Dem Treffen der Teilnehmerstaaaten der Normandie-Vier, das am 9. Dezember in Paris stattfand, wurde von Politikern, Experten, Journalisten und gewöhnlichen Bürgern, besonders in der Ukraine, eine riesige Aufmerksamkeit gewidmet. Zudem war das Ereignis wirklich ungewöhnlich, da die Führer der Ukraine, Deutschlands, Frankreichs und Russlands sich zuletzt vor drei Jahren versammelt hatten. Danach zeigte das Normandie-Format, gelinde gesagt, kaum Anzeichen von Leben.
Reanimation des Formats
Seitdem haben sich auf dem politischen Schachbrett Änderungen ergeben. Am Verhandlungstisch sind nicht mehr die Präsidenten Petro Poroschenko und François Hollande. Bundeskanzlerin Angela Merkel spielt bereits nicht mehr die führende Rolle im Quartett, diese an Emmanuel Macron abtretend, der Ambitionen zum neuen Führer Europas zu werden hat und jedes Mal wohlwollender über Russland spricht. Die Position Moskaus ist unverändert. Russland sieht sich nicht als Seite des Konflikts im Donbass, dafür ruft es Kyjiw beharrlich zu Zugeständnissen gegenüber den Kreml-Marionetten in den ORDLO auf. [ORDLO = einzelne Kreise in den Gebieten Donezk und Luhansk. Formulierung aus den Minsker Vereinbarungen. A.d.Ü.]
Doch für wen der Normandie-Gipfel wirklich wichtig war, das ist der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj, der bei den Wahlen mit einem überwältigenden Ergebnis siegte, dem Land einen schnellen Frieden versprechend. Den Überzeugungen Selenskyjs nach dauert der Krieg in der Ukraine deswegen an, weil an ihm die Regierung verdiente, für die es vorteilhaft ist, dass der Konflikt weiter schwelt. Damit das alles endet, muss man, wie Wolodymyr Olexandrowytsch [Selenskyj] sagte, „einfach aufhören zu schießen.“
Das erwies sich im Gegenteil als unzureichend, wovon der neugewählte Garant nach einigen Monaten Verweilens auf dem Posten die Möglichkeitkeit sich zu überzeugen hatte. Der Regierungswechsel in Kyjiw führte nicht zu Änderungen in der Situation an der Ostfront und zu Korrektur der Politik der Russischen Föderation in der ukrainischen Richtung. Im Gegenteil, periodisch fand eine Eskalation des Konflikts statt, starben unsere Kämpfer, und Präsident Selenskyj telefonierte in dieser Zeit mit Wolodymyr Putin und bat darum auf seine Untergebenen in den ORDLO einzuwirken, damit sie keine ukrainischen Bürger umbringen. Im Kreml verlangten sie zugleich von Kyjiw den Sonderstatus der Pseudorepubliken zu verankern und den Beschuss der Siedlungen im Donbass einzustellen, unter dem die Zivilbevölkerung leidet.
Der während des Wahlkampfs die Minsker Vereinbarungen kritisierende Selenskyj nahm nichtsdestotrotz das von Poroschenko geerbte Format an und startete es neu, Leonid Kutschma in den Bestand der ukrainischen Delegation zurückholend. Der Präsident demonstrierte und demonstriert seine Ergebenheit der friedlichen Regulierung der Situation im Osten der Ukraine gegenüber, dabei auf einen politisch-diplomatischen Mechanismus setzend, doch bleiben auch die Streitkräfte in der Priorität als Unterpfand unserer Unabhängigkeit. „Ich möchte diesen Krieg beenden“, wiederholte Selenskyj mehrfach. Und versuchte so schnell wie möglich zu handeln, sozusagen im Turboregime. [Anspielung auf die schnelle Verabschiedung von Gesetzen im neugewählten Parlament im „Turboregime“. A.d.Ü.]
Eine unstrittige Leistung der neuen Administration wurde der Austausch von Geiseln (!sic) zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation Anfang September. Aus den russischen Gefängnissen kehrten die ukrainischen Matrosen und politischen Gefangenen zurück, von deren Freilassung man nur träumen konnte. Das wurde zum Hoffnungssignal für eine schrittweise Normalisierung der Situation im Donbass. Zu nächsten Schritten wurde die Abstimmung der politischen „Steinmeier-Formel“, welche die Prozedur für die Abhaltung von Wahlen in den temporär besetzten Gebieten festlegt, die Erneuerung der Brücke in der Stanyzja Luhanska und die Truppen-Entflechtung an drei Pilotabschnitten in den Gebieten Luhansk und Donezk.
Der Plan Se[lenskyj]
Das war der Minimalplan Kyjiws für die Schaffung von Vorbedingungen für das Treffen im Normandie-Format, das Selenskyj so eifrig anstrebte. Zur gleichen Zeit stießen die Bemühungen des Präsidenten auf Unverständnis und Widerstand in einem Teil der Gesellschaft, die in seinen Handlungen Anzeichen von „Verrat“ erblickte. Daher fanden im Herbst in Kyjiw auf dem Unabhängigkeitsplatz [Majdan] warnende Versammlungen unter der Losung „Nein zur Kapitulation!“ statt. Zu denen sich das Se![lenskyj]-Team hinreichend skeptisch verhielt und diese sogar als teils bezahlt bezeichnete. Gleichzeitig jedoch waren sie gezwungen ihnen Aufmerksamkeit zu widmen, sich mit ihren Teilnehmern vor dem Präsidentenbüro zu treffen und sie davon zu überzeugen, dass die Regierung bei den Verhandlungen keine „roten Linien“ des nationalen Interesses überschreiten wird.
