Anzugträger in den ukrainischen Gefängnissen
Gelegentlich kommt es vor, dass das Schicksal eines einzigen Menschen das Leben eines ganzen Landes überschattet. Kurzfristig. Doch nicht einmal die frappierendsten Ereignisse vermögen es, die Geschichte anzuhalten; die nichtige und langweilige Geschichte einer jeden Familie. Millionen von Menschen leben ihr Leben, denken über ihre Kinder und Krankheiten nach. Ich will nicht um den heißen Brei reden: Julia Timoschenko hat momentan keine guten Berater. Das Interesse an ihr wird bald versiegen. Das helle Schicksal, typisch für die Übergangszeit, den revolutionären Umbruch und der unausweichlich überschwänglichen Wirbel dieser Zeit, werden im Sande verlaufen. Zurück bleibt ein Mensch, der schon nicht mehr gebraucht wird und zermürbt ist von dem erloschenen Interesse an seiner Person. Der Rest wird Geschichte, findet sich im Wachsfigurenkabinett der ukrainischen Vergangenheit wieder. In dem, wie ich hoffe, dennoch nicht Julia Timoschenko zum Sieger in der Kategorie Destruktivität ernannt wird, sondern der graue und unproduktive Präsident Wiktor Juschtschenko. Aber mir geht es hier nicht um Politik. Nicht mal um den interpretativen Spielraum der Rechtssprechung, der sich im Fall Timoschenko besonders deutlich zeigte. Ich möchte über das Gefängniswesen schreiben, über unser ukrainisches Gefängniswesen, das wohl zum Thema Nr. 1 in den ukrainischen Massenmedien geworden ist. Das heißt im Grunde leider nur das eine Gefängnis, in dem Julia Timoschenko inhaftiert ist. Ein britischer Kollege von mir, der die Bilder des Timoschenko-Prozesses im Fernsehen verfolgte, sagte: Ein englischer Richter hätte mit der nötigen Strenge das beleidigende und nicht wertschätzende Verhalten einer solchen Prozessbeteiligten direkt beendet, wobei eine Haftstrafe in dem Fall die geringste Bestrafung gewesen wäre.
Vergleiche zu ziehen, ist nicht gut. Es nicht zu tun, ist mir allerdings nicht möglich. Es sind nur 20 Jahre, doch sie machen einen gewaltigen Unterschied aus. Mitunter wird die ukrainische Gefängnisrealität mit der amerikanischen, niederländischen und schwedischen verglichen. Ich möchte sie jedoch mit der Sowjetzeit vergleichen, da ich in der UdSSR gezwungenermaßen zum Experten in Sachen Gefängnis geworden bin. Es ist nicht gerade angenehm im Gefängnis zu sitzen, selbst, wenn es neue Sanitäranlagen und Duschkabinen gibt, einen Fernseher in der Zelle und einem Anwalt, der fast täglich vor Ort ist. Ich erinnere mich bestens an den Beginn der 90er Jahre: den Hunger in den Gefängnissen, die Aufstände der Insassen, deren gewaltvolle Niederschlagungen, die an Unverfrorenheit nicht zu übertreffenden so genannten „Autoritäten“, die die schwächeren Mitgefangenen in ihrer Gewalt hatten und in den Gefängnissen und Strafkolonien ihre eigenen „Gesetze“ aufstellten, welche hart und unerbittlich durchgesetzt wurden, ganz im Gegensatz zur Rechtsanwendung für den freilaufenden Teil der Bevölkerung in dem unsteten, dilettantischen ukrainischen Staatswesen. Ich erinnere mich an das Aufkommen von ethnischen kriminellen Gruppierungen, die in Nullkommanichts jeden verdeckten Agenten entlarvten, an den straffreien Waffenhandel, von Handfeuerwaffen bis zu Flugzeugen, Panzern und Raketen, der unmittelbar Millionen von Dollar und parlamentarische Immunität mit sich brachte. Und ich erinnere mich an die neuen privaten Versicherungsunternehmen und Sicherheitsfirmen, welche stahlharte und unerschrockene Muskelpakete ausbildeten, Mord auf Befehl durchführten und das organisierte Verbrechen unterstützten. Das war nicht nur auf der Krim und in Donezk so. Auch auf den Straßen von Kiew wüteten Schießereien und Explosionen. Das ukrainische Gefängniswesen war dabei nur „Geisel“, entrechtet, stumm und absolut uninteressant für die sich im Vergnügen der Unabhängigkeit badende neue ukrainische Regierung. Iwan Schtanko, damals Chef des Gefängnissystems, nahm sich all dieser schwerwiegenden Probleme an und kann viel über diese tragischen Zeiten in unseren Haftanstalten berichten. Damals schien es, als würde alles kurz vor dem Zusammenbruch stehen, das ganze Gefängniswesen. Er ist viele der Probleme angegangen und auch sein Nachfolger Wladimir Ljowotschkin – möge er in Frieden ruhen – hatte noch seine wahre Freude daran gehabt.
