Blick in die Zukunft
Im Herbst des Jahres 1824 starb König Ludwig XVIII. und der Thron ging an seinen jüngeren Bruder und gesetzlichen Nachfolger Karl X. Es schien wie ein gewöhnliches Ereignis, doch in seine Gewöhnlichkeit war es bemerkenswert.
Es war der einzige friedliche, ruhige und problemlose Machtwechsel in der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Alle nachfolgenden Monarchen wurden erfolgreich gestürzt, und nicht einer der Präsidenten im Elysee-Palast blieb bis zum Ende seiner regulären Amtszeit – einer nahm seinen Abschied mit einem Skandal, ein anderer wurde von einem anarchistischen Dolch eingeholt, und wieder ein anderer erlitt einen Infarkt in den Armen einer Geliebten…
Allgemein war es ein lustiges Land, lustige Zeiten, lustige Gebräuche.
Die Ukraine des 21. Jahrhundert kann diese Leistung wiederholen. Im gegenwärtigen Jahrhundert überstand unser Land einen leisen und stillen Machtwechsel – mit den Präsidentschaftswahlen 2010. Und offensichtlich wird der nächste anders aussehen.
Die orangene Fünfjahresperiode assoziiert man oft mit politischer Instabilität. De facto ist das einzige, was die impotente ukrainische Demokratie ärmlich und mehr schlecht als recht zustande bekam, seine stabilisierende Funktion. Alle Widersprüche und Krisen, die Politik und Gesellschaft haben erbeben lassen, nahmen die Form harmloser Generalisten an, von Koalitionsgeschachere, vorzeitiger Wahlen und des Castings neuer Gesichter. Der Dampf entwich glücklicherweise aus der löchrigen Teekanne, ohne jemandem ernsthaften Schaden zuzufügen.
Die wahre Instabilität kam mit dem langersehnten „starken Arm“ in die Ukraine. In der inländischen Politik triumphiert ein neues Format: Der Sieger bekommt alles, dem Unterlegenen bleibt nur ein gemütliches Plätzchen auf der Pritsche.
Egal wie unser Verhältnis zu Julia Timoschenko aussieht, sie kam nicht wegen Amtsmissbrauch hinter Gitter, sondern weil sie die Macht verloren hat. Ihr Beispiel ist anderen eine Lehre. Nun wird man sich mit Händen, Füßen und Zähnen an der Macht festklammern. Der Preis für den obersten Platz ist stark gewachsen.
Und je nachdem, wie sehr der jetzige Hausherr sich nicht auf realen Beistand im Volk stützen kann, wartet auf uns viel interessantes.
Lev Nikolaiewitsch bestätigte, dass alle glücklichen Familien einander ähnlich sind, und jede unglückliche auf ihre eigene Art unglücklich ist. Das gleiche kann man auch über die Politik sagen. Alle glücklichen Demokratien sind nach einer Schablone zugeschnitten: Freie Wahlen, der Verlust unbeliebter Persönlichkeiten, der Sieg der Populären, der friedliche Übergang der regierenden Gruppen in die Opposition.
Die heutige Ukraine ist befreit von dieser widerlichen Eintönigkeit. Unsere unglückliche Zukunft hat mehrere Varianten, von der langjährigen Diktatur bis zum baldigen Aufstand und dem völligen Zusammenbruch des Systems.
Eine Menge von Politologen, Soziologen, Doktoren, Professoren, Journalisten und Autoren prognostizieren begeistert den in der Ferne liegenden Gang der Ereignisse. Irgendjemand erinnert sich an Hitlerdeutschland und Lukaschenko-Belarus, ein anderer studiert die Revolutionserfahrungen Ägyptens und Libyens. Die einen schreiben über ausländische Intrigen, andere über solche in der Umgebung des Präsidenten. All diese Ideen kann man analytisch auf vier Grundszenarien führen.
Finsternis am Ende des Tunnels: Eine permanente Regierung Janukowitsch.
Mit der Verwendung administrativer und anderer Ressourcen, durch Zensur und heimtückische Provokation wird der Alleinherrscher so lange die Ukraine regieren, wie er will. Man braucht nicht daran zu zweifeln, dass dieses pessimistisches Szenario mit den Wunschträumen Wiktor Fjodorowitschs zusammenfällt. Aber eines ist es, eine Sache zu wollen, eine andere, sie umzusetzen.
Normalerweise können langjährige Diktatoren Menschenmengen magnetisieren und eine Masse nach Belieben benutzen, wenigstens in den ersten Regierungsjahren. Doch Janukowitsch ist nicht Mubarak, nicht Gaddafi, nicht Putin, nicht Lukaschenko und erst recht nicht Timoschenko.
Was das Charisma angeht, ist er nur spärlich ausgestattet, und dass er die Vorräte an Volksvertrauen in einem Jahr mit geringfügiger, aber unablässiger Verschlechterung der ökonomischen Situation verlor, verschafft ihm auch keinen Vorteil. Es bleibt die große Frage, ob es gelingt, die wachsende Unbeliebtheit mit einer einfachen Drehung der Schraube zu kompensieren.
Die Unteren können nicht: Das Scheitern des Regimes infolge eines Volksaufstands
Die Realität im Lande zwingt zur Korrektur der berühmten Leninschen These. Die Ukrainer wollen schon lange nicht mehr auf die alte Weise leben, aber die passive Unzufriedenheit des Volkes bedroht das Land nicht mit Revolution. Die Bevölkerung geht auf die Straßen, wenn das Leben auf die alte Art unmöglich wird in Anbetracht des Verschwindens früherer Einkommensquellen.
