Dezemberthesen vor dem Unternehmertreffen


Das scheidende Jahr kann mit Recht als Jahr der nicht erfüllten Hoffnungen bezeichnet werden.

Ja, wir haben fraglos Errungenschaften. Die Hauptsache ist, dass wir nicht aufgegeben haben. Das Volk und das Land haben standgehalten, ungeacht der schweren Prüfungen.

Es lohnt sich ebenfalls die Reform des Innenministeriums und die Einführung der Patrouillen—Polizei in einigen Städten hervorzuheben. Das ist der einzige für alle sichtbare Beweis der im Lande vor sich gehenden Reformen.

Gleichzeitig befinden sich auf der anderen Seite in der Wagschale der Verfall der Landeswährung, der Fall der Industrieproduktion, die Verarmung der Bevölkerung und der nicht endende bewaffnete Konflikt im Donbass. 

Die von mir beschriebenen Erscheinungen sind heute nicht nur für jeden Ukrainer sichtbar und bedürfen keiner Beweise. Es versteht sich, dass die periodisch auftretenden Faustkämpfe im Parlament, der gezielte Wurf von Glasbehältern von Staatsbediensteten aufeinander, die Basarränkespiele unter den Machthabenden zwar etwas das traurige Bild unserer Politik etwas verwässern, doch keinen Optimismus einflößen.

Leider steht heute, wie auch vor zwölf Monaten, vor der Ukraine die Frage von Leben und Tod unseres Staates. Es muss das Leben gewählt und für die Ukraine gekämpft werden.

Ich führe einige Grundprobleme an, vor denen heute das Land steht.

Der fortgesetzte Krieg

Die Hoffnungen auf ein schnelles Ende des Krieges im Donbass haben sich nicht erfüllt. Mehr noch entschloss sich die Staatsmacht weiterhin nicht den Krieg als Krieg zu bezeichnen. Heute haben wir einen eingefrorenen Konflikt mit einer unklaren, doch offensichtlich mehrjährigen Perspektive bis zu einer friedlichen Beilegung.

Man muss sich daran erinnern, dass Kriege derjenige gewinnt, der die stärkere Wirtschaft hat und der mehr Waren und diese billiger herstellt. Daher wird eine beständig wachsende Wirtschaft zum einzigen Unterpfand unseres Sieges in diesem langen Konflikt.

Zu unserer besten Waffe wird ein sich änderndes Land, in dem Straßen, Schulen, Krankenhäuser gebaut werden, neue Firmen aufmachen und man an die eigene Zukunft glaubt.

Okkupation

Die Krim ist von Russland annektiert. Die im Donbass okkupierten Territorien erlangen beständig die Umrisse einer Staatlichkeit. Bereits seit einem Jahr leben sie nach Moskauer Zeit. Die Mehrzahl der Verrechnungen erfolgt dort in russischen Rubel. Die Kinder werden nach russischen Lehrbüchern unterrichtet. Vom neuen Jahr an beabsichtigen sie bei sich eigene Autokennzeichnen mit nicht ukrainischem Design einzuführen.

Die lokale Bevölkerung befindet sich von der Sache her als Geiseln bei dem bis an die Zähne bewaffneten Aggressor. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit werden in den Quasirepubliken mit inadäquater ungestrafter Gewalt bestraft, bis hin zu Mord.

Der okkupierte Donbass ist heute die zerstörerischste Waffe des Kreml im hybriden Krieg gegen die Ukraine. Denn die ökonomische, humanitäre und sogar die epidemiologische Situation in den okkupierten Territorien stellen heute ein Risiko für die Sicherheit des Landes dar, vor dem man sich durch keinerlei Mauern abgrenzen kann.

Der Regierung fehlt es an irgendeiner Strategie der Reintegration der okkupierten und annektierten Territorien. Das wurde besonders am Beispiel der Blockade der Krim bemerkbar.

Als zivile Kampagne der Krimtataren beginnend, legte die Blockade hinreichend schnell einen Fragenkomplex offen, auf den die Regierung unbedingt Antworten geben muss.

