Den Clown bezwingen - Dabei kommt zwangsläufig die Frage auf: Bezwingen, damit was passiert?


Wenn es jemanden dazu treibt, in die patriotische Blase des ukrainischen Facebooks zu schauen, die Programme der oligarchischen Fernsehsender zu überprüfen und danach mit den Monstern der russischen Propaganda abzugleichen, so tut sich ein überraschender Gleichklang auf. Es schien so, als ob all diese Umgebungen sich nicht nur auf verschiedenen Seiten der Barrikade, sondern sogar auf unterschiedlichen Linien der Front befinden. Und doch gibt es das, was sie alle eint. Sie vereint alle ein beinahe pathologischer Hass auf den Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj.

Jeder von ihnen hat irgendeinen verborgenen Groll gegen den in der jüngeren Vergangenheit erfolgreichen Spötter, der auf wundersame Weise rechtmäßig an die Spitze des ukrainischen Staates gelangte. Diese Metamorphose des Hasses kann man lediglich mit Hilfe eines kurzen Überblicks auf die Etappen des Werdegangs des neuen Politikers und die Reaktionen auf ihn erklären. Das extrahierend, womit die ukrainischen Bürger in Angst versetzt wurden und als wer sich Selenskyj wirklich erwies.

Ich schicke gleich voraus, dass ich nicht die Absicht habe den amtierenden Präsidenten der Ukraine zu vertreten. Doch will ich ihn auch nicht höllisch „haten“. Bei der Aufdeckung dieses wichtigen Themas kann man auch die wahren Absichten der Spieler auf den inneren und äußeren politischen Feldern nicht vergessen. In Wirklichkeit begann alles mit dem Einfachen: Mir gefällt das Timbre der Stimme des Präsidentschaftskandidaten, das unvollkommene Ukrainisch, die fehlende politische Erfahrung, das provinzielle Niveau der theatralen Reprisen nicht. Das heißt alle Momente, die leicht überwunden werden können und im politischen Spiel keinerlei gewichtige Rolle haben sollten. Wenn der Sieg eines bekannten Spötters zur ernsthaften Bedrohung für die alten Eliten wird, dann wird alles und jeder hinzugezogen, vor keiner Methode oder Technik zurückgeschreckt.

Die Anhänger Petro Poroschenkos klammern sich an die pathetische hurrapatriotische Rhetorik, dabei nicht bemerkend, dass die Ukrainer ihrer real bereits überdrüssig sind. Sind sind müde von den patriotischen Reden und den fehlenden Änderungen zum Besseren.[Der Autor unterschlägt, dass Selenskyj genau aber dieses Verhalten Poroschenkos kopiert. A.d.Ü.]

Von der Zweitrangigkeit und Inaktualität der Losungen und Vorhaben, mit denen die Politiker der alten Fasson beinahe 30 Jahre ihre Bürger gefüttert haben. Als offensichtlich wurde, dass die Mehrzahl der Wähler zu riskieren und für einen populären Komiker zu stimmen bereit ist, wandten seine politischen Opponenten eine schmutzige polittechnologische Waffe an. Die wie eine Kopie, von den Putinisten abgeschrieben wurde. Was interessant ist. Russland hat bereits in dieser Etappe Poroschenko und der Oppositionsplattform für das Leben [im Parlament vertretener kremlnaher Wahlverein, A.d.Ü.]. Dabei sogar fast Selenskyj lobend und Poroschenko anbellend. Damit dem Lager Poroschenkos propagandistische Patronen zuwerfend, dank derer dieser ruhig seinen Gegner der politischen Sympathien zum Aggressorland beschuldigen konnte.

Der Wahlkampf des fünften Präsidenten baute darauf, dass Selenskyj der Kandidat Putins ist. Und wenn damals viele patriotisch eingestellte Ukrainer diese Information glauben konnten, sollte nach zweieinhalb Jahren Präsidentschaft Wolodymyr Selenskyj die Mehrzahl der Zweifel ausgeräumt sein. Ausgeräumt nur allein darüber, dass man sich leicht an die Vorwürfe und Anschuldigungen an die Adresse Selenskyjs vonseiten der politischen Opponenten erinnern und diese den umgesetzten Schritten gegenüberstellen kann.

