70 Jahre Einsamkeit



Die Jahre 2014-2015 haben uns ein bemerkenswertes historisches Paradox geschenkt. Je näher der 70. Jahrestag des Sieges über Hitler rückt und um so fanatischer der Siegeskult im benachbarten Russland, um so lieber vergleicht man Russland mit dem nationalsozialistischen Deutschland und Präsident Putin mit dem besessenen Führer.

Die Parallelen liegen auf der Hand – in jedem Fall in der Außenpolitik. Hier haben Sie den Anschluss Österreichs und die Annexion der Sudenten und die demonstrativen Referenden und das Propagandakino über die Heimkehr der ureigenen deutschen Länder . Ja und diese Zeilen von Remarque, die der nationalsozialistischen Presse gewidmet waren, sehen völlig zeitgemäß aus: „Die Leitartikel der Zeitungen waren entsetzlich. Sie waren verlogen, blutrünstig und arrogant. Die Welt außerhalb Deutschlands erschien ihnen degeneriert, heimtückisch, dumm und zu nichts anderem nütze, als von Deutschland übernommen zu werden.“

Reicht das etwa nicht, um Wladimir Wladimirowitsch (Putin) zu den Hitlern unserer Tage zu zählen? Doch historische Analogien sind ein trügerisches Stück, auch wenn sie verlockend sind. Bevor man das Putin’sche Russland auf eine Ebene mit dem Dritten Reich stellt, muss man einen nicht unwichtigen Umstand berücksichtigen.

In den 1930ern und 1940ern war Adolf Hitler der hauptsächliche, doch bei weitem nicht der einzige Eroberer und Revanchist. Der System von Versailles und Washington stellte nicht alle zufrieden und jeder hatte sein eigenes „Die Krim ist unser“.

Beispielsweise hielt das faschistische Italien den gesamten Mittelmeerraum für „unseren“ (eben so „mare nostrum“), eroberte Abessinien, annektierte Albanien und drang in Griechenland ein.

Das militaristische Japan sandte seine höflichen Leute vor dem Machtantritt Hitlers in die Mandschurei und bombardierte Shanghai und ließ sich später auf alle schweren Sachen ein. Die UdSSR teilte mit den Nazis Polen auf, terrorisierte Finnland, annektierte das Baltikum, verleibte sich Bessarabien und die Bukowina ein. Die Satelliten Hitlers gaben sich mit den Krümeln vom Herrentisch zufrieden: Rumänien okkupierte das Land zwischen Dnjestr und dem Bug, Ungarn die Transkarpaten und die Vojvodina, Bulgarien Nordgriechenland und Mazedonien.

Sogar die unglücklichen Polen, die Opfer der Aggressoren wurden, nahmen kurz davor an der Aufteilung der Tschechoslowakei teil und besetzten das Olsagebiet. Die Besetzung fremden Territoriums wurde nicht als irgendwie empörend angesehen – jeder glaubte aufrichtig, dass er nur die historische Gerechtigkeit wiederherstellt.

Mit anderen Worten, Adolf Aloisowitsch (Hitler) war ein typisches Produkt seiner Epoche – der grausamste aus der Vielzahl großer und kleiner Raubtiere, der tobsüchtigstes Patient im Weltkrankenzimmer Nr. 6.

Dagegen ist Wladimir Wladimirowitsch (Putin) der einziger seiner Art. Er verharrt in stolzer Einsamkeit.

Niemand unterstützte sein ukrainisches Abenteuer, niemand schickt sich an, die Annexion der Krim anzuerkennen. Von der der Außenpolitik der Russischen Föderation haben sich sogar Lukaschenko und Nasarbajew vernünftigerweise distanziert.

Wahrscheinliche „Verbündete“, welche die russische Diplomatie auf der gesamten Welt sucht, verhalten sich im besten Fall neutral. Denn heute gibt es keinen ernsthaften Spieler, außer Moskau, der an der Zerstörung der entstandenen Weltordnung interessiert ist.

Wenn man Putin mit Hitler vergleicht, dann steht vor uns ein Führer, der 70 Jahre in Anabiose lag und nach dem Aufwachen entdeckte, dass auf der Welt etwas nicht wie gewohnt vorgeht.

Absolut mit niemandem kann man zusammenarbeiten! In der Nähe sind weder der alte Benito, noch Stalin mit Molotow, noch die kriegerischen Japaner, noch irgendein heruntergekommener Antonescu zu sehen, der von Großrumänien träumt.

Mehr noch gelang es bisher nicht einen wirklichen Chamberlain oder Daladier zu finden, die offiziell anerkennen, dass die Sude… oi, die Krim unsere ist. Niemand begreift, wie man tüchtig die politische Karte Europas ummodeln und sich fremdes Land einverleiben kann. Die gewöhnliche Annexion ruft bei ausländischen Führern eine absolut inadäquate Reaktion hervor.

Was, zur Hölle, ist mit der Weltpolitik passiert?!

Und es ist Folgendes passiert. Innerhalb von 70 Jahren, die seit dem Moment des Endes des Zweiten Weltkrieges vergingen, ist die Menschheit weit vorangeschritten. Sie hat von den eigenen Fehlern gelernt und hat sich weiter entwickelt. Sie ist weiser und humaner geworden.

Zivilisierte Leute haben sich davon überzeugt, dass die Annexion fremden Territoriums gefährlich und schädlich ist. Auf das internationale Recht spucken ist aussichtslos. Sich dem Aggressor anschließen in der Hoffnung sich an seiner Beute gesundzustoßen ist dumm. Grobe Gewalt zu schätzen und nicht Vorhersagbarkeit und Vertragsabschlussfähigkeit ist irrational.

Die Welt hat gelernt und sich geändert, doch Russland offensichtlich nicht. Es ist so oder so in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts steckengeblieben, in der Epoche von Onkel Adolf und der kämpfenden Großväter. Siebzig Jahre sind für die russische Gesellschaft folgenlos verstrichen, im Unterschied zu den übrigen Kriegsteilnehmern, hat unser Nachbar aus dem Gemetzel der Jahre 1939-1945 überhaupt keine Lehren gezogen. Der irrsinnigste Abschnitt des XX. Jahrhunderts wird als die prächtigste, würdigste, edelste Zeit angesehen.

Der halbreligiöse Kult um den Großen Sieg ist überhaupt nicht auf Trauer aufgebaut, sondern auf dem Rausch des gewesenen Ruhms. Von hier kommt das Rasseln mit den rostigen Waffen, die Bereitschaft die moderne Realität zu ignorieren und der Weltgemeinschaft zum Trotz den Gesetzen der 1940er nach zu leben.

Das heutige Russland ist nicht wegen der Panzer und der Raketenwerfer gefährlich, sondern wegen seines eigenartigen Archaismus, seinem Streben die Umwelt in die Vergangenheit zu stürzen. Es erinnert an den Neandertaler mit dem Knüppel, der in eine moderne Großstadt eindringt und die sorgenlosen Hipster angreift.

Doch was soll der arme Hipster tun, der mit dieser unerwarteten Bedrohung konfrontiert wurde? Wie den Ankömmling aus den finsteren Jahrhunderten besiegen? Man kann seine Rückständigkeit verspotten und sich etwas auf seine Fortschrittlichkeit einbilden, doch im Kampf mit den Neandertalern helfen iPhones und iPads nicht. Um dem ungebetenen Gas Widerstand entgegenzusetzen, muss man die zerbrechlichen Geräte beiseitelegen.

Man muss den zivilisierten Lack abstreifen und etwas schwereres in die Hand nehmen und mit dem aggressiven Einbrecher kämpfen. Dabei wird sich in der Hochzeit des Kampfes herausstellen, dass es zwischen den Kämpfenden keinerlei Unterschied gibt. Doch einen Unterschied gibt es: im Fall des Sieges kann der moderne Mensch zu seinen geliebten iPhones und iPads zurückkehren. Doch wenn der Neandertaler siegt, wird es im Umkreis nichts geben, außer das sein Herz erweichende Steinzeitalter.

Etwas derartiges findet auch in der ukrainischen Gesellschaft statt. Wie traurig es auch ist, die teuren Russen haben die Ukraine bereits dazu gezwungen, nach ihren Regeln zu spielen.

Gemeinsam mit Russland sind wir in die weite Vergangenheit abgetaucht.

Sie beschimpfen uns als „Faschisten“ – wir vergleichen ihren Präsidenten mit Hitler.

Sie wedeln mit den Georgsbändern – wir halten den russisch-ukrainischen Konflikt für einen Vaterländischen Krieg.

Sie nehmen Soldaten in deutscher Uniform aus dem Kauf – wir verbieten die kommunistische Symbolik.

Dabei lebt die Ukraine faktisch im sowjetischen Paradigma der 1940er Jahre: „Alles für die Front, alles für den Sieg!“, „Keinen Fußbreit der Heimaterde an den Feind!“, „Unsere Sache ist gerecht, deshalb siegen wir!“

Doch wenn es gelingt, den Ansturm des Kremls zurückzuschlagen, dann haben wir alle Chancen in das 21. Jahrhundert zurückzukehren. Doch falls der nördliche Nachbar triumphiert, dann wird es keine Rückkehr geben.

Denn Russland gefällt es wirklich, in der Vergangenheit zu leben. Denn in den 40ern war es cool.

Denn die Großväter haben gekämpft und in den 70 Jahren haben ihre stolzen Nachkommen nichts anderes gelernt.

7. Mai 2015 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1165

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