Die trostlose wirtschaftliche Lage drängt die Spießbürger allmählich an die Wand. Die Volksproteste breiten sich aus, aber die ukrainische Opposition konnte sie bis jetzt nicht in die gewünschte Bahn lenken. Dafür gibt es den Verdacht, dass dies den Intriganten aus der Bankowaja (Sitz des Präsidenten – Anm. d. Ü.) gelang.
Übrigens sind die weiteren ökonomischen Missgeschicke fähig, einen echten Sturm hervorzurufen, den weder die Behörden noch deren Opponenten kontrollieren können.
Die Oberen wollen nicht: Die gute alte Palastumsturz
Seit 2004 bemüht sich Viktor Janukowitsch, eine das Interesse des Großkapitals darstellende Marionette abzugeben. Aber die letzten Ereignisse demonstrierten anschaulich, dass Präsident Janukowitsch persönliche Komplexe, Phobien und Launen des Präsidenten Janukowitsch ausdrückt.
Viktor Fjodorowitsch ist zu irrational, um ein Freund des Big Business zu sein. Zum Beispiel in der Angelegenheit Timoschenko, die einen völlig unnötigen Streit mit Europa nach sich gezogen hat.
Es ist absolut möglich, dass mit der Zeit der zurechnungsfähige Teil der Partei der Regionen den Versuch macht, sich von dem unberechenbaren Präsidenten zu befreien. Ein Komplott ist besonders wahrscheinlich im Falle des wirtschaftlichen Kollaps und der sozialen Explosion: Janukowitsch zur Seite schiebend kann die Wirtschaftselite auf ihn alles Negative abwälzen und frühere Positionen zurückgewinnen.
Sie haben lange Arme: Machtwechsel infolge einer Einmischung von außen
Die Liste anrüchiger Herrscher, gestürzt mit ausländischen guten Absichten, ist überaus lang – vom albanischen König Zogu I. und dem panamaischen Diktator Noriega bis hin zu Idi Amin, Pol Pot und Jean-Bédel Bokassa. Es ist nicht ausgeschlossen, dass äußere Kräfte eine Entfernung des störrischen und unbeliebten Janukowitschs wünschen und dabei seinen Gegnern die nötige materiell-technische Unterstützung zukommen lassen.
Ein ähnliches Szenario steht wunderbar in Übereinstimmung mit den traditionellen Ängsten des Ostens und Westens – „Der Arm Moskaus“ und die „Intrigen der CIA“. Und wenn die Situation in der Ukraine sich drastisch zuspitzen sollte, beginnen die inländischen Verschwörungstheoretiker sofort in Richtung des Kremls zu nicken.
Die aufgezählten Szenarien sind das Alpha und Omega des politischen Denkens in der Ukraine. Man wird sie auf solche und jene Weise zu Gesicht bekommen, in unterschiedlichen Variationen und Kombinationen. Im Endergebnis wird sich irgendjemandes Weissagung erfüllen. Nur welche?
Im Allgemeinen bemühen sich die Autoren aufgeregter Prognosen die Behörden zu warnen oder ihre Gegner zu mobilisieren. „Herrscher, besinnt euch!“, „Opposition, handelt endlich!“, „Gemeinschaft, sei bereit!“ – kluges analytisches Material wird überschüttet mit ähnlichen Botschaften. Doch praktische Erfahrung zeigt, dass die Regierenden niemals zur Vernunft kommt und ihre Gegner sich als sowieso als stumpfsinnig und hilflos erweisen. Auf diese Weise nähert sich der Wirkungsgrad der inländischen Hellseher der Nulllinie.
Es ist schwierig, das heutige ukrainische Unheil zu finden, wäre sie nicht in den idyllischen orangenen Zeiten vorhergesagt worden. Nüchterne Köpfe warnten, dass, wenn der soziale Populismus die Reformen verschlingt, es morgen nichts zu essen geben wird. Dass die Zerstörung des Rechtssystems die Voraussetzungen schafft für die Restauration des Autoritarismus. Dass die humanitäre Politik Viktor Andrejewitschs & Co. das Land nicht stabilisiert, sondern zerbricht. Eigentlich ging die Rede über völlig offensichtliche Tendenzen.
Haben denn die Mahnungen etwas verändert? Hat sich denn jemand auf den Petschersker Höhen Gedanken dazu gemacht? Leben wir denn heute nicht in einer bettelarmen, autoritären und gespaltenen Ukraine?
Unsere Landsleute, mit Macht ausgestattet oder nach ihr lechzend, sinnen nicht auf eine Veränderung ihrer Gewohnheiten. Solange es möglich ist, die unpassende Realität zu ignorieren, wird man sich auch vor ihr schützen. Solange man in einer komfortablen Illusion leben kann, wird man sie nicht verlassen. Mögen die scharfsinnigen Beobachter Überlegungen anstellen über den kommenden Tag, er wird die aktiven Spieler sowieso überraschend erwischen.
Im wesentlichen sind weise Prognosen in der Ukraine nur für die Vohersagenden selber nötig, die stolz auf ihren Weitblick sein können und tiefsinnig anmerken: „Man hat auf uns nicht gehört, wir haben es euch doch gesagt!“. Die Ehrenrolle Kassandras auf den Trümmern des Heimatlandes ist das wichtigste und meinetwegen auch das einzige Resultat fleißiger Zukunftsforschung.
11.11.2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda