Bombensicher: Wohin das Selenski-Team das Parlament führt


In der Partei „Diener des Volkes“ [Sluha narodu; russisch Sluga naroda, A.d.R.] ist man fest entschlossen, den Freiheiten der Abgeordneten in der Rada ein Ende zu setzen. Zusätzlich zu der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität will die Partei des Präsidenten den Katalog der Gründe, anhand derer ein Abgeordneter sein Mandat verlieren kann, erweitern sowie das Gesetzesinitiativrecht eines einzelnen Abgeordneten einschränken.

Die Website „Strana“ hat die möglichen Folgen davon auf den politischen Prozess in der Ukraine untersucht.

Alle Züge sind im Voraus festgelegt

Das Paket mit entsprechenden Gesetzentwürfen, so schreibt „Strana“, die während der Plenarsitzung der Rada am Dienstag angenommen wurden, enthielt die Gesetzesinitiative Nr. 1027 „Über die Änderung des Artikels 81 der Verfassung der Ukraine bezüglich der zusätzlichen Gründe für eine vorfristige Beendigung des Mandats eines Abgeordneten.“

Der Urheber dieses Gesetzentwurfs ist das Präsidialamt. Die Plenarsitzung hat es mit 279 Stimmen zu einer Prüfung an das Verfassungsgericht geschickt, wie es das Gesetz vorschreibt. Die überwiegende Mehrheit der Stimmen für den Gesetzentwurf kam von den „Dienern des Volkes“.

Der Gesetzentwurf sieht, unter anderem, einen Mandatsentzug für eine nicht personenbezogene Abstimmung vor, sollte ein Gericht diese Tatsache bestätigen. Auch kann eine Abwesenheit des Abgeordneten an einem Drittel der Plenarsitzungen ohne stichhaltige Gründe und/oder der Sitzungen seines Ausschusses im Parlament für die Dauer einer ordentlichen Tagung seinen Mandatsentzug zur Folge haben.

Ein ebenfalls neuer Grund für einen Mandatsentzug würde eine Ausreise des Parlamentariers in das Ausland zum ständigen Wohnsitz sein.

Als er den Gesetzentwurf am Rednerpult des Parlaments vorstellte, merkte das Fraktionsmitglied von “Diener des Volkes“ und der Sprecher des Präsidenten im Verfassungsgericht, Fjodor Wenislawski, an, dass ein Mandatsentzug auch demjenigen Abgeordneten droht, der sowohl in seinem eigenen Namen als auch anstelle eines anderen die Stimme abgibt und auch demjenigen, der seine Karte für die Abstimmung einfach für eine Verwendung durch Dritte freigibt. Der letztere Fall ist, wie auch der erstere, in der Rada nichts Außergewöhnliches und weit verbreitet.

„Wir sehen sehr häufig, dass auf dem Bildschirm bei den Abstimmungen 226 und mehr Stimmen gezählt werden, während im Plenum nur einige Dutzend der ukrainischen Volksvertreter sitzen. Ihre personenbezogenen Karten stimmen dabei, wie von selbst, aber mit Hilfe der anwesenden Abgeordneten ab. Genau dafür, um eine solche beschämende Praxis der Parlamentsarbeit in Zukunft unmöglich zu machen, hat Präsident Selenski einen Gesetzentwurf eingebracht, der vorsieht, dass ein ukrainischer Volksvertreter, der anstelle eines anderen ukrainischen Volksvertreters abstimmt oder die Möglichkeit geboten hat an seiner statt abzustimmen, sein Mandat verlieren kann, wenn die oberen Tatbestände durch eine gerichtliche Entscheidung juristisch bestätigt werden“, erklärt Wenislawski.

Weiter erklärte er die Einführung der Verantwortlichkeit für Abwesenheitszeiten mit dem Wunsch die Volksvertreter den normalen Bürgern des Landes anzugleichen.

„Wenn unsere Volksvertreter ihre Wähler repräsentieren sollen, die ihrerseits die eigene Arbeitsstelle für ein nur kurzweiliges unentschuldigtes Fehlen verlieren können, während die Abgeordneten selbst monatelang nicht im Parlament tätig sind, dann ist das eine Schande für solche Volksvertreter. Diese Praxis muss beendet werden“, deklariert Wenislawski weiter.

Im Gegenteil spricht der Politikwissenschaftler Ruslan Bortnik von einer Gelegenheit für die politische Spitze im Land ihre Macht zu missbrauchen.