Diejenigen, die nur ein wenig die Politik verfolgen, sollten sich an die Behauptung erinnern, dass Selenskyj für den höchsten Posten im Staat kandidiert, um die Ukraine sofort in die Knechtschaft Putins zu übergeben. Bereits im ersten Monat der Präsidentschaft Selenskyjs sollte Putin die Ukraine angreifen und dieser unverzüglich kapitulieren. Die politischen Gegner gründeten sogar speziell die „Widerstandsbewegung gegen die Kapitulation“, doch das half nicht. Nach der „Kapitulation“ sollten Hunderte Züge mit den wirklichen Patrioten nach Sibirien oder in irgendeine Uran-Mine geschickt werden. Keines der Länder des Westens sollte in einen Dialog mit dem „Clown“ treten und so die Ukraine in eine weltweite Isolation geraten.

Durch das fehlende Personal auf der oberen Führungsebene sollte ein Kollaps des Verwaltungssystems eintreten. An den Oligarchen Kolomojskyj sollten die „leckersten“ Branchen der ukrainischen Wirtschaft „verschleudert“ werden. Oder vor allem eine riesige Kompensation für die gestohlene PrivatBank [verstaatlichte größte Bank der Ukraine von Ihor Kolomojskyj und Hennadij Boholjubow, die angeblich bankrottgefährdet war, A.d.Ü.] erhalten, die verlustreiche [Fluggesellschaft] MAU an den Hals des ukrainischen Haushalts hängen und sich selbst [das noch staatliche Energieunternehmen] Zentrenerho sichern. Und Selenskyj sollte nur die Vorhaben der Oligarchen umsetzen. Und er sollte noch die ukrainischen Streitkräfte ruinieren, die ihm davor den Befehl verweigern sollten. Die Landeswährung Hrywnja ruinieren, eine irrsinnige Abwertung zulassend. Und anschließend die Staatsangestellten und Rentner in einen schrecklich armen Zustand bringen. Die ukrainische Kultur töten und die ukrainische Sprache zugrunde richten. Schlussendlich durch diesen „Clown“ sollte anstelle des Goldenen Zeitalters der Zeiten Poroschenkos eine wirkliche Ruine treten. [Mit Ruine ist analog zur russischen Smuta eine Zeit des Verfalls gemeint. Konkret wird die Zeit nach dem Tod von Hetman Bohdan Chmelnyzkyj 1657 damit bezeichnet. A.d.Ü.]

Welche dieser apokalyptischen Prognosen eingetreten ist, kann man jetzt mit Sicherheit sagen – nicht eine einzige. Obgleich es auch Anlass für Kritik gibt. Und eben die Verzögerung bei der Justizreform. Ohne Liquidierung der Richter-Mafia sind keine realen Änderungen und Reformen im Land möglich. Wenn man bei Gericht kein gerechtes Urteil erhalten, sich selbst und sein Eigentum verteidigen kann, dann kann man die Reformen vergessen. Und ausländische Investoren kommen nicht hierher. Obgleich man auch hier von den ersten wirklichen Bewegungen sprechen kann, die mit den Änderungen in den Strukturen verbunden sind, welche die Tugendhaftigkeit der Richter überwachen sollen. Die Verzögerungen bei den Reformen der Rechtspflegeorgane und des Geheimdienstes SBU konnte man noch irgendwie mit der Existenz ständiger Bedrohungen durch Verschwörer, Aufrührer und massenhafte Straßenproteste erklären. Doch der Minister, der die Hauptaufrührer kontrollierte, ist in die „Opposition“ gegangen, daher ist die Gefahr geringer geworden.[gemeint ist der Rücktritt des Langzeit-Innenministers Arsen Awakow im Juli, A.d.Ü.]

Doch jetzt, wo Russland und die Oligarchen im Inneren versuchen das Land von innen zu erschüttern, sind professionelle und reformierte Geheimdienste äußerst notwendig. Geheimdienste, in denen es keine feindlichen Agenten und Amtsträger gibt, die konkrete oligarchische Clans bedienen. Keine Abteilungsleiter, die offen für politische Projekte und ihre Sponsoren arbeiten. Die sich auf wundersame Weise zur Opposition gegenüber der Regierung Selenskyjs vereinigen. Tatsächlich ist eine Opposition keine Gruppe von Outsidern aus dem alten oligarchischen Clansystem, die um jeden Preis ihren Einfluss bewahren und an die Macht zurückkehren möchte. Eine Opposition sind politische Kräfte, die eine alternative Sicht auf die Entwicklung des Landes haben. Doch diese „Oppositionellen“ sind höchstens gegenüber dem gesunden Menschenverstand oppositionell. Ihr Hauptziel ist es, das alte Regierungssystem zurückzuholen und die Monopolmacht der Oligarchen zu bewahren.

