Erdgas und Spiele
Die Ukraine sucht weiter nach Möglichkeiten, sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas zu lösen.
Am 11. Mai hat die staatliche Aktiengesellschaft Naftogas Ukrajiny die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens mit einem der größten Gaslieferanten Europas, dem deutschen Unternehmen RWE Supply & Trading, bekannt gegeben. Das Abkommen behandelt den An- und Verkauf von Erdgas und stellt de facto ein Memorandum dar, wonach Naftogas das „blaue Gold“ im Bedarfsfall bei RWE einkaufen kann.
In seiner Erklärung hat Naftogas eingeräumt, dass das unterzeichnete Dokument die juristischen Grundlagen für Erdgaslieferungen durch RWE schafft, jedoch keinerlei beiderseitigen Verpflichtungen zum An- und Verkauf des Energieträgers vorsieht. Natürlich legt das Memorandum auch weder die Preise noch den Umfang möglicher Lieferungen fest. All dies wird zukünftig durch unmittelbare Verträge über den Gaseinkauf geregelt.
Versuchen wir einmal zu klären, was es mit diesem Abkommen auf sich hat. Was ist das eigentlich? Eine Scheinwaffe, mit der Druck ausgeübt werden soll auf Gasprom, jetzt, im Vorfeld der Gespräche zwischen Putin und Janukowitsch beim informellen Spitzentreffen der Oberhäupter der GUS? Oder ein tatsächlicher Schritt hin zur Sicherung der Energievielfalt in unserem Land? Oder eine Bekundung des guten Willens gegenüber Deutschland, das sich in letzter Zeit für eine politische Abstrafung der Ukraine durch die EU stark macht? Doch in der EU sind die Gaslieferanten sehr viel weniger stark mit dem Staatsapparat verbunden, als dies im postsowjetischen Raum üblich ist. Wahrscheinlich wird das Memorandum mit RWE der Regierung im Spiel mit dem russischen Gasmonopolisten als Trumpf dienen. Inwieweit dieser Trumpf tatsächlich sticht oder ob das Spiel sich lediglich als gewöhnlicher Bluff erweist, wird sich daran ablesen lassen, ob auf Grundlage des unterzeichneten Abkommens tatsächlich vollwertige Verträge abgeschlossen werden.
Das Potential für eine Zusammenarbeit der Ukraine mit RWE (im Unterschied zum durch gemeinsame Projekte eng mit Gasprom verbundenen Gaslieferanten E.ON) ist zweifellos vorhanden. Technisch ließe sich das Geschäft mithilfe des Gasterminals von Veľké Kapušany an der ukrainisch-slowakischen Grenze realisieren. Genau dort geht das von Gasprom gelieferte Gas de jure an die europäischen Verbraucher über. Die Konstruktion der Pipeline lässt es zu, eine bestimmte Menge Gas über einige hundert Meter auf ukrainisches Territorium zurückzuleiten und daraufhin wieder in das ukrainische Netz einzuspeisen. Ein solches Hin und Her ist notwendig, um nicht gegen die Inhalte des Vertrages mit Gasprom zu verstoßen. Gemäß diesem Vertrag gehört das Transitgas dem russischen Monopolisten. De facto kann die Ukraine eine benötigte Menge Gas aus den russischen Transitleitungen entnehmen und sie mithilfe des oben erwähnten Manövers durch bei RWE eingekauftes Gas ersetzen. Das einzige Problem besteht darin, dass lediglich die Experten der Tochtergesellschaft Ukrtransgas genau wissen, in welchem technischen Zustand sich der dafür benötigte Teil der Anlage befindet. Doch sie beeilen sich nicht, mit diesen Informationen an die Öffentlichkeit zu gehen.
Trotzdem ist man sich in ukrainischen Expertenkreisen einig, dass die Ukraine durch das Abkommen mit RWE auf lange Sicht jährlich bis zu drei Mrd. Kubikmeter Gas erhalten könnte. Für die Ermittlung des Preises werden beide Seiten wohl die Preise der europäischen Spotmärkte heranziehen. Nach Expertenprognosen könnte Naftogas im Falle dieses Szenarios Gas zu einem durchschnittlichen Preis von 350 $ / 1000 Kubikmeter beziehen, was bei einem Gesamtvolumen von drei Mrd. Kubikmeter eine Ersparnis von 200 Millionen Dollar bedeuten würde. Bekanntermaßen beträgt der durchschnittliche Jahrespreis für russisches Gas (den gemäß der Charkower-Abkommen gewährten Preisnachlass von 100 Dollar schon eingerechnet) 420 $ / 1000 Kubikmeter.