„Den Kampf gegen die Schwänzer und Fremdabstimmer im Parlament kann man zwar als die Erfüllung eines Wahlversprechens verkaufen und im Vorfeld der nächsten Wahlen bringt so ein Zug Gewinne ein. Aber schauen Sie: die Abwesenheiten würden vom Verwaltungsapparat der Rada, oder gar eines konkreten Parlamentsausschusses, gezählt werden. Diese sind disziplinarisch dem Sprecher des Parlaments oder des jeweiligen Ausschusses unterstellt. In dieser Rada gehören die disziplinarischen Vorgesetzten alle der absoluten Mehrheitsfraktion an, die den Präsidenten unterstützt. Wird das neue Gesetz nicht zu einem Werkzeug der politischen Mehrheit im Parlament zusätzlich zu dem Spielraum, den sie durch die imperativen Mandate der Abgeordneten schon hat? Mit Reisen der Abgeordneten ins Ausland ist es auch nicht einfach. Folgt man der Logik des Gesetzentwurfs, dann müsste der Parlamentarier Onitschtschenko, ein fraktionsloser Abgeordneter der achten Legislaturperiode, sein Mandat verlieren, obwohl er selbst beteuerte, aus dem Land aus politischen Gründen ausgereist zu sein und nicht wegen eines Strafverfahrens, das gegen ihn eröffnet wurde. Nach der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität wird es einfacher sein die Parlamentarier zu verfolgen, sowie ihnen die Anstecknadel eines Abgeordneten bei der Flucht aus dem Land zu entziehen. Denn dafür würde man nicht mehr ein Gerichtsurteil brauchen, sondern eine schlichte Abstimmung in der Rada“, so kommentiert es der Politikwissenschaftler Bortnik der „Strana“.

Offensichtlich sind diese Verfassungsänderungen gegen solche Abgeordneten gerichtet, die das Land noch vor dem 1. Januar 2020 verlassen können, dem Tag, an dem sie ihre Abgeordnetenimmunität offiziell verlieren würden.

In einem solchen Fall würde ihnen auch sehr schnell ihr Mandat entzogen werden.

Allerdings gilt das Ganze nur vorbehaltlich der Abstimmung der Rada für die Änderung der Verfassung. Das wiederum würde aber nicht vor Februar geschehen; und auch nur dann, wenn das ukrainische Verfassungsgericht es schaffen würde noch vor dem neuen Jahr den Gesetzentwurf zu prüfen und freizugeben. Eine Verfassungsänderung muss nämlich in zwei Plenarsitzungen des Parlaments angenommen werden: bei der ersten Lesung reicht eine einfache Mehrheit aus, bei der zweiten und abschließenden Lesung muss die Verfassungsänderung mit mindestens 300 Stimmen der Parlamentarier angenommen werden. Dabei lassen sich die 300 Stimmen, wie wir sehen, noch nicht finden.

Das Parlament wird kollektiv umzingelt

Die Idee das Gesetzesinitiativrecht der Volksvertreter einzuschränken, spiegelt sich gleich in mehreren Gesetzentwürfen wider: Nr. 1043, 1042 und 1040. Wann genau diese im Parlament erörtert werden sollen, ist noch unbekannt.

Der letzte Gesetzentwurf spricht von der Einführung eines Gegenreaktionssystems auf „den Spam bei der Gesetzgebung.“

„Laut Angaben des Ukrainischen Wählerkomitees bringen die Abgeordneten der Rada fast 25-mal mehr Gesetzentwürfe jährlich ein, als die Parlamentarier in Großbritannien, 140-mal mehr als in Griechenland und 300-mal mehr als in Norwegen und der Schweiz. Allein sechs Volksvertreter brachten ungefähr 650 Gesetzentwürfe ein und kein einziger davon ist tatsächlich Gesetz geworden. Im Großen und Ganzen erlangten nur zwölf Prozent aller Gesetzentwürfe Gesetzeskraft. Auf diese Weise haben viele für das Leben unseres Landes wichtige Gesetzentwürfe einfach nicht mal die Chance ein Gesetz zu werden“, heißt es im Kommentar zum Gesetzentwurf Nr. 1040.

Deshalb wird vorgeschlagen das Gesetzes- und Verordnungsinitiativrecht nur auf Gruppen von Abgeordneten nicht kleiner als die kleinste Fraktion, die auf der ersten Plenarsitzung der neugewählten Rada registriert wird, einzuschränken. In der Rada der neunten Legislaturperiode ist es die Fraktion „Stimme“ [gemeint ist die Partei Holos des Rockbarden Swjatoslaw Wakartschuk, russisch Golos, A.d.R.] mit 17 Mitgliedern.

Die Meinungen bezüglich der Idee eines Mindestzahlkriteriums gehen dabei auseinander.

