Wir brauchen Zeit - Mit Aktion Sühnezeichen in Czernowitz
Die Ukraine empfängt uns laut – lange bevor wir an der Grenze sind. Männer und Frauen schreien durcheinander: Eine Familienkomödie läuft in Endlosschleife im Linienbus von Berlin nach Lviv. Wir sitzen direkt unter den Lautsprechern, sechzehn Freiwillige – bereit zur Sühne. Wir reisen in ein Land, das Väter und Großväter als Herrenmenschen überrollt haben.
Unser Ziel ist Czernowitz in der Bukowina, jetzt Ukraine, ehemals Sowjetunion, ehemals Rumänien, ehemals Königreich Galizien, Kronland Österreich-Ungarns, ehemals Russland, ehemals Osmanisches Reich, ehemals Fürstentum Moldau, ehemals Kiever Rus. Jede Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, Häuser, Menschen, Sprachen. Kultur und Barbarei. Wir kommen, um den jüdischen Friedhof von Czernowitz vom Dschungel zu befreien – eher einen winzigen Teil des Friedhofs. Angelegt im 19. Jahrhundert, ist er mit fünfzigtausend Gräbern einer der größten erhaltenen jüdischen Friedhöfe in Europa. Bis vor kurzem war er vollkommen überwuchert. Die Kinder der Vorfahren sind nicht mehr da, um die Gräber zu pflegen; sie wurden deportiert, ermordet, sind ausgewandert.
Setzen wir ein Zeichen der Sühne, wenn wir in der Hitze Wurzeln ausreißen und Weinranken mit der Sichel hacken oder bringen wir den normalen Friedhofsalltag durcheinander? Sollen wir das investierte Geld nicht eher der Friedhofsverwaltung überlassen, säubern sie vielleicht effektiver mit Kettensäge, Rasentrimmer und Chemie? Erscheint ein überwucherter Friedhof nicht schöner, verwunschener, ist der Verfall nicht der Lauf der Dinge? Und überhaupt: Ist es eine Anmaßung, Sühne zu wollen für etwas, was zu groß ist, um gesühnt zu werden? Es sind deutsche Hände mit deutschen Werkzeugen, die einen Weg zur Versöhnung graben wollen. Es sind deutsche Fragen, die nicht immer zu beantworten sind.
Am zweiten Tag kommt Paula aus den USA zu unserer Gruppe. Sie ist zum ersten Mal seit 65 Jahren in Czernowitz. Sie hat diesen Weg gewählt, um die schmerzhafte Reise in die Vergangenheit anzutreten: Gemeinsam mit den Deutschen auf dem jüdischen Friedhof arbeiten. Wir fällen Bäume, entfernen Ranken, Sträucher, arbeiten uns zu den Gräbern vor. Und wie wir die Grabsteine entblättern und Schriften zum Vorschein kommen, so werden Geschichten erinnert und erzählt. Von Brennnesseln zerkratzt und Mücken zerstochen, versuchen wir Reihen zu erkennen, abzuzählen, einen Weg zu bahnen auf der Suche nach dem Grabstein des Großvaters. Wir finden blanke Steine, die Schriften verwittert, die Gravuren wie weggewaschen vom Wind, von der Zeit; wie die Erinnerungen – schemenhaft. Was der Stein wirklich erzählen kann ist in ihm verschlossen. Was Paula erlebt und gesehen hat, ist in den Körper, in die Seele eingraviert und nicht sichtbar.
Es ist gut, dass wir Zeit haben. Paula hat angeboten ihre Geschichte zu erzählen. Sie spricht nicht zum ersten Mal über sich, sie war Lehrerin und ist aktiv im Breman Jewish Museum in Atlanta. Aber hier ist das anders. Hier sind wir in Czernowitz und wir sind Deutsche. Wir sind mitten in der Geschichte.
Kathrin Power