Die Demonstranten meinen, dass sie so die Position Selenskyjs bei den Verhandlungen gestärkt haben. Dagegen äußerte Wolodymyr Olexandrowytsch während des wohlbekannten 14-stündigen Pressemarathons eine entgegengesetzte Meinung: „Ich möchte, dass mir die Möglichkeit gegeben wird, mir wurde das Mandat gegeben und ich möchte nicht auf einer Sprengfalle stehen, sondern ein normaler, starker Präsident sein, und mich mit unterschiedlichen Aktionen zu schwächen ist unnötig, einfach unnötig.“
Diese Position teilen auch seine Wähler völlig, eben jene 73 Prozent, an welche die Regierung ständig appelliert, den Rest der Nichteinverstanden als „kriegslustige Minderheit“ hinstellend, nach dem Ausdruck des Beraters des Sicherheitsratssekretärs Serhij Sywocho. Ein Körnchen Wahrheit steckt in ihren Appellen wirklich, wovon die frischen Umfragewerte der „Demokratischen Initiativen“ und des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie zeugen. 58,5 Prozent der Ukrainer sind für Frieden zu Kompromissen bereit, doch nicht zu allen Bedingungen. 14 Prozent wollen Frieden um jeden Preis und sind zu Verhandlungen mit wem auch immer bereit. Fast 60 Prozent sind positiv auf die Entflechtung der Streitkräfte im Donbass eingestellt: unter den Anhängern von Diener des Volkes gibt es 69 Prozent davon, und unter den Wählern der Oppositionsplattform – Für das Leben sind es ganze 90 Prozent. Hier haben Sie die „Friedens-Partei“ oder die „Kriegsmüden“, die möchten, das alles „alles alles“ schneller endet.
Und Selenskyj entspricht dieser Nachfrage, die an die Möglichkeit eines schnellen Friedens glaubt, dessen Faustpfand seine Offenheit und sein Charisma sind, die, entgegen dem Mangel an politischer Erfahrung, überzeugen. Er, so scheint es, glaubt wirklich, dass man, durch ein Treffen im Normandie-Format, den „festgefahrenen“ Friedensprozess bewegen und in irgendwelchen Fragen Zugeständnisse erringen kann. Vor allem in humanitären. Zu diesen Hoffnungen konnte man in der Ukraine einige skeptische und schmerzhafte Kommentare hören, doch dem Präsidenten musste, entgegen all dessen, die Möglichkeit gegeben werden diesen Weg zu beschreiten. Damit er sich mit eigenen Augen davon überzeugen könne, was die Versprechen und Forderungen des Kremls wert sind. Seinerzeit kehrte die pragmatische ukrainische Delegation von den Gasverhandlungen in Moskau als überzeugte Nationalisten zurück und die postsowjetischen Manager des Landes wurden unfreiwillig zu Staatsmännern. Möglicherweise erwartet eine solche Metamorphose auch Selenskyj nach dem Gipfel in Paris.
Der Normandie-Gipfel wurde nicht zum diplomatischen Durchbruch: die Seiten einigten sich auf die nächste Entflechtung von Kräften an drei Abschnitten, einen Gefangenenaustausch bis Ende des Jahres (nach dem Prinzip „alle festgestellten, gegen alle festgestellten“), die Eröffnung neuer [Grenz-]Kontrollpunkte und eine 24-stündige Arbeit der Beobachtermission der OSZE, die früher die Situation nur in der hellen Tageszeit überwachte und keine nächtlichen Verstöße des Ruheregimes feststellte. Doch wurden die apokalyptischen Prognosen nicht gerechtfertigt. Der Präsident trat die Souveränität nicht ab, tauschte sie nicht gegen das „billige“ russische Gas, vergaß nicht an die Krim zu erinnern, sagte in der Gegenwart von Putin, dass sie genauso wie der Donbass zur Ukraine gehört.
Mit einem Wort, er überschritt die „roten Linien“ nicht und nahm faktisch den Demonstranten die Argumente, die für alle Fälle vor der Bankowa [Sitz des Präsidenten, A.d.Ü.] wachten. Wenn man sich an etwas kritisch heftet, dann an die Implementierung der „Steinmeier-Formel“ und den Sonderstatus der ORDLO auf ständiger Basis, obgleich das noch ein Gegenstand weiterer Diskussionen ist. Auf dem gemeinsamen Briefing mit den „Normandie“-Kollegen verlautbarte Selenskyj klar richtige staatsmännische Botschaften: keine Föderalisierung des Landes, den Entwicklungsvektor bestimmt das ukrainische Volk, Kompromisse über territoriale Zugeständnisse sind nicht möglich. Der totale „Verrat“ wurde abgesagt, jedoch geht der Kampf weiter und es sollte nicht nachgelassen werden. Das Resümee der erreichten Vereinbarungen des Normandie-Quartetts wird in vier Monaten gezogen. Dann kann man auch sachlich ihren Erfolg bewerten.
11. Dezember 2019 // Serhij Schebelist
Quelle: Zaxid.net
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