So hat die Abgeordnete der achten Legislaturperiode Anna Romanowa aus der Fraktion „Selbsthilfe“ [Samopomitsch war die Partei des Lwiwer Bürgermeisters Andrij Sadowyj, A.d.R.] auf ihrer Facebook-Seite das Problem des Überflusses von Gesetzentwürfen beschrieben, mit denen das Parlament überwältigt wird. „In der Rada der vorherigen Legislaturperiode wurden ungefähr 13.000 Gesetzentwürfe eingebracht… Unter ihnen gab es meiner Meinung nach nicht mehr als fünf Prozent an Gesetzen, die die Gesellschaft wirklich brauchen würde. Die übrigen behandelten Trivialitäten, wie ein Verbot von Schimpfwörtern, ein Verbot Kindern Namen mit einem geografischen Bezug zu geben, ein Verbot auf alle Wörter mit dem Wortstamm ‚RUS‘ oder eine Forderung das Vaterunser-Gebet vor dem Beginn einer jeden Plenarsitzung zu lesen… Auch wurde eine Erörterung von ernsthaft notwendigen Gesetzen nachgestellt, da belanglose Gesetzentwürfe zuerst erörtert wurden; solche z.B., in denen das Wort ‚Behinderter‘ durch ‚Person mit Behinderung‘ ersetzt werden sollte. Dabei hatten diese Gesetzentwürfe pathetische Namen wie ‚Gesetz über die staatliche Unterstützung von Personen mit Behinderungen.‘ Danach wurde in der Plenarsitzung und sogar in Anwesenheit eines Regierungsmitglieds einen halben Tag lang diskutiert, wie sich der Staat um die behinderten Menschen kümmern würde (zur Erinnerung: es ging hier nur um die Änderung eines Wortes im Gesetzestext). Dann wurde dieser Gesetzentwurf 20 Mal auf die Abstimmungsagenda gesetzt, da in der vorigen Tageshälfte, als er diskutiert wurde, all diejenigen Abgeordneten, die gleichzeitig Geschäftsleute sind, ihren eigenen Angelegenheiten fern des Parlaments nachgegangen waren. Schließlich, als mit Hilfe von Fremdabstimmern dieses Gesetz angenommen worden war, wurde laut applaudiert und geschrien ‚Sieg!‘ und ‚Ruhm der Ukraine!‘ Ein absurdes Theater“, kommentierte Romanowa das Ganze.

Ihr Kollege aus der achten Legislaturperiode Igor Popow, der ehemals das Ukrainische Wählerkomitee geleitet hat, hält dagegen das Problem des Spam bei der Gesetzgebung für übertrieben. Ein Großteil der belanglosen Gesetzentwürfe würde ohnehin schon in den Ausschüssen ausgesiebt werden. „Die Idee für eine einschränkende Maßnahme dieser Art ist schon alt. Sie wird kaum zu einer Effizienzsteigerung bei der Gesetzgebung führen. Der Großteil der Abgeordneten würde schon nach einer Woche über sozusagen Ocean’s Sixteen Friends verfügen, die den Gesetzentwurf ihres gleichgesinnten Kollegen unterstützen werden. Deshalb würde die Gesamtzahl der Gesetzentwürfe lediglich um fünf Prozent zurückgehen, während die Kritik über eine Einschränkung der Abgeordnetenrechte noch stärker zunehmen würde“, so kommentiert es Popow „Strana“.

Die Einschränkung auf mindestens notwendige 17 „Bajonette“ für das Einbringen eines Gesetzentwurfs wird auch für die Opposition gegen Selenski im Parlament kein Problem darstellen, da die Gesamtzahl der oppositionellen Abgeordneten die vereinbarte Mindestzahl der Abgeordnetenunterschriften für einen Gesetzentwurf übersteigt.

Solchen Abgeordneten der Fraktion „Diener des Volkes“, die einen Gesetzentwurf in eigenem Namen werden einbringen wollen, ohne diesen zuvor mit der Parteispitze in Einklang gebracht zu haben, würde diese Idee wohl wenig gefallen.

Wie „Strana“ schon geschrieben hat, hat sich gegen diese Idee auch der Volksvertreter Aleksander Dubinski öffentlich geäußert.

„Es handelt sich hier um eine Usurpation der gesetzgebenden Initiative durch Einflusskreise in der Rada. Wenn wir uns schon für diese Richtung entschieden haben, dann kann man das Parlament gleich auf 20 Personen verkleinern. Macht es denn überhaupt noch Sinn mehr Abgeordnete zu unterhalten?“, merkte Aleksander Dubinski an.

„Es beunruhigt auch, dass die regierungstragende Mehrheit in der Rada ihre Reformideen in Zusammenspiel mit dem Präsidialamt einbringt. Die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität, eine Einschränkung der Abgeordnetenrechte, die Verringerung der Zahl der Abgeordneten auf 300 und so weiter gehen Hand in Hand mit solchen Maßnahmen, wie die der direkten Unterstellung der Nationalgarde dem Präsidenten und seiner Nicht-Unterzeichnung des Gesetzes über vorübergehende Ermittlungsausschüsse der Rada, die im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens des Präsidenten notwendig wären. De facto vollzieht sich eine Verstärkung der Macht des Präsidenten mit einer gleichzeitigen Schwächung des Instituts des Parlaments. Und je weiter es so geht, umso stärker kann es zu einer Schieflage kommen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben“, so fasst es der Politikwissenschaftler Bortnik zusammen.

4. September 2019 // Denis Rafalski

Quelle: Strana

Übersetzer:   Leo Litke  — Wörter: 1697

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