Eine zweite und viele weitere Chancen für Obdachlose
Wera Iwanowna ist eine Vertriebene, sie siedelte vor ein paar Monaten von Gorlowka nach Kiew um und ist faktisch obdachlos. Sie ist eine intelligente Frau von sechzig mit des Optimismus beraubten Augen. Wir sprachen mit ihr im Haus für Sozialfürsorge – dem Kiewer städtischen Obdachlosenasyl, in dem Wera Iwanowna gerade lebt. Dort haben diejenigen das Recht sich aufzuhalten, die aus den einen oder anderen Gründen nicht wissen, wo sie übernachten sollen.
„Außerhalb von Gorlowka habe ich weder Verwandte noch Bekannte, deshalb übernachte ich jetzt in einer Obdachlosenunterkunft. Die Gemeinschaft hier ist natürlich eigentümlich, sie verstehen selbst. Die Stiefel hat man mir geklaut, jetzt laufe ich in Turnschuhen herum. Wie kann man nur jemandem die Stiefel klauen?“, beschwert sich die Frau.
Wera Iwanowna hat bereits die Rente beantragt, ebenso den Nachweis für Binnenflüchtlinge. Dennoch, aus dem Haus für Sozialfürsorge ausziehen kann sie nicht.
„Die Preise in Kiew sind leider sehr hoch, ich kann es mir daher nicht erlauben, eine Wohnung zu mieten. Mein gesamtes Geld geht für die medizinische Behandlung und die Bezahlung der Übernachtungskosten drauf. Erst heute wurden bei mir Röntgenbilder gemacht, ich habe Probleme mit den Beinen. Drei Aufnahmen kosten schon 150 Hrywnja. Als Rente bekommen ich 1000, das reicht noch nicht mal, um die Nebenkosten zu bezahlen“, erzählt sie.
Auf die Frage, wie es weitergehen soll, versinkt sie in minutenlanges Schweigen:
„Schwierige Frage. Ich werde durchhalten und dann weiter sehen.“
Jurij Lifanse, Leiter der gemeinnützigen Organisation „Drusja obschtschiny Swjatowo Еgidija“ (Gemeinschaft des heiligen Ägidius), berichtet: „Nach 2008 sind immer mehr ältere Menschen auf der Straße erschienen. Mit dem jetzigen Währungsverfall ist es noch schlimmer geworden.“
Seine Organisation kümmert sich praktisch vom ersten Tag der ukrainischen Unabhängigkeit an um Obdachlose und bedürftige Menschen. Ihre Mitarbeiter organisieren Essensausgaben, verteilen heißen Tee und Kleidung im Zentrum Kiews und in Podol (Kiewer Stadtteil, A.d.R.). Im Laufe seiner Tätigkeit hatte Jurij mit hunderten Obdachlosen zu tun, mit einigen von ihnen hält er bis heute Kontakt.
Die Obdachlosen – wer sind sie?
„Die Geschichten der Obdachlosen sind völlig verschieden, es sind ganz unterschiedliche Menschen, die auf die Straße geraten. Da sind alte Leute, die von ihren Kindern vertrieben wurden. Da sind 18-jährige, die man aus dem Heim entlassen hat. Es gibt ehemalige Häftlinge, die ihre Wohnung verloren haben, während sie im Gefängnis waren. Und es gibt jene, die zum Geld verdienen gekommen sind, aber keine Arbeit in Kiew finden konnten“, erzählt Lifanse.
„Einmal haben wir eine Frau getroffen, die auf dem Majdan um Almosen gebeten hat. Wie sich herausstellte, war sie ehemalige Botschafterin der Ukrainischen SSR bei der UNO. Sehr unterschiedliche Geschichten gibt es.“
Laut offiziellen Angaben beträgt die Zahl der Obdachlosen in Kiew ungefähr 10.000 Menschen. Um mit dem Problem fertig zu werden, hat die Stadtverwaltung 2006 das bereits erwähnte Haus für Sozialfürsorge gegründet.
