Das Dorf und seine Leute: Wie das ukrainische Dorf stirbt



Seit der Unabhängigkeit ging die ländliche Bevölkerung in der Ukraine um 2,5 Millionen Personen zurück. Knapp 350 Dörfer verschwanden komplett. Diese Daten gab Ministerpräsident Wolodymyr Hrojsman vor Kurzem bekannt. Leider liefern die demografischen Entwicklungen dafür nur teilweise eine Erklärung. Zu einem Großteil ist dieser Bevölkerungsrückgang eine direkte Folge des sozialen, ökonomischen und kulturellen Verfalls im ukrainischen Dorf.

Kein Wunder, dass jeder, der kann, vom Land flüchtet und den Dortgebliebenen nichts anderes bleibt, als unter schlechten Bedingungen zu existieren. Das Ausmaß des Problems ist alles andere als klein – laut der letzten Volkszählung leben 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung auf dem Land, das sind 14 Millionen Menschen. Sterbende und verfallende Dörfer gibt es dabei überall – vom Donbass bis nach Galizien, von Polessien bis ans Schwarze Meer.

Das Erbe der Bolschewiken

Die heutigen Probleme des ukrainischen Dorfes haben ihre Wurzeln in der Zeit des Bolschewismus. Entkulakisierung, Kollektivierung und Holodomor waren eine Katastrophe für das Dorf als solches. Die Bolschewiken zerstörten die Grundlagen des bäuerlichen Lebens, von den Millionen ermordeten Bauern ganz zu schweigen. Eine totalitäre Disziplin löste die natürliche, bäuerliche Solidarität ab, der Fünfjahresplan die kleine Subsistenzwirtschaft. Die traditionellen Regeln wurden dabei nicht einfach abgeschafft – ihre „Träger“ wurden vernichtet oder in die Verbannung geschickt.

Außerdem wurde für die Bauern wieder eine Art Leibeigenschaft eingeführt, die bis Mitte der 1970er andauerte, als man endlich begann, den Kolchose-Arbeitern Pässe auszustellen. Die Bauern lebten aber auch dann noch wie Menschen zweiter Klasse: man bezahlte ihnen viel niedrigere Gehälter und Renten und begrenzte ihren Zugang zu höherer Bildung. Auch die materielle Versorgung war schlechter. Die Bewohner der Luhansker Agrarregionen fuhren beispielsweise zum „Shopping“ in die nächstgelegenen Industriezentren, weil das Warensortiment bei ihnen einfach jämmerlich war.

Daraus entstanden die Bedingungen für den darauffolgenden Exodus aus dem Dorf. Sobald sich die Gelegenheit ergab, in die Stadt zu gehen, flohen die Begabtesten und Stärksten soweit wie möglich vom heimatlichen Hof. Alleine deshalb, weil dieser Hof ihre Perspektiven einschränkte. Die Geflüchteten vergaßen schnell ihre „ländliche“ Sprache, die ihre Zugehörigkeit zu einer unter den Sowjetbürgern benachteiligten Schicht verraten hätte. Und gemeinsam mit der Sprache, gingen die Bräuche verloren, von denen die Bauern einen Teil in den Zeiten des stalinistischen Terror erhalten konnten.

Als die Sowjetunion zerfiel, ging auch die Planwirtschaft zugrunde. Gemeinsam mit den Kolchosen ist die Infrastruktur verfallen. In vielen Ortschaften waren nicht einmal die Verkehrsverbindungen ökonomisch zu rechtfertigen. In den Dörfern wurden sehr schnell nicht nur Unternehmen, sondern auch Schulen, Bibliotheken, Vereine, Geschäfte und andere, für das Leben wichtige Infrastruktur geschlossen. Und dann begann der eigentliche Exodus aus dem Dorf. Man rannte nicht mehr nur den Perspektiven hinterher, sondern war auf der Suche nach den elementarsten Existenzbedingungen.