Beispielsweise inwieweit wir souverän in Fragen der Energieversorgung sind und ob wir eine russische Gasblockade vor dem Hintergrund unserer Energieblockade der Krim aushalten können? Inwieweit sollten wir überhaupt frei im Handel mit dem Aggressorland sein, das zugleich einer unserer größten Handelspartner war? Wie moralisch ist es die Bewegungsfreiheit der Menschen über die Kontaktlinie einzuschränken?

Die Regierung hat keine Antworten auf diese Fragen.

Für die Ukraine ist eine Strategie in Bezug auf die Krim und den Donbass lebensnotwendig. Diese Strategie muss unbedingt öffentlich ausgearbeitet werden und für ihre Verwirklichung muss unbedingt ein gesondertes Exekutivorgan geschaffen werden.

Krise im Staatsmanagement

Das gesamte System der staatlichen Lenkung ist von der Sache selbst her destruktiv. Der Stempel des „Schufts“ und „Diebes“ klebt heute praktisch an jedem öffentlichen Politiker im Lande.

Korruptionsvorwürfe sind schon derartig langweilig geworden, dass sie irgendwie bereits alltäglich und sprichwörtlich erscheinen. Und sogar das Erscheinen neuer anständiger patriotischer Leute an der Macht endet in der Regel mit ihrem Fortgang aus dem System.

Die Ursprünge der Lenkungsprobleme liegen nicht nur in der sowjetischen Vergangenheit.

Das Problem liegt darin, dass jedes neue Regime, das in der Ukraine an die Macht gelangt, die Verfassung und die grundlegenden Gesetzbücher „auf sich selbst“ umschrieb. Tatsächlich nicht für die Schaffung von Bedingungen für die Staatsentwicklung umschrieb, sondern dafür, um die Macht zu wahren und den persönlichen Reichtum zu mehren.

Zur Kehrseite dieses Prozesses wurde das massenhafte Verhalten gegenüber den Gesetzen als Konventionen und nicht als Voraussetzungen. Heute erscheint diese Beziehung als unverzichtbarer und schändlicher Teil unserer politischen Kultur.

In einer solchen Situation ist die Durchführung von Reformen sinnlos und unmöglich. Reformen münden in Sabotage vor Ort und gehen im Malstrom der ukrainischen Gesetze unter. Ein anderer Grund für die Verlangsamung der Reformen ist der ständige Kampf und die fehlende Einheit zwischen Parlament, Ministerkabinett und Präsidialadministration. Für die Wahrung der Umfragewerte zieht jedes Ressort in diesem Spiel die Decke zu sich hinüber und im Ergebnis enden die Reformen damit, dass sie nicht begonnen haben.

Das Problem liegt darin, dass es von wirtschaftlichem Vorteil ist, Politiker in der Ukraine zu sein. Die Politik wird weiterhin von der Mehrzahl der Spieler als Verdienstmittel angesehen und nicht als Dienst für die Interessen des eigenen Volkes.

Ideologisch und von Werten motivierte Staatsbedienstete, die an die Macht gelangten, konnten nicht zu einer kritischen Masse werden und den Widerstand der Armee der Korrupten, Heuchler und Imitatoren nicht überwinden.

Und wenn sich das Land im Aufwärtstrend erlauben konnte die Korruption zu „ertragen“, so ist vor dem Hintergrund des Krieges das Verdienen von Geld in der Regierung gleichbedeutend mit Plünderung.

Zusammenbruch der Wirtschaft

Im vorherigen Leben war ich Unternehmer. Für mich ist offensichtlich, dass für jedes Unternehmen die hauptsächliche und grundlegende Bedingung seiner Entwicklung das Vorliegen eines ökonomischen Modells ist. Ohne die Aufstellung von Zielen und einen Begriff von den Mitteln zu ihrer Erreichung erscheint jede Handlung als sinnlos.

Heute ist offensichtlich, dass die Regierung kein reales Wirtschaftsmodell für das Land hat.

Krieg und Rezession haben gezeigt, dass die Wirtschaft, die auf dem sowjetischen Erbe und der Dominanz der Schwerindustrie errichtet wurde, verletzbar und ineffektiv ist. Besonders unter der Bedingung des Falls der Weltmarkpreise für Erdöl und ihnen folgend der Nachfrage nach der Hauptware des ukrainischen Exports – Metall.