Gegen eine geringe Gebühr von zehn Hrywnja pro Tag (knapp 40 Cent, A.d.R.) kann man dort übernachten, essen, eine Dusche nehmen, seine Sachen unterbringen, seine Dokumente erneuern und sogar juristische Beratungen erhalten. Der Zustand des Hauses ist anständig, die Unterkünfte werden täglich gereinigt und desinfiziert und alle Besucher müssen eine medizinische Grunduntersuchung durchlaufen.
„Zu uns kann jeder kommen, der sich in einer schwierigen Lebenslage befindet“, erzählt Irina Kopotun, Direktorin der Einrichtung. „Wir verlangen keine Bescheinigungen oder Überweisungen. Alle Dokumente stellen wir hinterher aus. Abgesehen davon, die Leute zu versorgen, ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben und sie zu verpflegen, ist es unsere Aufgabe, sie wieder auf Vordermann zu bringen, ihnen beratend zur Seite zu stehen und Arbeit zu verschaffen. Wir möchten, dass die Jungen wieder arbeitsfähig werden und den Älteren helfen wir, ihre Rente zu beantragen.“
Unter den Mietern des staatlichen Obdachlosenheims gibt es einen relativ großen Prozentsatz an Leuten mit Alkoholsucht oder schwieriger psychischer Verfassung. Zu ihnen gilt es einen besonderen Zugang zu finden.
„Um jemanden davon zu überzeugen, das Trinken sein zu lassen, werden regelrechte Geschäftsverhandlungen durchgeführt – Diplomatie im Einsatz“, berichtet Irina Kopotun. „Wir argumentieren, hören zu, suchen Kompromisse. Etwa 80 Prozent der Leute hier sind alkoholabhängig. Seit nunmehr elf Jahren arbeite ich im Heim und kann sagen, wenn ein Mitarbeiter für den Umgang mit Alkoholikern nicht geschaffen ist, kündigt er bereits nach wenigen Monaten. Diese Arbeit, berücksichtigt man auch das Gehalt, ist vielmehr eine Berufung. Aber langweilig wird es hier nicht, das können Sie mir glauben.“
Das Problem des einzigen kommunalen Obdachlosenheims in ganz Kiew besteht darin, dass es sich weit von der Metro entfernt befindet und lediglich Platz für 150 Personen bietet. Im Grunde leben dort deshalb stets dieselben Leute, auch freie Plätze finden sich immer.
Die Freiwilligen
„In Kiew bin ich seit dem 23. September, im Heim seit Oktober“, erzählt Viktoria Sawtschenko. „Hierher bin ich ganz einfach geraten. Ich war Freiwillige im 5. Bataillon des Ukrainischen Freiwilligen-Korpus. Ungefähr vom 23. Februar bis zum 26. Mai haben wir im Gebiet Pokrowske gelegen. Danach waren wir in Peski, aber nicht lange. Auch nach Mariupol bin ich gefahren, etwa zwei Wochen war ich dort.“
Viktoria hat eine selbstsichere Gangart und einen unerwartet festen Händedruck. Auf Fragen antwortet sie derart kurz und genau, dass es mir scheint, als würde ich an einem Verhör teilnehmen. Ihre Geschichte klingt dank der Details ziemlich überzeugend, dennoch ist die Verwaltung aus dem Haus für Sozialfürsorge nicht völlig von ihrer Echtheit überzeugt.
„Anschließend wurden die Freiwilligen von der Front abgezogen und auf verschiedene Stellen verteilt – die einen zum SBU, andere ins Innenministerium, wieder andere zur Nationalgarde. Für mich wurde keine Stelle gefunden und man hat mich nach Hause geschickt. Vor dem Krieg habe ich in Donezk gelebt. Еinfach so dorthin zu gelangen ging jetzt aber schon nicht mehr und ich bin deshalb nach Kiew gefahren. Ich beschloss hier für einige Zeit im Heim unterzukommen. Doch wie sagt man, nichts ist dauerhafter als ein Provisorium.“, sagt Viktoria.
In Kiew versuchte Sawtschenko mit dem Rechten Sektor auszuhandeln, dass man sie irgendwo unterbringe, eine Arbeit für sie finde. Vergeblich.
„Sie sagten, die SBU hätte mir eine sehr schlechte Einschätzung gegeben. Ich hätte angeblich getrunken, Schlägereien angezettelt. Keine Ahnung, wann das gewesen sein soll“, wundert sich Sawtschenko. „Drei Monate habe ich dort gedient, nie hat sich irgendwer über mich beschwert.“
Sieben Prozent Erfolg
Eine weitere Organisation, die in Kiew Obdachlosen hilft, ist die Stiftung „Sozialnoje partnerstwo“ (Sozialpartnerschaft, A.d.R.). Sie organisiert Essensausgaben an 32 verschiedenen Punkten der Stadt und bietet auf dem Gelände des Zentrums eine Vielzahl kostenloser Dienstleistungen für Bedürftige an. Außerdem hat die Stiftung einen Rettungsdienst eingerichtet, der jene Obdachlose von der Straße aufsammelt, die dringender Hilfe bedürfen.
„Vor allem lassen wir keine Betrunkenen auf unser Gelände und stellen ihnen auch keine Dienste zur Verfügung. Das ist unsere prinzipielle Position“, erklärt Jelena Polischtschuk, Direktorin der Stiftung. „Wir teilen kostenlos Essen aus, reparieren Schuhe und Kleidung, leisten medizinische Hilfe, schneiden Haare, erneuern Dokumente und noch vieles mehr. Alles, was einer Person in schwieriger Lage nützlich sein kann, stellen wir bereit. Ich würde sagen, selbst in Europa gibt es nichts ähnliches wie unser Zentrum.“
„Sozialnoje partnerstwo“ gibt all jenen, die ihr Leben ändern wollen, die Chance im Zentrum zu arbeiten und Obdachlosen zu helfen.„Wenn ein Mensch von der Straße in die Gesellschaft zurückkehren möchte, so helfen wir ihm dabei. Er lebt dann so lange bei uns, wird verpflegt und arbeitet im Zentrum, solange er nicht selbstständig für sich sorgen kann. Wir lehnen niemanden ab. Jeder, der gewillt ist, seine Situation zu verbessern, bekommt von uns diese Möglichkeit. Und zwei bis drei Mal im Monat ereignet sich auch eine erfolgreiche Geschichte. Allerdings ist es natürlich so, dass Obdachlosigkeit eine Art von Abhängigkeit ist. Genau wie bei Alkohol oder Drogen gibt es immer wieder ‘Abstürze’, kehren die Leute zu dem Leben auf der Straße zurück und kommen dann erneut zu uns“, erzählt Polischtschuk.
Laut einer Statistik der Organisation „Sozialnoje partnerstwo“ kehren ungefähr sieben Prozent der Betroffenen ins normale Leben zurück.
„Warum die Zahl so niedrig ist? Man muss dafür arbeiten, um in die Gesellschaft zurückzukehren. Nicht alle sind dazu bereit. Viele sind abhängig, sobald wieder etwas Geld vorhanden ist, fangen sie an zu trinken. Es gibt viele psychisch Instabile, viele kommen nicht damit zurecht, dass ihre Familie sie aufgegeben hat.“
Auch Irina Kopotun, Leiterin des Hauses für Sozialfürsorge, kann das bestätigen:
„Oft kommen Arbeitgeber zu uns, die unqualifizierte Arbeitskräfte benötigen. Es ist jedes Mal sehr schwer, die Leute davon zu überzeugen zu arbeiten. Hinzu kommt, dass viele bis zur Auszahlung des ersten Gehalts arbeiten und ihr Geld dann einfach nur vertrinken. Ich sage es Ihnen so: zwei erfolgreiche Geschichten im Jahr, das ist eine große Leistung. Das ganze Zentrum freut sich dann, wenn es jemandem gelingt unterzukommen.“
„Unweit des Heims gibt es einen Gemüsemarkt, da werden 70 bis 80 Hrywnja pro Tag (etwa 2,75 Euro, A.d.R.)für das Verpacken von Gemüse gezahlt, bar auf die Hand. Niemand möchte dort arbeiten. Aber auf Demonstrationen gehen sie, schreien und hängen gemeinsam herum.“
Der Künstler
Auch Jewgenij Radsijewskij kam von der Straße ins Zentrum von „Sozialnoje partnerstwo“. Früher wurden seine Arbeiten in Galerien ausgestellt, sogar im Ausland. Er hat Malerei an Kunstschulen unterrichtet. Jetzt arbeitet er in der Werkstatt des Zentrums und bringt Obdachlosen das Zeichnen bei.
