. Von Anfang an auf einer Welle schwimmend, doch nicht in der Lage sich unterschiedliche verschiedenkalibrige Verbündete und Wegbegleiter zuzulegen.

Wie aktiv die Protestler auch sein mögen, ein derartiger Protest unterstreicht ihre Isoliertheit und Schwäche im Landesmaßstab.

Als typisches Beispiel kann der gescheiterte „Sprachmaidan“ des Jahres 2012 oder die unfruchtbaren Aktionen der Anhänger von Saakaschwili 2017 dienen. [Gemeint ist Micheil Saakschwili, der Ex-Präsident von Georgien. A.d.Ü.]

Die Herbstaktion gegen die „Steinmeier-Formel“ wurde zum schmerzlichen Schlag für Wladimir Selenski eben darum, weil sie sich dem inklusiven Format annäherten.

Die Ungewissheit, die den Minsker Prozess begleitet, säte Besorgnis in sehr verschiedene Köpfe und Herzen.

Die Anhänger von Ex-Präsident Poroschenko fanden sich auf einer Seite der Barrikade mit seinen langen Kritikern wieder; die radikalen Hasser Selenskis mit den gemäßigten Aktivisten, die von der neuen Regierung erhört werden möchten.

Doch die Se[lenski]-Mannschaft machte einen großen Fehler, den Moment verschlafend, als der Aufruhr der mutmaßlichen Poroschenko-Bots in eine größere Bewegung hinüberwuchs.

Doch zum [Paris-Gipfel am] 9. Dezember zog man auf der Bankowaja [Sitz des Präsidenten, A.d.Ü.] seine Schlüsse und vermochte es sich zu revanchieren, den inklusiven Protest in einen exklusiven verwandelnd. Die Gegner Selenskis, die versuchten zum gesellschaftlichen Sprachrohr zu werden, begannen wie eine Sammlung von Alarmisten auszusehen, die vergebens die Botschaft vom „Verrat“ verbreiteten.

Ein charakteristischer Moment: Am Vorabend des Normandie-Gipfels forderte Pjotr Poroschenko [Petro Poroschenko, A.d.Ü.], in Paris keine Gasverhandlungen zu führen. Diese rote Linie, persönlich vom Hauptoppositionellen umrissen, hat Selenski übertreten. Und rein theoretisch könnten die Gegner von Se[lenski] die Straßenaktionen fortsetzen. Doch praktisch hätte das die Protestierenden in Marginale verwandelt. Sie mussten zurückweichen, das informationelle Schlachtfeld der ukrainischen Regierung überlassend.

Das Gleiche betrifft jede rote Linie, die Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] übertreten oder nicht übertreten könnte. Die optimale Taktik für Selenski und seine Mitstreiter besteht nicht darin, fremde Schmerzpunkte nicht zu streifen. Sondern darin, eine Überlagerung mit anderen Schmerzpunkten nicht zuzulassen.

Beispielsweise entrüstet der Versuch die Schrauben im Informationsraum anzuziehen [Gemeint ist ein diskutiertes Gesetz, mit dem Medien beispielsweise für Rufmord oder Falschinformationen belangt werden könnten. A.d.Ü.] viele und ruft gesellschaftlichen Protest hervor. Dabei ist der Protest verschiedenstimmig und daher gefährlich für Selenski und Co.

Die Meinungsfreiheit zu verteidigen sind in der heutigen Ukraine sehr sich voneinander unterscheidende Bürger bereit: vom überzeugten Liberalen und Eurooptimisten bis zum Nationalpatrioten, der unter anderen Umständen bereitwillig Zensur unterstützen würde, doch diese in der Ausführung von der Se[lenski]-Mannschaft für inakzeptabel hält.

Eine weitere Verfolgung von Ex-Präsident Poroschenko entrüstet ebenso viele und ruft auch Protest hervor. Jedoch ist der Protest einstimmig und daher zum Scheitern verurteilt. [Gegen Poroschenko wird nach etwa ein Dutzend Anzeigen unter anderem wegen Amtsmissbrauch, Korruption, Geldwäsche und Hochverrat ermittelt. Zu einer Anklage ist es aber bisher nicht gekommen. A.d.Ü.]

Das ehemalige Staatsoberhaupt ist in den breiten Massen einfach unbeliebt: er ist toxisch für einen bedeutenden Teil der ukrainischen Eiferer. Und, sich für den verfolgten Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko] einsetzend, demonstrieren seine Anhänger lediglich ihre Isoliertheit vom Rest des Landes. Sie machen den nächsten Schritt auf dem Weg zur Marginalisierung, von der die Bankowaja nur gewinnt.

Dem Regierungsteam wird abgeraten, sich den inklusiven roten Linien zu nähern. Es mit Reizfaktoren zu tun zu bekommen, welche die heterogene menschliche Masse in ein situatives Ganzes verwandelt.

Doch zur gleichen Zeit ist es für das Regierungsteam vorteilhaft, die exklusiven roten Linien zu überschreiten. Sie sicher und demonstrativ zu missachten, dabei die Gegner zu kraftloser Empörung provozierend.

Dabei gibt es nur ein kleines Problem: es zu vermögen, rechtzeitig die eine Form der roten Linien von der anderen zu unterscheiden.

14. Dezember 2019 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1154

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