Arbeitet sie wirklich?
Die politischen Programme in der Ukraine sind keine besonders populäre Sache. Die Politiker sind sich sicher, dass die Menschen diese nicht lesen, das machen vielleicht nur noch Experten, Journalisten und die Vertreter der internationalen Organisationen. Deswegen schreibt man diese Programme blindlings, man formuliert eine Liste wenig verständlicher Deklarationen, ohne zu erklären, wie sie zu verwirklichen sind.
Aber während der letzten Parlamentswahlen hat Julija Tymoschenko versucht, diese Praxis zu ändern.
BJuT (Block Julija Tymoschenko) hat damals ein Wahlprogramm unter dem Namen „Ukrainischer Durchbruch“ präsentiert und Tymoschenko selbst bezeichnete es als Strategie für die Entwicklungs des Landes, während zahlreiche pompöse Bürgerdiskussionen rund um das Programm organisiert wurden. Ihre Mitstreiter verkündeten sogar bereits neue Politikansätze nach der Präsentation dieses Dokuments.
Genau dieses Programm liegt dem Programm der Regierungstätigkeit von Tymoschenko zu Grunde, das während einer Regierungsitzung verabschiedet wurde und einen noch lauteren Titel “Ukrainischer Durchbruch: für die Menschen und nicht für die Politiker” hatte.
Inzwischen, nachdem Tymoschenko der Regierung zwei Jahre lang vorsaß, erinnern sich sie und die Mitglieder ihrer Partei nicht mehr an den “Durchbruch”. Der Text des Programms wurde sogar von allen Internetressourcen von BJuT eliminiert. Das Regierungsprogramm ist wiederum auf der offiziellen Internetseite der Regierung präsent. Trotzdem ist kein Erfolg bei der Erfüllung der verkündeten Ziele zu sehen.Aber wenn “sie arbeitet” (das bezieht sich auf eine aktuelle Werbekampagne Julija Tymoschenkos), dann würde man gerne erfahren, – was sie macht?
Eine Sache ist es, allgemeinen Sachen zu deklarieren, wie z. B. “Krisenbehebung”, und eine andere Sache ist es – eigene konkrete Programmversprechen einzuhalten. Die Autoren haben versucht, das erste Kapitel des Regierungsprogramms zu analysieren, das “Zivilgesellschaft” heißt.
In diesem Kapitel hat Tymoschenko versprochen, einen Dialog zwischen der Staatsmacht, den NGOs und den Bürgern herzustellen, günstige Bedingungen für die Arbeit der Institutionen der Zivilgesellschaft zu schaffen; eine rechtzeitige und öffentliche Reaktion der Organe der Staatsmacht auf die Initiativen und Anfragen der Öffentlichkeit sicherzustellen, die Gesetzgebung über die NGOs in Übereinstimmung mit den europäischen Standards zu bringen.
Darüber, wie der „Dialog“ hergestellt wurde, kann man z. B. auf der Internetseite des Ministerkabinetts lesen, auf der in der letzten Zeit in einem vollkommenen Sowjetstil Mitteilungen über „tausende Telegramme“ zur Unterstützung der Handlungen von Tymoschenko und viele andere “Lobpreisungen” veröffentlicht werden. Aber in Wirklichkeit ist in diesem Kapitel die gegenwärtige Regierung ganz sicher nicht besser als die vorherige.
Lassen wir uns konkreter werden. In dem Dokument gibt es ganz konkrete Versprechen, eine Liste von Gesetzen zu verabschieden: “Über die Eintragung von Änderungen ins Gesetz über Bürgervereinigungen” (Vereinfachung und Vergünstigung des Verfahrens für die Gründung und Registrierung bürgerschaftlicher Organisationen); “Über Offenheit und Transparenz der Arbeit der staatlichen Behörden und der Organe der lokalen Selbstverwaltung” (neue Fassung).