„Das Zentrum leistet eine sehr wichtige Arbeit“, sagt Radsijewskij. „Ich wusste damals selbst nicht, dass es so etwas gibt. Man hat mir in der Kirche davon erzählt, als ich mich gerade in einer nicht sehr einfachen Situation befand, und ich kam hierher. Hier wurde mir ein Studio gegeben und ich kann jetzt wieder arbeiten. Ich bin diesen Menschen, die anderen helfen, sehr dankbar.“
Jewgenij erzählt uns seine Geschichte:
„Viele Dummheiten habe ich damals angestellt, als ich noch nicht gläubig war. Bin umhergezogen, hab gezecht…die Mutter meines Sohnes hat sich daraufhin schnell von mir scheiden lassen. Heute, wenn ich mich mit meinem Jungen treffe, sage ich zu ihm: Deine Mutter hat alles richtig gemacht. Ich habe ihnen damals die Zweizimmerwohnung überlassen und bin in der Nacht abgehauen. Manchmal muss sich ein Vater so verhalten. Heute ist es mir peinlich, das gebe ich offen zu. Mit 37 habe ich mich taufen lassen. Danach hat sich mein Leben grundlegend geändert. Ich habe eine Werkstatt auf dem Andreassteig bekommen. Sieben Jahre habe ich da gearbeitet und unterrichtet, habe auch direkt dort gelebt. Dann aber kam der Bandenführer, den alle Präsident nannten.“
„Vor drei Jahren sind in meiner Werkstatt zwei junge Typen mit Krawatten aufgetaucht, elegant, aber verdammt dreist. Hier, bitteschön, haben sie gesagt, hier ist das Dokument. Auf der Straße steht ein LKW. Alles, was sie innerhalb von zwei Stunden nicht aus dem Atelier geschafft haben, wandert auf die Müllkippe.“
Jewgenij Radsijewskij ist überzeugt, dass die Malerei dazu in der Lage ist, den Menschen zu helfen und von schweren Gedanken abzulenken.
„Mir ist klar, dass Leuten, die nicht wissen, wo sie wohnen sollen, nicht unbedingt nach malen zumute ist. Aber wenn sie dann zu mir kommen und zu zeichnen anfangen, geraten sie in eine andere Welt. Ihre Seele erhebt sich auf das Niveau eines Menschen, und nicht eines Tieres. Nur wenn der Mensch etwas erschafft, ist er ein Mensch. Jeder hat dazu die Befähigung, nur manchen ist davon mehr gegeben, anderen weniger.“
Die Sozialarbeiter sprechen mit großer Freude und Enthusiasmus von Leuten wie Jewgenij.
„Die, die ihr Leben ändern wollen, ändern es auch“, erzählt Irina Kopotun. „Und es ist sehr inspirierend, wenn man einen Menschen erlebt, der sich bemüht, der mehr Eifer besitzt als du selbst und der alles dafür unternimmt, seine Ziele zu erreichen.“
Sie berichtet davon, wie es einem ihrer Schützlinge sogar gelungen ist, über das Gericht seine Wohnung zurück zu erkämpfen, die man ihm weggenommen hatte: „Wenn vor deinen Augen die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, taucht auch der Glaube an die Menschen wieder auf.“
Bei der Verabschiedung sagt einer der Helfer zu mir, dass Obdachlose irgendwie Ähnlichkeit hätten mit Kindern im Kindergarten. Sie ziehen genauso unbekümmert umher, sind alle sehr verschieden und, ähnlich wie Kinder, spüren absolut keine Verantwortung. Und genauso hoffen die Sozialarbeiter natürlich, dass ihre „Kinder“ erwachsen werden.
6. Dezember 2015 // Taras Spiwak
Quelle: Lewyj Bereg