Angesichts eines voraussichtlichen Gasverbrauchs von 53-55 Mrd. Kubikmeter (in Abhängigkeit von der Auslastung der chemischen Industrie) im Jahr 2012 und einer eigenen Förderung im Umfang von über 20 Mrd. Kubikmeter erscheint die diskutierte Menge sowie die damit verbundene Ersparnis als unbedeutend. Doch die bloße Tatsache einer Alternative zum russischen Gas ist bedeutungsvoll und könnte das Monopol von Gasprom ins Wanken bringen.
Hier sein daran erinnert, dass die ukrainische Regierung im April durch eine Änderung des Gesetzes über staatliche Einkäufe den Weg für den Spoteinkauf von Gas freigemacht und Naftogas die Möglichkeit eingeräumt hat, ohne vorherige Ausschreibung die Dienste von Gaslieferanten in Anspruch zu nehmen.
Auch soll nicht unerwähnt bleiben, dass RWE durchaus in der Lage wäre, russisches Gas in größerem Umfang einzukaufen und in die Ukraine zu liefern. Die Verträge sehen für das deutsche Unternehmen bis zu neun Mrd. Kubikmeter jährlich vor, im Jahr 2011 jedoch wurden lediglich sieben Mrd. Kubikmeter eingekauft. Für das laufende Jahr wird von einem weiteren Rückgang auf sechs Mrd. Kubikmeter ausgegangen. Die drei fehlenden Milliarden Kubikmeter könnte man also noch von Gasprom erwerben. Zwar müsste sich die russische Seite mit einem solchen Handel einverstanden erklären, denn schließlich soll RWE sein Gas zu Spotpreisen verkaufen und damit von den langfristigen Preisvereinbarungen (470 $ / 1000 Kubikmeter) abweichen. Jedoch sollte es mit einem Preisnachlass keine Probleme geben, da es bei Gasprom eine alltägliche Praxis ist, seinen europäischen Partnern den Einkauf eines Teils ihres Gases zu Spotpreisen zu gestatten.
Und selbst wenn Gasprom kein Interesse an einem solchen Geschäft zwischen RWE und Naftogas hat und sein überschüssiges Gas nicht nach Europa verkauft (dabei geht der Umfang der Gaslieferungen an die europäischen Verbrauchermärkte 2012 kontinuierlich zurück), so entsteht daraus keine Tragödie für die Ukraine. Das russische Gas macht lediglich 13-15% des gesamten Verkaufsvolumens von RWE aus, so dass es an „blauem Gold“ für die Ukraine nicht mangelt – es bedarf bloß des politischen Willens, ein solches Geschäft auch zu Ende zu führen.
In der letzten Zeit kann man eine interessante Entwicklung beobachten: Die Ukraine unterzeichnet fleißig Memoranden über die Zusammenarbeit im Gassektor, diese bleiben jedoch meist auf der Ebene bloßer Absichtserklärungen. Mit Aserbaidschan wurde noch nicht einmal ein vorläufiger Vertrag unterzeichnet, im Zusammenhang mit dem Flüssigerdgas-Terminal in Odessa sind die mit der Türkei geführten Gespräche über die Durchfahrt von Gastankern durch den Bosporus noch immer nicht abgeschlossen, auch die Verhandlungen über eine Beteiligung Katars am Bau des Terminals sowie an seiner Versorgung mit Gas sind von einem Abschluss weit entfernt. Doch diesen energetischen Spagat wird die ukrainische Regierung nicht mehr lange durchhalten müssen: Entweder wird man durch eine tatsächliche, und nicht bloß angekündigte, Diversifikation der Rohstofflieferungen Gasprom (sprich: den Kreml) verprellen müssen oder man wird gezwungen sein, sich seiner Gnade auszuliefern. Angesichts der drohenden Isolation der Ukraine durch die EU bieten sich dem Land gegenwärtig keine weiteren Varianten.
15. Mai 2012 // Dmitrij Kusmin, Jewgenij Magda
Quelle: Lewyj Bereg