Die Jahre vergingen, der Staat und seine Strafanstalten haben sich gewandelt. Vom Gerichtswesen lässt sich leider nicht das Gleiche behaupten. Nach wie vor wird hier auf das beliebteste aller Mittel zurückgegriffen: den Freiheitsentzug. Sogar dann, wenn der Straffällige keine Gefahr darstellt und eine Inhaftierung eine sinnlose Verschwendung der ukrainischen Steuergelder bedeutet. Zweifelsohne ist das ukrainische Gefängniswesen „weicher“ geworden. Die Haftanstalten werden häufiger von Geistlichen besuchen und stehen unter Beobachtung gesellschaftlicher Organisationen. Sogar ukrainische Journalisten sind keine seltenen Gäste in diesen äußerst speziellen Einrichtungen. Dennoch will ich die Wahrheit nicht unterschlagen: Die Gefängnisse haben mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen, unter anderem wirklich schwerwiegenden. Die Korruption des Personals ist eines davon. Doch lassen Sie uns ernsthaft und aufrichtig diese Frage beleuchten: Sind die Gefängnisse der einzige Ort, an dem Korruption floriert? Eine rhetorische Frage. Hier einer der Gründe dafür: Diese nicht gerade süße Arbeit im Gefängnis mit den bei Weitem nicht tugendhaftesten Einwohnern des Landes wird mit 1.100 Hrywnja (rund 100 Euro) im Monat entlohnt. Genauso viel erhält ein Aufsichtsleiter. Und wie sieht es mit der Sterberate unter den Gefangenen aus? Diese ist zwangsläufig relativ hoch. Dem kann auch nicht vorgebeugt werden. Denn es sterben vor allem die unheilbar Kranken, die lange Gefängnisstrafen absitzen – zumeist nicht ihre erste – und die schon länger an Tuberkulose und HIV erkrankt sind, diejenigen, die übermäßig Alkoholersatzstoffe und Drogen konsumieren, wodurch die inneren Organe angegriffen sind. Menschen, die von Klein auf keine gesunde Lebensweise kennengelernt haben. Ja, diese vergessenen und von niemandem gebrauchten Menschen sterben im Gefängnis wie in normalen Krankenhäusern.
Schlagen Sie einmal die Zeitung „Novosti mediziny i farmazii“ („Neuheiten aus Medizin und Pharmazie“) auf. Dort wird mit einer Auflage von 55.000 Exemplaren auf meine persönliche Bitte hin regelmäßig eine Liste mit vakanten Stellen für Ärzte in Gefängnissen abgedruckt. Diese wird in der Hoffnung veröffentlicht, die Aufmerksamkeit der Ärzte auf den Medizinischen Dienst im Justizvollzug des Landes zu lenken. Aber keiner ist bereit dazu, nicht ein Arzt hat sich gemeldet, wollte in dem System arbeiten. Ob das schlecht ist? Richtig schlecht. Doch ist daran die Leitung des Medizinischen Dienstes im Justizvollzug schuld? Oder der Gesundheitsminister? In den letzten zwei Jahren ist in unseren Gefängnissen ein vorher nicht bekanntes Klientel aufgetaucht, die „Anzugträger“. Früher waren diese vornehmlich noch auf ihren Abgeordneten- oder Ministersesseln zu finden. Ich bin sicher, das ist ein gutes Zeichen, in jeder Hinsicht. Schon allein aus dem Grund, dass unsere Elite aus Politik und dem Verwaltungsapparat sich nun wohl aufmerksamer mit den Erfordernissen unserer Gefängnisse befassen wird. Nicht aus humanitären Gründen, sondern aus Eigennutz oder zum Schutz von Bekannten, denn man weiß ja nie… Der stellvertretende Justizminister, Jewgenij Kornijtschuk, zähle zu seinem Aufgabenbereich auch die Frage des Medizinischen Dienstes im Justizvollzug. Sogar im Kiewer Untersuchungsgefängnis war er nicht nur ein Mal gewesen – und zwar als Häftling. Er hatte sich sehr über die dortigen Bedingungen echauffiert, die ihm zuvor nicht bekannt gewesen waren. Auch Premierministerin Timoschenko hatte sich nicht eingehender mit diesem Problem beschäftigt gehabt. Sie hatte andere, wichtigere Sorgen, wie Gasgespräche oder die Vogelgrippenprophylaxe. Auch Innenminister Luzenko hatte für derartige Nichtigkeiten kein Interesse an den Tag gelegt. Nun wird sich einiges ändern. Das Schicksal der inhaftierten Elite hat ein helles Scheinwerferlicht auf viele (aber nicht alle!) Probleme des ukrainischen Gefängniswesens gerichtet. Hauptsächlich die gravierenden Probleme. Das Thema wird von der Öffentlichkeit sicherlich weiter beleuchtet werden und ehe man sich versieht tauchen Massageliegen in den Gefängnissen auf. Eine pro Zelle. Ein Privileg, von dem ich als sowjetischer Gefangener nicht mal zu träumen wagte.
27.01.2012 // Semjon Glusman, Arzt und Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Medizinischen Dienstes im Justizvollzug der Ukraine
Quelle: Lewyj Bereg