Daran ist auch Russland äußerst interessiert. Denn wenn es der Ukraine gelingt sich aus den zähen Klauen der systematisch Korrupten zu befreien, dann wird das zu einem wundervollen Beispiel für die unfreien Bürger Russlands. Eben das eint das Putin’sche Russland, die Oligarchen Achmetow und Poroschenko gegen die Ukraine. Und daher sehen wir die Bande ehemaliger „Staatsmänner“, unterhalten von Achmetow und Poroschenko, die nicht aus den oligarchischen propagandistischen Sendern verschwinden. Jazenjuk, Hrojsman, Awakow und kleinere Agitatoren dafür, dass alles unrichtig ist, wenn sie nicht an die Regierung zurückkehren. Sozusagen, sind sie erfolgreiche Manager, die das Land aus der Krise geführt haben und dann kam der „Clown“ und hat alles zunichte gemacht.

Nur hat der „Clown“ das Bruttoinlandsprodukt des Landes spürbar erhöht, die Mindestlöhne und Renten angehoben, Straßen gebaut. Er erhöhte die Ausgaben im Sozialbereich, der Verteidigung und der Sicherheit. Begann den Krieg mit den Oligarchen. Baut die Ukraine in das neue internationale Sicherheitssystem ein. Findet verlässliche Verbündete und gibt nicht ein Stück der Interessen des ukrainischen Staates in einer Situation preis, in der Russland die Welt mit Drohungen über einen Einmarsch in die Ukraine zu erpressen versucht. Fand einen Ausweg aus der ausweglosen Schlinge, welche die Vorgängerregierung ihm um den Hals legte, indem sie die Minsker Vereinbarungen unterzeichnete. Änderte das Klima, als die ganze Welt von der „Ermüdung“ von der Ukraine redete.

Und nach all dem ist erneut die Losung von der „Opposition“ zu hören, dass der Clown bezwungen werden soll.

In diesem Fall kommt zwangsläufig die Frage auf: Den Clown besiegen, damit was passiert? Was gibt ein Sieg der „Opposition“ über Selenskyj der Ukraine? Wo ist eine Verbesserung der Situation zu erwarten? Worin besteht der Durchbruch? Es ist ebenfalls klar, dass ein „Überwinden“ mit gesetzlichen, demokratischen Methoden nicht gelingen wird. Denn die „Opposition” hat keinen würdigen Kandidaten für den Posten des Staatsoberhaupts, für den eine Mehrheit der Bürger stimmen würde. Dagegen versuchen sie alle mit ihrer massierten Kritik die Umfragewerte von Selenskyj zu drücken. Zum Teil gelingt ihnen das sogar. Doch wofür und für wen? Sollen sie kein Geheimnis darum machen und sagen, für wen sie den Weg zur Präsidentschaft ebenen? Wer ist dieser beste Kandidat? Poroschenko, Jazenjuk, Hrojsman, Awakow oder Bojko? Hört Ihr Euch selbst überhaupt zu?

Bleibt noch eine weitere wichtige Frage, warum Selenskyj in der letzten Zeit erneut sehr populistisch klingt? Die Rede geht davon, dass er, keine eigenen Medien habend [Selenskyj ist sehr präsent bei Kolomojskyjs 1+1 und dem Regierungssender Dom, A.d.Ü.], ohne Unterstützung der patriotischen Szene, der verschiedenen „Gewissen der Nation“ und der sogenannten Meinungsführer für Geld [das Präsidentenbüro kauft sich massiv sogenannte Meinungsführer ein, A.d.Ü.], nur an die Menschen appellieren kann. An diejenigen, die ihn gewählt haben und Veränderungen erwarten. Liberale Kritiker, die sich über das Pathos in den Reden von Präsident Selenskyj und die verlautbarten positiven Dinge in seiner Arbeit in den vergangenen zweieinhalb Jahren aufregen, müssen begreifen, dass er den Leuten Hoffnung geben muss. Dass der Präsident ebenfalls ein Mensch ist, der Unterstützung braucht und daher über das Erreichte redet und damit seine näheren Pläne und Veränderungen signalisiert. Damit versucht er, dafür so viele wie möglich Bürger zu mobilisieren.

Dieser Artikel ruft überhaupt nicht dazu auf, Präsident Selenskyj nicht zu kritisieren. Es gibt Dinge, für die man ihn kritisieren kann. Es gibt jedoch noch mehr, worauf man ihn hinweisen kann. Doch Versuche und Bestrebungen ihn zu überwinden und zu besiegen, das Land zu erschüttern und dessen internationalen Status zu vernichten sind Verbrechen gegen den Staat. [mit der gleichen Argumentation ging damals die Poroschenko-Argumentation gegen jeden Protest vor, A.d.Ü.]

3. Dezember 2021 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1670

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.