Eine entfremdete Zone

Heute ist das ukrainische Dorf eine fremd gewordene Zone, die mit dem Dorf in den Ukrainisch-Lehrbüchern wenig zu tun hat. Dampfbeerenstrauch (Kalyna), Ziehbrunnen und anderer folkloristischer Fetisch sind nur süße Details vor dem Hintergrund eines furchtbaren Verfalls. Das Hauptcharakteristikum des ukrainischen Dorfes ist die Armut. Um keine Spekulationen um einen Zusammenhang mit dem Krieg aufkommen zu lassen, schauen wir uns die Zahlen aus dem Jahr 2013 an.

43 Prozent der ländlichen Bevölkerung mussten 60 Prozent ihres monatlichen Einkommens für Essen ausgeben. Man kann sie also als arm bezeichnen. Zum Vergleich: der Anteil solcher Menschen beträgt in kleinen Städten 38 Prozent und in großen 29,5 Prozent. Hinzukommt, dass die Nahrungsmittelqualität eines Dorfbewohners weit unter dem Standard liegt. Entgegen der Stereotype von Stadtbewohnern, haben Dorfbewohner nicht unbegrenzt Fleisch, Fisch, Milch und Obst zur Verfügung und ersetzen diese Dinge mit Kartoffeln, Gemüse und anderem Grünzeug aus eigenem Anbau.

Auch das Einkommen in den Dörfern ist um vieles niedriger, als in den Städten. Tauschhandel und Subsistenzwirtschaft sind längst wieder zurück. Regelmäßige Einkünfte stellen zwar Renten und Pachteinnahmen dar. Dieses Geld geht aber oft für Gasrechnungen, Medikamente und Haushaltsbedarf drauf. Kleidung, medizinische Dienstleistungen, Bildung und Freizeit sind für die Mehrheit der Dorfbewohner einfach nicht drin.

Die Möglichkeiten der Dorfbewohner sind derart eingeschränkt, dass man im Dorf wie in einem anderen Jahrhundert lebt. 2013 hatte fast 46 Prozent keinen Zugang zu einem Friseur, zu einer chemischen Reinigung, zu Reparaturservices, oder ähnlichem. Ein Drittel der Dorfbewohner hatte Schwierigkeiten, einen Arzt oder eine Apotheke zu erreichen, und 42 Prozent beschwerten sich über eine fehlende Versorgung mit Rettungsdiensten. An Kinos, Theater, Konzertsäle, Büchereien und andere Kultur- und Bildungseinrichtungen braucht man gar nicht zu denken. Während 43 Prozent der Haushalte in Großstädten 2013 noch keinen Computer oder Laptop hatten, lag diese Zahl am Dorf bei 80 Prozent. Internet? In vielen Dörfern gibt es nicht einmal einen ordentlichen Handyempfang.

Die Lage im Dorf verschlechtert sich weiter. Durch die Preissteigerungen, vor allem für Gas, müssen viele sammeln gehen. Es ist kein Geheimnis, dass man teure Energieträger oft mit illegal geschlagenem Holz, gesammelten Zweigen, usw. ersetzt. In diesem Licht ist die Verringerung des Gasverbrauchs auf dem Land, auf die man in der staatlichen Behörde für Energiewirtschaft so stolz ist, zweideutig. Einige sind tatsächlich auf modernere Geräte umgestiegen, andere haben jedoch auf Methoden aus den Zeiten unserer Urgroßväter zurückgegriffen.

Schlussendlich pflanzen sich die beschriebenen Probleme der ländlichen Regionen fort. Armut, beschränkte Möglichkeiten und missliche Lebensumstände werden vererbt. Dorfkinder haben für gewöhnlich schlechtere Startbedingungen für Bildung und Arbeitssuche, als Städter. Und die Infrastrukturprobleme werden nur weiter angehäuft: Aus einem geschlossenen Kulturhaus wird am Ende eine Ruine.

Darum muss diese Sache entschieden angegangen werden: Entweder der Staat nimmt sich der Probleme im Dorf ernsthaft an, oder die ländlichen Regionen der Ukraine verwandeln sich endgültig in eine sozial, kulturell und ökonomisch weit entfernte Zone. Es geht nicht um Bevormundung, aber der Karren ist derart tief festgefahren, dass er sich von alleine nicht mehr aus dem Dreck löst.

24. Mai 2016 // Hryhorij Schwez

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Nina Havryliv  — Wörter: 943

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