Die Situation retten, kann nur die Binnennachfrage. Heute ist die Nachfrage nicht so sehr durch die schlechte Konjunktur paralysiert, sondern mehr durch die ungehemmte Korruption und den unangemessenen Druck des Staates auf die Wirtschaft.

Das existierende Modell muss unbedingt geändert werden. Diesen Prozess darf man nicht auf endlose Debatten über die Rolle des Staates in der Wirtschaft reduzieren. Die Entscheidungen sind offensichtlich und bereits in der Praxis bewiesen: den Unternehmern muss unbedingt die totale Freiheit in ihren Handlungen gegeben werden, einzige Beschränkung wird das Strafgesetzbuch.

Zugleich brauchen die Industrie und die Industrieregionen Hilfe vonseiten des Staates über eine finanzielle Gesundung, Staatsaufträge und eine Lobbyierung des Exports. Die Frage mündet alleinig in einem Subjekt für die Veränderungen – einem Organ, das die Reformen gewährleisten und diese unumkehrbar macht.

Die Einheit des Landes

Zwei Jahre in Folge werden die Bildschirme aller Fernsehsender von dem Schriftzug „Einiges Land“ geziert. Von den Tatsachen her wird das Land von inneren Widersprüchen zerrissen. Ukrainer werden auf Ukrainer gleichzeitig in mehreren Richtungen gehetzt. Der Westen gegen den Osten, Arme gegen Reiche, Starke gegen Schwache.

Diese Situation nützt den Okkupanten und dem Teil der einheimischen Politiker, für den eine Spaltung des Landes die einzige Möglichkeit ist, bei den nächsten Wahlen zu siegen. Die Fortsetzung dieser Beziehung zum eigenen Volk vor dem Hintergrund des unbeendeten Krieges ist mindestens verbrecherisch.

Immer öfters höre ich in meiner Umgebung, dass die Ukraine der Titanic ähnlicher wurde und die Katastrophe vorbestimmt sei. Ich höre es in Mariupol, Kiew, in Lwiw. In Küchen, auf den Straßen in den Arbeitszimmern. An derartige Einschätzungen und eine solche Stimmung kann ich mich seit den 1990er Jahren nicht erinnern.

Jemand der Großen sagte einst, dass ein Politiker an die nächsten Wahlen denkt und ein Staatsmann an zukünftige Generationen. Heute gibt es bei uns zu viele Politiker und fast gar keine Staatsmänner. Die gute Neuigkeit besteht darin, dass jeder ukrainische Staatsbedienstete das Recht hat, seine Wahl zu treffen – Politiker bleiben oder zu einem Staatsmann zu werden.

Unter den vorliegenden Bedingungen müssen die Gruppen Initiative zeigen, die vorher nicht danach strebten an der Politik teilzunehmen. Ich meine meine Kollegen – die Unternehmer.

Zum ersten Mal versammelten wir uns im Sommer dieses Jahres – mehr als 20 Vertreter des einheimischen großen und mittleren Business, Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Epochen – für die Diskussion der Vorgänge im Lande. Von der Zeit an setzten wir die Kommunikation fort, Ergebnis dessen wurde die oben angeführte Analyse.

Ein weiteres Merkmal der Zeit ist die Krise der positiven Programme. Nur Faule bieten heute der Regierung nicht ihre Sicht der Reformen an. Doch bislang bleiben die Reformen ein „Spiel auf ein Tor“. Reale Rückmeldungen gibt es von der Regierung nicht.

Doch das bedeutet nicht, dass man die Hände in den Schoss fallen lassen sollte. Das Interesse der Ukrainer, das Interesse der Unternehmer, das Interesse der Politiker besteht darin, dass unser Land erfolgreich wird. Für das Erreichen dieses Erfolges wird bald ein konkreter schrittweiser Plan für die Stabilisierung und Entwicklung des Landes präsentiert.

19. Dezember 2015 // Sergej Taruta, Parlamentsabgeordneter mit Direktmandat aus Mariupol

Quelle: Kolumnen in der Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1536

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