Es betrifft ebenso die “Gesetze zu den sozialen Diensten” (neue Fassung – Reglementierung des Mechanismus und der Bedingungen für die Gewährleistung der Dienstleistungen der Non-Profit-Organisationen); “Über die Non-Profit-Organisationen”; “Über die öffentliche Kontrolle der Arbeit der staatlichen Behörden und der Organe der lokalen Selbstverwaltung”; “Über das Eintragen der Änderungen in das Gesetz über die wohltuende Tätigkeit und Organisationen” (die Vereinfachung und Vergünstigung des Verfahrens für die Registrierung der wohltätigen Organisationen, die Bestimmung der Besonderheiten des Rechtsstatus der Spendenfonds, der Stiftungen und der Einrichtungen, der Volontäre, Sponsoren und Spender).
Die Aufzählung ist nicht besonders lang, aber in dem Kapitel der Verwirklichung haben wir eine Null, sogar mehr, bei einigen Positionen beobachten wir ein Zurückrollen nach hinten.
So wurde am 14. Oktober 2009 von der Regierung das elektronische Register der öffentlichen Prüfungen aufgehoben. Das ist die einzige Datenbank der Regierungsseite, die die Informationen über die Beschlüsse der öffentlichen Organisationen betreffend der Arbeit der Staatsorgane und Beschlüsse der Staatsmacht bezüglich ihrer Berücksichtigung enthält.
Jetzt wird jede bürgerliche Initiative bezüglich der Beschlüsse der Staatsmacht noch mehr ignoriert.
Und besonders bezeichnend ist der Schicksal des ersten Gesetzentwurfs – der neuen Fassung des Gesetzes “Über die Vereine der Bürger”.
Man muss sagen, dass die Regierung es doch geschafft hat, den Entwurf beim Obersten Rat (Werchowna Rada) einzureichen. Er steckt da aber schon länger als ein Jahr lang. Apropos, er steckt auf der Ebene des Ausschusses für Rechtspolitik, den u. a. das Mitglied der Partei Tymoschenkos Sergej Mischtschenko leitet, der insbesondere daran interessiert sein sollte, das Partei- und Regierungsversprechen zu erfüllen.
Aber Herr Mischtschenko hat im Laufe des Jahres dieses Dokument nicht dem Ausschuss zur Prüfung vorgelegt.
Es stellt sich heraus, dass in dem Gesetzentwurf einige Punkte enthalten sind, die eine absolute Ablehnung eines Ausschussmitglieds – Olena Lukasch, Partei der Regionen – hervorgerufen haben, welche die Beibehaltung des Rechts von Ausländern und Personen ohne Staatsbürgerschaft auf die Gründung und Mitgliedschaft bei öffentlichen Organisationen als kritisch betrachtet.
Dabei entsprechen diese Normen und der Gesetzentwurf insgesamt den Empfehlungen von internationalen Institutionen, wie z. B. des Europarats, der UNO und der OSCE.
Aber da von der Anwesenheit der Frau Lukasch oft das Vorhandensein des Quorums bei den Ausschusssitzungen abhängt, zu dessen Mitgliedern solch „disziplinierte“ Abgeordnete wie Wiktor Janukowytsch, Petro Symonenko und andere zählen, die aber zu den Sitzungen dieses Ausschusses nicht gehen, hat sich der Ausschussvorsitzende nichts Besseres ausgedacht, als den Regierungsentwurf unter „dem Saum“ zu verstecken.
Und zwar hat er nach der letzten Sitzung des Komitees mitgeteilt, dass er den Entwurf überhaupt nicht zur Erörterung vorlegen wird.
Die Tatsache, dass das Reglement des Obersten Rates so einen Umgang mit den Dokumenten nicht vorsieht, war für ukrainische Gesetzgeber nie ein Argument. Darum ist das Dokument, an dem die Regierung und eine Menge der NGOs gearbeitet haben, das von den Experten der UNO getestet wurde, in den “Ruhestand” geraten.
Wir halten es für nötig, Sie daran zu erinnern, dass die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs nicht nur ein Versprechen von Tymoschenko ist. Das ist vor allem die Pflicht des Staates Ukraine. Im April 2008 wurde mit dem Beschluss des Europäischen Gerichts für Menschenrechte in der Sache “Korezkij und andere gegen die Ukraine” das gültige ukrainische Gesetz über die Vereine der Bürger als undemokratisch und festgestellt, das es die Konvention über den Schutz der Menschenrechte und der grundlegenden Freiheiten verletzt.
Laut Gesetz der Ukraine über die Umsetzung der Beschlüsse und die Anwendung der Praxis des Europäischen Gerichts für Menschenrechte ist die Umsetzung der Beschlüsse des Gerichts obligatorisch und sieht die Einführung der entsprechenden Änderungen zur geltenden Gesetzgebung voraus.
Aber dieser Grund, was die Notwendigkeit der Verabschiedung des Dokuments anbelangt, ist nicht der Hauptgrund, obwohl er ebenso ausschlaggebend ist. Der Hauptgrund, der insgesamt für die Gesetzgeber schwer zu begreifen ist, liegt darin, dass dieses Land das neue Gesetz einfach benötigt, weil man ohne dieses keine Entwicklung des dritten Sektors zu erhoffen hat.
Außerdem liegt der Wert der Ukraine laut der Rangliste der Weltbank letztes Jahr im Bereich “Beteiligung der Bürger und Rechenschaft der Regierung” bei 47%. Das ist der gleiche Rang wie bei Bolivien, Sambia, Mosambik…
In der Tat ist es nicht so, als ob die Normen der geltenden Gesetzgebung keine Entwicklungsmöglichkeiten gäben, sie sind in der Lage die Arbeit jeder real agierenden öffentlichen Organisation abzublocken.
Als Beispiel gilt in dem Gesetz die Norm, die sagt, dass eine öffentliche Organisation als Aufgabe der Statuten den Schutz der Rechte ausschließlich der Organisationsmitglieder haben kann. Das bedeutet, dass jede Organisation für den Umweltschutz, für den Schutz der Menschenrechte oder für den Widerstand gegen gesetzwidrige Bebauung alle zu ihren Mitgliedern machen muss oder sich Vollmachtsurkunden von denen ausstellen lassen muss, deren Rechte sie schützt. Auf andere Weise kann man nicht agieren.
Heute, um als gesamtukrainische Organisation zu gelten und nicht bloß innerhalb eines bestimmten Gebietes tätig zu sein, muss so eine Organisation ihre Vertretungen in den meisten Gebieten registrieren, d. h. sie muss sofort 14-15 Struktureinheiten und nicht weniger als 40 Gründer haben.
Und die Hilfe den Opfern der Überschwemmungen oder infolge der Explosionen kann nur durch die Organisationen geleistet werden, die auf dem Territorium eines entsprechenden Gebiets handeln können. D.h. für die in Kiew angemeldete Organisation kann die Wohltätigkeit in Transkarpatien richtig “teuer” werden.
Die Gesetzgebung schränkt die Rechte der Organisationen auf die Interessenvertretung ihrer Mitglieder bei Gericht ein, (Verordnung ВАСУ № 2 vom 6. März 2008). Diese Gesetzgebung beruht auf veralteten Normen des Gesetzes und macht es sinnlos, sich zur Wahrung gesetzlicher oder allgemeiner Rechte zu vereinigen.
Wesentlich ist auch das Recht auf die wirtschaftliche Tätigkeit eingeschränkt. Sogar um eigene Veröffentlichungen zu verkaufen, verlangt das Gesetz die Gründung eines Unternehmens. Es geht hier nicht um die Steuer, sondern um das Recht ein Vermögen auf Kosten eigener Tätigkeit zu bekommen, dabei reguliert das gültige Gesetz nicht einmal die Mitgliedschaftsbeiträge.
Es gibt noch einen Punkt, der schwer zu verstehen ist – die Verwendung des Namens des bürgerlichen Vereins für die Sache, die nicht in den Statutzielen verankert wurde, ist untersagt. (Artikel 12-1 des geltenden Gesetzes). De facto bedeutet das, dass die Journalisten sich erst erkundigen müssen, ob das Thema der Reportage zu der Statuttätigkeit der Organisation gehört, bevor man ihren Namen in seinem Artikel erwähnt.
Wenn eine öffentliche Organisation Mitglied einer internationalen Organisation (!) geworden ist oder ihre Tätigkeit auf das Territorium eines anderen Staates auf eine andere Weise erweitert hat, – wie z. B. wenn sie an einem Umweltmonitoring oder an einer Konferenz teilgenommen hat, – verpflichtet der Artikel 34 des gültigen Gesetzes sie zur Anmeldung innerhalb eines Monats als internationale Organisation und zur Bezahlung einer Anmeldegebühr in Höhe von 42,5 Griwna plus 250 US Dollar laut Währungskurs der NBU (Verordnung des Ministerkabinetts der Ukraine № 143/93).
Die Anmeldung der gesamtukrainischen und internationalen Organisation kann laut Gesetz 40 Tage dauern, und diese Fristen werden oft überschritten. Und die Strafe für jede Teilnahme an einer nicht angemeldeten Organisation oder an solcher, die eine Absage bei der Anmeldung bekommen hat, kann 130 nichtpfändbare Minimalsätze des Einkommens des Bürgers oder 2.210 Hrywnja betragen (Artikel 186-5 des Gesetzbuches der Ukraine über die administrative Rechtverletzung).
Zum Vergleich muss eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung innerhalb dreier Werktage angemeldet werden, und die Strafe für die Unternehmertätigkeit ohne Anmeldung beträgt bis zu 40 unpfändbare Minimalsätze des Bürgereinkommens (Artikel 164 5 des Gesetzbuches der Ukraine über die administrative Rechtverletzung).
So versuchen Sie gemäß diesem Dokument effektiv Ihr Verfassungsgrundrecht auf die Vereinigungsfreiheit zu vollziehen. Und Sie werden es verstehen, dass es heute viel komplizierter, mehr zeitraubend und teurer ist, eine öffentliche Organisation zu gründen, als ein Geschäftsunternehmen zu gründen.
Von uns selbst fügen wir bloß ein paar Thesen hinzu. Es stimmt, dass es heutzutage viele Probleme im Lande gibt, und sie können einem viel wichtiger vorkommen. Aber… Offensichtlich wurde der Bereich der Demokratie, der Zivilgesellschaft und der Meinungsfreiheit nicht zufällig als Kapitel 1 von den Autoren des Programms der Tymoschenko gewählt.
Sie verstanden die grundlegende Bedeutung dieser Bereiche für jede andere Reform im Land und wussten ganz gut, dass, wenn sie dieses Verständnis vorführen werden, sie ein positives Feedback von den Experten und der internationalen Gemeinschaft erhalten werden. Sie haben es aber nicht berücksichtigt, dass die meisten ukrainischen Politiker bis jetzt keine Ahnung davon haben, was es ist, wie es funktioniert und wozu man es braucht.
Und wie ist es mit Julija Tymoschenko, die so gerne in der Öffentlichkeit verschiedene Weise und Philosophen zitiert? Hier mögen wir Sie an ein Zitat von Konfuzius erinnern: “Der beste Bürger für einen Regenten ist derjenige, der ihn nicht betrügt und nicht in Ruhe lässt”.
Die ukrainischen Politiker sind der Weisheit von Konfuzius offensichtlich noch nicht gewachsen, und die Zivilgesellschaft, die sie nicht in Ruhe lässt, brauchen sie ganz sicher nicht…
22.10.2009 Wiktorija Sjumar (Institut für Masseninformation), Maxym Lazyba (Ukrainisches Zentrum für unabhängige Politikforschung)
Quelle: Ukrajinska Prawda